Replik auf Jan Schnellenbach von «Wirtschaftliche Freiheit»
Die angebliche Offenheit der Wirtschaftswissenschaften
Von Ulrich Thielemann, 18. Mai 2012
Im «Ordnungspolitischen Blog» der Website «Wirtschaftliche Freiheit» – ausgerechnet! – hat PD Dr. Jan Schnellenbach auf das Memorandum reagiert. Es ist die m.E. bislang substanzreichste und herausfordernste Kritik, jedenfalls auf den ersten Blick. Denn auch sie geht fehl und lenkt von den Herausforderungen, vor der sich die etablierte Ökonomik gestellt sehen müsste, ab.
Das Lied der «Offenheit» der Ökonomik
Wirklich neu sind die Einwände Schnellenbachs nicht, lediglich besser formuliert. Die Reaktion singt nämlich das Lied, dass die «Ökonomik des Jahres 2012» durch «Vielfalt» und «Offenheit» geprägt sei. (Vgl. dazu bislang etwa die Replik auf Heusers Beitrag in DIE ZEIT. Leider hat Schnellenbach offenbar nichts weiter als das Memorandum gelesen. Für einen ausführlichen Beitrag, vor allem, da er die Initianten ins Zentrum rückt, wäre eine eingehendere Beschäftigung mit den Stellungnahmen und Erläuterungen zum Memorandum zu erwarten gewesen.) Wir lebten «in einem abgelegenen Winkel» und würden, «wenn überhaupt, halbwegs zutreffend die Ökonomik [kritisieren], wie man sie noch 1980 kannte». [Gerne würde ich mehr darüber erfahren, warum diese Kritik denn, wenn auch nur «halbwegs», zutreffend war. Trifft also etwa meine Kritik am «Prinzip Markt» oder Peter Ulrichs am Ökonomismus auch nach Ansicht Schnellenbachs im Kern zu? Wo ist die Literatur «mitten im Mainstream», in der sich dies zeigt?] «Angesichts der zahlreichen wirtschaftspolitischen Kontroversen zwischen Ökonomen ist es rätselhaft, wie man ernsthaft das Fehlen von normativen Debatten in der Ökonomik beklagen kann.» Es gäbe keine «normative Gleichschaltung». [Es ist erstaunlich, dass Schnellenbach die Normativität der Ökonomik anzuerkennen scheint. (Dem steht freilich entgegen, dass er uns «Ideologie» vorwirft, was auf ihn selbst als «Ideologie der Ideologielosigkeit» zurückfallen dürfte. Er selbst jedenfalls sieht sich von «politischen Vorurteilen» frei.) Eigentlich müsste diese Normativität ja dann methodisch-diszipliniert, also ethisch-kritisch-reflexiv – statt «wild» – abgearbeitet werden. Mir jedenfalls sind keine derartigen Debatten «mitten im Mainstream», also in etablierten Fachzeitschriften, bekannt.]
Kronzeuge Saez
Als Kronzeuge dienen Schnellenbach die Beiträge von Emmanuel Saez zur sog. «Optimalitätssteuer», die dieser «mitten im Mainstream» verfassen konnte. Ich habe mir, auch da ich die Besteuerung vor allem hoher Kapitaleinkommen für einen Schlüssel der Rückkehr zu einer wahrhaft Sozialen Marktwirtschaft erachte, in den letzten Tagen die Mühe gemacht, einige Texte von Saez und Koautoren genauer zu studieren. Von einer paradigmatischen Öffnung kann dabei nur in einem sehr eingeschränkten Sinne die Rede sein – und übrigens in einer Dimension, die Schnellenbach überraschen dürfte. Nachzulesen hier.
Überhaupt geht es ja bei der paradigmatischen Öffnung nicht, wie Schnellenbach unterstellt, um diese oder jene «politischen Präferenz» (genau so, wie es nicht um «mehr Ethik» geht), wobei unsere «Präferenz» offenbar etwa die nach «exorbitant hohen Steuersätze für Höchstverdiener» sei. Vielmehr geht es, wie das Memorandum doch eigentlich klar formuliert, unter anderem (aus meiner Sicht: im Kern) um die ethisch-kritische Diskussion und Reflexion sowohl der «praktischen Folgen der wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung» als auch ihrer «paradigmatischen Grundlagen».
