Kritische Wirtschafts- und Unternehmensethik: Von der enthemmten zur eingebetteten Marktwirtschaft, HWR (Berlin)
Vorlesung im Rahmen des Studium Generale der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR), Berlin.
Die Vorlesung ist öffentlich. Studierende aller Berliner Hochschulen können sich die erfolgreiche Teilnahme bescheinigen lassen.
Dozent: PD Dr. Ulrich Thielemann
Zielsetzung
Was im politischen Diskurs «Neoliberalismus» genannt wird, ist aus der Perspektive einer kritischen Wirtschaftsethik als Ökonomismus zu bezeichnen, jedenfalls auf dieses wirkungsmächtige Denkgebäude zurückzuführen. Ökonomismus – alternativ: Marktgläubigkeit – ist eine normative Konzeption, nämlich diejenige, die die Ökonomisierung menschlicher Interaktionsverhältnisse zum Leitprinzip der Gesellschaft im Ganzen erhebt. Der wettbewerbliche Markt soll überall und möglichst «frei» herrschen, dies ist die Botschaft der ökonomistischen Ökonomik.
Den Geltungsanspruch des Ökonomismus kritisch auf seine Einlösbarkeit hin zu hinterfragen, ist die systematisch wichtigste Aufgabe einer Wirtschaftsethik, die nach der guten und gerechten Ordnung der Wirtschaft in der Gesellschaft fragt. Dies ist vor allem Arbeit am Begriff – etwa am Begriff der «Effizienz» und so genannter «Rationalität», die nichts anderes meint als die Vorteilsmaximierung des Homo oeconomicus. Erforderlich ist die gedankliche Durchdringung von Denkweisen, die das Marktprinzip zum Moralprinzip erheben oder seine Geltung stillschweigend voraussetzen. Anhand aktueller Positionsbezüge soll Beurteilungs- bzw. Orientierungswissen darüber gewonnen werden, welche Rolle die Interaktionslogik von Markt und Wettbewerb in unserem Leben spielen soll.
Lehrmethode
Vortrag und Diskussion. Die Art der Prüfungsleistung wird zu Beginn der Veranstaltung bekannt gegeben.
Ausgangsfragen
- Ethik was ist das eigentlich?
- Ethik zahlt sich langfristig aus – stimmt das?
- Dürfen Unternehmen Gewinne maximieren?
- Ist es «rational», ein Homo oeconomicus zu sein?
- Sind die Wirtschaftswissenschaften eine wertfreie Disziplin?
- Ist es «unmöglich», im Marktwettbewerb verantwortungsvoll zu handeln?
- Für wen funktioniert der Wettbewerb eigentlich «effizient»?
- Sind Fragen der Verteilungsgerechtigkeit Ausdruck von «Neid»?
- Sind Markt und Freiheit Geschwister?
- Was bedeutet die Einbettung der Marktlogik in gesellschaftliche Werte der Sinnhaftigkeit und Fairness?
- Warum bedarf es einer politischen Rahmenordnung?
Literaturempfehlung
Thielemann, U.: System Error. Warum der freie Markt zur Unfreiheit führt, Frankfurt a.M. 2009. Weitere Literatur wird bekannt gegeben
Fachliche Voraussetzungen
keine; offen für Studierende aller Semester und Studiengänge (auch für interessierte Bürger)
Zeit
Mi. 16:00 bis 19:30 (2 x 1,5 Std.)
Beginn: 6.4.2016, 14-tägig bis zum 13.07.2016.
Die insgesamt neun Termine im Einzelnen:
- 6.4.
- 20.4.
- 4.5.
- 18.5.
- 1.6.
- 15.6.
- 29.6.
- 13.7.
Ort
Gebäude E, Raum E 4.03
Lageplan Campus Schöneberg der HWR Berlin
Veranstaltungsübersicht
1. Integrative Wirtschaftsethik als Programm
Ulrich, P.: Auf der Suche nach der ganzen ökonomischen Vernunft. Der St. Galler Ansatz der integrativen Wirtschaftsethik, in: Kersting, W. (Hrsg.): Moral und Kapital. Grundfragen der Wirtschafts- und Unternehmensethik, Paderborn 2008, S. 61-75.
2. Ethisches Propädeutikum. Grundlegende Begriffe, Kategorien und Dimensionen der Ethik
Thielemann, U.: System Error. Warum der freie Markt zur Unfreiheit führt, Frankfurt a.M. 2009, Abschnitt 4, S. 97-130.
