Regulierung

Die Kräfte des «freien» Marktes, die ethisch zumindest teilweise problematisch sind, sind nicht allein Ausdruck des individuellen Handelns einzelner – etwa ihrer «Gier» – sondern vor allem eine Resultante des systemischen Zusammenspiels (S. 90 ff.) all dieser Handlungen, welches eine eigene Macht erzeugt. Diese «unsichtbare», überpersönliche Macht zeigt sich insbesondere in dem üblicherweise unbemerkten, weil adressatlos entstehenden Freiheitsverlust, der gerade der «freien» Entfaltung der Marktkräfte entspringt und der sich mit dem Begriff des «Sachzwangs» fassen lässt.

Vor allem darum darf Wirtschafts- und Unternehmensethik nicht auf Individualethik reduziert werden. Individualethik ist die unmittelbare Umsetzung ethischer Einsichten in individuelles Handeln – sei es als Manager (Management- und Geschäftsethik), als Unternehmer (Unternehmerethik), als Konsument (Konsumethik), als Investor («ethisches Investment»), als Angestellter eines Unternehmens oder in welcher ökonomischen Funktion auch immer. Die korrespondierende Integrität der Marktakteure ist unverzichtbar für ein ethisch gutes Funktionieren des Marktes. Im fairen Umgang mit allen Beteiligten und im verantwortungsvollen Umgang mit Betroffenen besteht ja gerade die wieder zu stärkende Menschlichkeit der wirtschaftlichen Interaktionsverhältnisse.

Doch geraten die integer und verantwortungsvoll agierenden Akteure angesichts der systemischen, überpersönlich wirkenden Kräfte des Wettbewerbs rasch unter Druck bzw. an Grenzen der Zumutbarkeit bei der Verfolgung legitimer eigener Interessen. Dies selbst dann, wenn alle Akteure verantwortungsvoll agierten. Denn selbst dann könnte jeder für sich angesichts der vielfältigen, hochkomplexen und anonymen Marktverflechtungen sich nicht sicher sein, ob auch alle anderen mitziehen. Weil also die moralische Verbindlichkeit zu schwach ist, muss sie durch Rechtsverbindlichkeit ergänzt und gestützt werden. Hier schlägt die Stunde der Regulierung. Diese zu reflektieren ist Aufgabe einer Institutionen- bzw. Ordnungsethik.

Es wäre ein grober Fehler, Individual- und Ordnungsethik gegeneinander auszuspielen. Eine gute Rahmenordnung erübrigt nicht etwa das integre und verantwortungsvolle Handeln der einzelnen Marktakteure, sondern stützt dieses im Gegenteil. Darin lässt sich die Idee des liberalen Rechtsstaats erblicken: Die sanktionsbewehrten Regeln sind so zu setzen, dass der verantwortungsbewusst Handelnde im Wettbewerb nicht «der Dumme» ist, d.h. dass er keine unzumutbaren Nachteile zu gewärtigen hat.

Die Regulierung ist heute, in Zeiten eines global wirkenden Wettbewerbs, eine besonders anspruchsvolle und zugleich eine besonders wichtige Aufgabe. Denn die angebliche «Alternativlosigkeit» einer bloß noch «marktkonformen» Politik zeigt lediglich den Verlust an politischer Freiheit auf der Ebene des Nationalstaates: Auch noch und ausgerechnet diejenige Instanz, deren eigentliche ordnungspolitischen Aufgabe die der Gestaltung der Marktverhältnisse wäre, und zwar so, dass dies fair und ökologisch nachhaltig ablaufen, der demokratische Rechtsstaat nämlich, gerät selbst unter die Räder des nunmehr globalen Wettbewerbs. Dieser politische Freiheitsverlust kann nur «weltinnenpolitisch», auf der Ebene einer globalen Rahmenordnung, wettgemacht werden. Es gehört zu den vordringlichsten Aufgaben unserer Zeit, diesem unwürdigen Zustand durch eine global orientierte und koordinierte Politik zu beenden.


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