Nun könnte man Schnellenbachs Kritik am Memorandum, wenn auch in reichlich wohlwollender Auslegung, darin erblicken, dass sich das Memorandum erübrige, da ja bereits «Vielfalt» und «Offenheit» «mitten im Mainstream» vorherrsche. Schnellenbach muss also der Ansicht sein, dass sich die etablierte Ökonomik von der «Fürsprache des Marktes» (bzw. fürs Marktprinzip, welches verschiedene, innerlich mehr oder minder konsequente Auslegungen kennt) paradigmatisch gelöst hätte und dass also Friedrich Breyer mit seiner Selbsteinschätzung der Disziplin, die er 2008 (und nicht irgendwann vor 1980) in den «Perspektiven der Wirtschaftspolitik» formuliert hatte, dass nämlich «die Ökonomen» die «konsequentesten Fürsprecher des Marktes» seien, ganz falsch gelegen hätte.
«Empirische Evidenzen» für die «normative Gleichschaltung»
Schnellenbach selbst liefert hierzu nur sehr eingeschränkt «empirische Evidenz» (vgl. oben zu Saez) und fordert uns auf, solche für unsere Sicht – der, wie er es nennt, «normativen Gleichschaltung» der Disziplin – zu liefern. Dies möchte ich gerne tun.
Fangen wir mit dem Homo oeconomicus an und Schnellenbachs eigener Position dazu an. Schnellenbach erkennt ganz richtig, dass sich die Kritik an der etablierten Ökonomik in der Regel am Homo oeconomicus entzündet. Doch unterstellt er, die Kritik sei eine bloß empirische und liefe darauf hinaus, dass «die Menschen» eben nicht «allwissende Rationalclowns» seien. Damit unterbietet er allerdings diese Kritik, was etwa hier hätte nachgelesen werden können. Diese Kritik besteht nämlich – kurz gesagt – darin, dass die Ökonomik die instrumentelle Vernunft (alternative Formulierungen: Erfolgsrationalität, «strategisches Handeln» (Jürgen Habermas), Selbstbehauptungs- oder Durchsetzungsrationalität) als Inbegriff von «Rationalität» rechtfertigt – über durchaus verschiedene, implizite oder explizite Kanäle übrigens. (Und so besteht ja die «Unvollständigkeit» des «Wissens» allein darin, dass die Akteure typischerweise nicht alle Umstände kennen, die ihre Vorteilsbilanz beeinflussen. QED.) Die Überwindung des derzeit beinahe flächendeckend dominanten, nämlich ökonomistischen Kernparadigmas der Ökonomik bestünde darin, von diesem Votum für instrumentelle Vernunft, das zur Ökonomisierung des Denkens beiträgt, Abstand zu nehmen (denn es ist nicht rechtfertigungsfähig). Das Memorandum fordert lediglich «Redlichkeit und Offenheit» gegenüber paradigmatisch anders gelagerten Sichtweisen – und so auch und insbesondere gegenüber den Argumenten, die den Geltungsanspruch des Homo oeconomicus zurückweisen. Wo sind die «top pubs», in denen diese Diskussion redlich und ernsthaft geführt wird? Man müsste ja das gesamte Theoriegebäude aufgeben und die Lehrbücher umschreiben, die, wie Hanno Pahl zutreffend festhält, ein «monoparadigmatisches Bild der Disziplin» zeichnen. «Würden andere Theorieprogramme als Alternative und mögliche Korrekturinstanz in den Textbook Economics wenigstens genannt, würde der selektive Charakter der Darstellung sichtbar werden». Dies aber soll offenbar gerade verhindert werden.
Machen wir noch etwas weiter mit der «empirischen Evidenz» für die «Gleichschaltung» der Disziplin, für einen Moment indirekt. Schnellenbach unterschlägt vollkommen, dass es eine breiter werdende Bewegung heterodoxer Ökonomen gibt. Die Selbstbezeichnung dieser Ökonomen (die es gerade in Deutschland, qua «kooptativen Berufungsverfahren», schwer haben) ist ein Stachel im Fleisch der etablierten, eben «orthodoxen», sprich: dogmatisch verkapselten Ökonomik. Über die im Memorandum aufgeführten Initiativen hinaus seien genannt:
die Bewegung der «Real-World Economics»,
die «World Economics Association»,
das »Institute for New Economic Thinking”, dessen diesjährige Konferenz unter dem treffenden Titel stand: «Paradigm Lost - Rethinking Economics and Politics”,
die Ökonomen, die das Memorandum unterzeichnet haben (das sind ja nicht einfach nur »Fachfremde”, also ahnungslose Laien, wie Schnellenbach unterstellt; dies gilt übrigens auch für die Initianten), etwa Marc Chesney, Professor für Quantitative Finance an der Universität Zürich, der der Ansicht ist, dass praktisch alle seine Kollegen dem «Meinungsmonopol der Chicago School» unterliegen und absolut keine Anstalten unternehmen, dieses in Frage zu stellen; viele weitere Namen wären zu nennen, in zugegeben subjektiver Auswahl: Hans-Christoph Binswanger, Mathias Binswanger, Heinz-J. Bontrup, Karl-Heinz Brodbeck, Beat Bürgenmeier, Paul H. Dembinski, Wolfram Elsner, Arne Heise, Rudolf Hickel, Ekkehard Kappler, Walter Otto Ötsch, Helge Peukert, Birger Priddat, Friedrun Quaas, Gerhard Scherhorn, Karl Georg Zinn, Hans G. Nutzinger, Norbert Reuter. Dies alles sind promovierte, in den meisten Fällen habilitierte Ökonomen, und alle sind der Meinung, dass der gegenwärtige Zustand disziplinär zu überwinden ist, der darin besteht, dass «die als wissenschaftlich anerkannte Thematisierung des Wirtschaftens im exklusiven Zuständigkeitsbereich eines einzigen Paradigmas» liegt, das sich, «in verschiedenen Varianten, der ‚Fürsprache des Marktes‘ verschrieben» hat.