Vertiefung
Ulrich, P./Thielemann, U.: Wirtschaftsethik. Lehrmodul für die Educatis University Switzerland, 2001, Teil I.
3. Das ökonomistische Paradigma von Wirtschaftsethik
3.1. Instrumentalistische Unternehmensethik: The Case against the Business Case
Thielemann (2009: 132-140).
Thielemann, U.: Ethik als Erfolgsfaktor? The Case against the business case und die Idee verdienter Reputation, in: Scherer, A.G./Patzer, M. (Hrsg.), Betriebswirtschaftslehre und Unternehmensethik, Wiesbaden 2008, S. 231-255.
MeM Blog:
Der Business Case – als Gewinnerethik, 10. Dezember 2011.
Und immer wieder grüßt der Business Case I: Restrukturierung, Gewinnmaximierung und Stress, 20. November 2012.
Und immer wieder grüßt der Business Case II: Weniger Stress liegt im Interesse der Aktionäre?, 9. April 2014
3.2. „Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“, „Kontraproduktivität“ und „Durchschlagen“ – Das Umschlagen des Anwendungsparadigmas in Ökonomismus
Thielemann, U.: Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept. Kritik des Neoliberalismus, Marburg 2010, 383-397.
Vertiefung
Thielemann, U.: Globale Konkurrenz, Sozialstandards und der (Sach-) Zwang zum Unternehmertum, in: Maak, Th./Lunau, Y. (Hrsg.), Weltwirtschaftsethik. Globalisierung auf dem Prüfstand der Lebensdienlichkeit, Bern/Stuttgart/Wien 1998, S. 203-244, hier S. 209-219.
Thielemann, U.: Replik aufs Memorandum „Für eine Erneuerung der Ökonomie“: Handelszeitung «Top-Ökonomen zerpflücken Thielemann-Manifest», 12. April 2012.
4. Das Anwendungsparadigma von Wirtschaftsethik
4.1. Unternehmensethische Dimension: Spendenethik und Unmöglichkeitstheorem
Thielemann (2009: 150-163).
Vertiefung
Thielemann, U.: Der integrative Ansatz der Unternehmensethik – eine knappe Darstellung durch Abgrenzung vom ökonomistischen und vom separativen Konzept, in: Maring, M. (Hrsg.), Verantwortung in Technik und Ökonomie, Karlsruhe 2009, S. 207-217, hier S. 211-214.
Ulrich, P./Thielemann, U.: Wirtschaftsethik. Lehrmodul für die Educatis University Switzerland, 2001, Abschnitt 3.3.
4.2. Das Anwendungsparadigma in philosophischer Dimension
Thielemann, U.: Was spricht gegen angewandte Ethik? Erläutert am Beispiel der Wirtschaftsethik, in: ETHICA, Nr. 1, 2000, S. 37-68.
Vertiefung
Thielemann, U.: Diskursethik in der Orientierungskrise. Bemerkungen zum Theorie-Praxis-Verhältnis und zum Sinn der Diskursethik als einer Vernunftethik, in: Ulrich, P./Breuer, M. (Hrsg.), Wirtschaftsethik im philosophischen Diskurs, Würzburg 2004, S. 65-80.
Thielemann, U.: Ökonomismuskritische Wirtschaftsethik – Jenseits des Partikularismus des Positivismus und seines Kontraproduktivitätsparadigmas, ausgearbeitete Fassung des Vortrages am 36. Fachkongress der Internationalen Vereinigung für Moraltheologie und Sozialethik zum Generalthema «Ethik und Empirie», Graz, 11. September 2013.
Ulrich, P.: Prinzipienkaskaden oder Graswurzelreflexion? Zum Praxisbezug der Integrativen Wirtschaftsethik, in: Ulrich, P./Breuer, M. (Hrsg.), Wirtschaftsethik im philosophischen Diskurs. Begründung und „Anwendung“ praktischen Orientierungswissens, Würzburg 2004, S. 127-142.
Ulrich, P.: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, 4. Aufl., Bern/Stuttgart/Wien 2008, S. 105-108.
5. Die Zurückweisung des Wertfreiheitspostulats als Ausgangspunkt integrativer Wirtschaftsethik
Thielemann, U.: Integrative Wirtschaftsethik als kritische Theorie des Wirtschaftens. Die Unmöglichkeit der Wertfreiheit der Ökonomie als Ausgangspunkt der Wirtschaftsethik, in: Breuer, M./Brink, A./Schumann O.J. (Hrsg.), Wirtschaftsethik als kritische Sozialwissenschaft, Bern u.a. 2003, S. 89-115.
