Replik auf den Blogger «Wirtschaftsphilosoph»

Von Ulrich Thielemann, 7. Mai 2012

Der anonyme Blogger Wirtschaftsphilosoph hält nicht viel vom Memorandum. Ich lasse die zahleichen abschätzigen Bemerkungen, die m.E. ganz unnötig sind und auch nicht im Ansatz argumentativ substantiiert werden, außer Acht und komme gleich zum Punkt.

Er sieht die Gefahr, dass das Memorandum zu einem «Relativismus» führe bzw. dazu, «dass jeder seine eigene Wahrheit hätte.»

Dies ist eine ganz erstaunliche Fehlinterpretation. Keiner der von uns angeschriebenen Professoren, und wohl auch keiner der weiteren mehr als 700 Unterzeichner, hat die Stoßrichtung des Memorandums in dieser Weise fehlinterpretiert. Selbstverständlich hat der Ruf nach paradigmatischer Öffnung und Vielfalt einen wissenschaftspolitischen und -kulturellen Charakter. Denn wenn wir sozusagen nicht mehrere Paradigmen ins wirtschaftswissenschaftliche Rennen schicken, können wir nicht wissen, welches das Richtige ist.

Wie kann man nur auf die Idee kommen, «paradigmatische Vielfalt» könne ein Argument innerhalb einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung sein. In dieser geht es, wie Wirtschaftsphilosoph richtig festhält, um «die Suche nach und Etablierung von einem neuen, besseren Paradigma». Aber dann muss diese Suche «nach größerer Erkenntnis» (worin die Zurückweisung falscher Auffassungen einzuschließen ist) doch überhaupt erst einmal zugelassen sein. Die Offenheit für neue Erkenntnisse, für Sichtweisen, die vom bisherigen Standard möglicherweise fundamental abweichen und diesen als grundlegend verfehlt zurückweisen, muss im Wissenschaftssystem – in den Wirtschaftswissenschaften – überhaupt erst einmal verankert sein. Die Kritik am «vorherrschenden Paradigma» müsste erst einmal auf einen «fruchtbaren» Boden treffen. Mehr noch: sie müsste sich überhaupt erst einmal im bestehenden Wissenschaftssystem entwickeln können.

Dass dies nicht der Fall ist, dies ist die gemeinsame Überzeugung der Unterzeichner des Memorandums. (Dies ist natürlich in Prinzip diskussionswürdig, und ich könnte dies hier – über das Memorandum und die dort genannten Quellen hinaus – weiter ausführen. Doch sollte das wissenschaftliche Gewicht der Unterzeichner dem Kritiker des Memorandums nicht wenigstens ein wenig zu denken geben?) Und wenn dies nicht mehr der Fall ist, dann hat sich eine Wissenschaft «dogmatisch verkapselt», dann ist sie «nur mehr der [akademischen] Form nach eine Wissenschaft». Oder etwa nicht?

Eigenartiger Weise gibt Wirtschaftsphilosoph keine klares Bekenntnis zu diesem doch ganz selbstverständlichen Grundsatz ab. (Muss man diesen tatsächlich erläutern? Offenbar: Wenn diese paradigmatische Offenheit nicht mehr vorhanden ist, dann verschließt man sich der Erkenntnis. Kurz gefasst: Man stimmt diesem Grundsatz zu, oder man ist Dogmatiker.) Stattdessen zielt er auf mich persönlich ab und meint – ohne jede auch nur andeutungsweise Substantiierung –, ich habe ja «nichts Sinnvolles zur Ökonomik beizutragen» und würde diese «mit platten antiökonomischen Thesen diskreditieren».

Da das Memorandum nicht ein Votum für das von mir paradigmatisch vertretene Verständnis einer ethisch-integrierten Ökonomik ist, sondern für paradigmatische Offenheit überhaupt plädiert (dabei allerdings ethische Reflexionen einschließt, ohne freilich deren Status zu benennen, denn diese wäre innerhalb der Wirtschaftswissenschaften zu klären), müsste Wirtschaftsphilosoph alle heterodoxen Position in gleicher Weise beurteilen. Mehr noch: Er müsste von vorn herein wissen, dass deren Vertreter «nichts Sinnvolles zur Ökonomik» beizutragen haben.

Und woher weiß er das? Vermutlich daher, dass er Erkenntnisfortschritt nicht für «substantiell beurteilbar» hält (man kann es kaum glauben), sondern, trotz einiger Relativierungen, nur für messbar – durch die erfolgreiche Publikation in refereed journals nämlich. Natürlich muss irgendjemand substantiell beurteilen. In diesem Verständnis sind es die Gutachter – und nicht die scientific community im Ganzen, wie es vor der Fixierung auf Journals der Fall war. Natürlich haben die Gutachter in der Regel die Schere bereits im Kopf, je höher ein Journal gerankt ist, desto mehr. Die Schere nennt sich «Qualitätskontrolle». Sie bedeutet: Feststellung der Konformität mit dem vorherrschenden Kernparadigma. Das «bessere Argument», welches in der Tat den Wissenschaftsbetrieb bestimmen sollte, zählt hier jedenfalls so gut wie nicht.

Unfreiwillig zeigt Wirtschaftsphilosoph (offenbar ein im Wissenschaftssystem etablierter Ökonom) wie notwendig das Memorandum ist: Es ist keinerlei Offenheit für abweichende, widerstreitende Sichtweisen erkennbar. Schade. Darum ja muss die wissenschaftlich-formal notwendige Öffnung der Wirtschaftswissenschaften offenbar vor allem von außen angestoßen werden. Durch die gezielte Förderung von Sichtweisen nämlich, die vom bisherigen Mainstream abweichen. Denn nur so kann das Kartell der Marktgläubigen durchbrochen werden.

Ist es eigentlich Zufall, dass Wirtschaftsphilosoph sich als «Liberaler» outet – alle anderen sind natürlich Freiheitsfeinde – und dabei die angeblich neutrale bzw. «wertfreie» Ökonomik, die er vertritt, als genau die Beratertheorie versteht, auf die m.E. die konsequenteste Ausformung der ökonomistischen Ökonomik hinausläuft? Offenbar möchte er diese paradigmatische Sicht unter gar keinen Umständen hinterfragt sehen.