Vertiefung
Thielemann (2010: 59-134).
6. Wettbewerbsethik: Schöpferische Zerstörung, Wohlstand für alle und Utilitarismus
6.1. Wettbewerb als Prozess „schöpferischer Zerstörung“
6.2. Wettbewerb als Wohlstandsmaschinerie – für wen? Utilitaristische Irrungen
Thielemann (2009: 33-64).
Thielemann (2010: 290-329).
Kurzfassung: Thielemann, U.: Der Wettbewerb und die „Effizienz“. Vom ethischen Scheitern des Neoliberalismus, in: Gazdaság & Társadalom / Journal of Economy & Society, Vol. 3, H.1, 2011, S. 26-58.
6.3 TTIP: Ist Freihandel prinzipiell gut – wenn nur die Nebenbedingungen stimmen?
7. Freiheit und Markt – ein Missverständnis
Thielemann (2009: 90-97, 154-163, 197-199, 215-232)
Thielemann, U.: Markt und Freiheit. Begrenzen wir den Wettbewerb! ZEIT online, 26. April 2010.
Vertiefung
Thielemann, U.: Das Ende der Demokratie, in: Wirtschaftsdienst, 12/2011, S. 820-823.
Thielemann, U.: Der unbemerkte Sachzwang zum Unternehmertum. Zur Aktualität Max Webers im Zeitalter globalen Wettbewerbs, in: Pfleiderer, G./Heit, A. (Hrsg.), Wirtschaft und Wertekultur(en). Zur Aktualität von Max Webers „Protestantischer Ethik“, Zürich 2008, S. 75-103.
Thielemann, U.: Freiheit unter den Bedingungen des Marktes. Oder doch gegenüber der Marktlogik? Vom verfehlten Umgang mit Sachzwängen, in: Schmidinger, H. (Hrsg.), Der Mensch – ein freies Wesen? Autonomie – Personalität – Verantwortung, Darmstadt 2005, S. 261-287.
8. Ökonomisierung als Eliminierung marktfremder Gesichtspunkte und die neue ökonomische Radikalität
Thielemann (2009: 65-79, 215-232).
Thielemann, U.: Transzendentale Ökonomik. Bemerkungen zur Ökonomisierung der Wissenschaften, in: Forschung & Lehre, 7/2004, 358-360.
Vertiefung
Thielemann, U.: Qualität, Gewinnmaximierung und Markt. Wider die Eliminierung rentabilitätsfremder Gesichtspunkte aus dem Marktgeschehen, in: Kilian, U. (Hrsg.), Leben // Gestalten. In Zeiten endloser Krisen, Berlin 2013, S. 107-130.
Thielemann, U.: Integrative Wirtschaftsethik – als Reflexionsbemühung im Zeitalter der Ökonomisierung, in: Mieth, D./Schumann, O.J./Ulrich, P. (Hrsg.), Reflexionsfelder integrativer Wirtschaftsethik, Tübingen/Basel 2004, S. 69-102 (2004b).
Siehe Foliensatz 11.
9. Ökonomische (Verteilungs-)Gerechtigkeit als Fairnessfrage
Thielemann, U.: Die Verteilungsfrage als Fairnessfrage und die Zurückeroberung der Idee der Sozialen Marktwirtschaft, in: Spieker, M. (Hrsg.), Der Sozialstaat. Fundamente und Reformdiskurse, Baden-Baden 2012, S. 139-162.
10. Die wechselseitige Angewiesenheit von Individual- und Ordnungsethik
Thielemann (2009: 178-187).
Thielemann, U.: Steuern als Bürgerpflicht und Hort der Fairness. Steueroasen, Wohnsitzprinzip und „Plutonomy“, in: Forschung & Lehre, Juli 2008, S. 436-439.
Foliensatz: Siehe 11.
11. Das Leitbild einer gemäßigten, eingebetteten Marktwirtschaft
Thielemann (2009: 163-178, 233-243).
12. Die große Finanzkrise
Thielemann, U.: Ethik des Finanzmarktes. Die unverstandene Rolle des Kapitals als angebliche «Dienerin der Realwirtschaft», in: Zschaler, F.E./Meck, S./Kleine, J. (Hrsg.), Finethikon. Jahrbuch für Finanz- und Organisationsethik, Bd. 2, Stuttgart 2012, S. 31-60.
Vertiefung
Thielemann, U.: Zahlreiche Blogbeiträge im Themenfeld „Kapital“ des MeM – Denkfabrik für Wirtschaftsethik.