Joseph Stiglitz (Im freien Fall, 2010, S. 303) ist der Ansicht, dass die Wirtschaftswissenschaft «von einer wissenschaftlichen Disziplin zum größten Cheerleader der freien Marktwirtschaft geworden. Wenn die Vereinigten Staaten ihre Wirtschaft erfolgreich reformieren wollen, müssen sie möglicherweise mit einer Reform der Wirtschaftswissenschaften beginnen.»
Ich verzichte darauf, weitere solcher Einschätzungen zu nennen. Dies alles sind keine «fachfremden Beobachter», die keine Ahnung davon haben, was in den Journals (in denen sich die Disziplin allerdings vor allem um sich selbst dreht, um mit Hilfe von «akademischen Fingerübungen» «akademische Renditen» im Statuswettbewerb um «top pubs» einzufahren) und in den nach wie vor kursierenden Lehrbüchern steht. Die Unterzeichner des Memorandums mögen unterschiedliche Beweggründe haben, warum sie nach einer echten paradigmatischen – und übrigens nicht bloß «methodischen» – Öffnung rufen. Doch mangelt es nach ihrer aller Ansicht an der paradigmatischen Offenheit der Disziplin.
Daran ändert auch der Sieg der «Mathematiker» im neueren Methodenstreit nichts. Ein Beispiel gefällig? Harald Uhlig, ein Proponent der Abwicklung der Wirtschaftspolitik, schrieb damals, über das «Allgemeingut der Volkswirtschaftslehre» lohne es sich nicht mehr zu diskutieren, denn dass «Märkte eigentlich gut funktionieren» [«gut» mit Blick worauf?], sei eine «Binsenweisheit». Großzügiger Weise gab Uhlig denjenigen, die «anderer Meinung sind», in seinem Blog «noch einmal eine letzte Chance!». Und man schaue doch einmal exemplarisch in eines der «Top» Lehrbücher, nämlich in das von Mankiw, in dem ein von aller Reflexion entgegenstehender Positionen freies Loblied auf «freie Märkte» gesungen wird.
Echte vs. vermeintliche «Offenheit»
Die «Vielfalt» und «Offenheit», von der Schnellenbach spricht, ist offenbar bloß eine solche innerhalb des hegemonialen Kernparadigmas. Und vieles davon dürfte eher Vereinnahmung im Sinne des «ökonomischen Imperialismus» sein. Mit den vielen Sozialwissenschaftlern, die das Memorandum unterzeichnet haben, möchte man offenbar nicht zusammenarbeiten, und man greift deren Erkenntnisse (die der Fürsprache fürs Marktprinzip in der Regel entgegenstehen dürften) offenbar nicht «bereitwillig auf». Darum kommt es zu dem eigenartigen Widerspruch, dass die Offenheit «für neue Ansätze und Methoden» zwar begrüßt, das Memorandum selbst aber abgelehnt wird. Nach Schnellenbach, dem zufolge wir ja bloß nicht «auf dem neusten Stand» der Disziplin seien, müsste es doch Säulen nach Athen tragen.
Weil sich die Disziplin offenbar dogmatisch verkapselt hat und keinerlei Bereitschaft besteht, die Grundtatbestände des Kernparadigmas, die um die Begriffe «Rationalität» und «Effizienz» kreisen, in Frage zu stellen (denn dies ist tabu), muss die paradigmatische Öffnung von außen angestoßen werden. Schnellenbach erblickt in diesem Ansinnen einen Akt der «Erpressung», weil er meint, der gegenwärtige Zustand der Disziplin sei Ausdruck der «Freiheit der Wissenschaft». Er ist vielmehr Ausdruck des Kartells der ökonomistischen Ökonomik. Wissenschaftsfreiheit ist bekanntlich eine Form positiver Freiheit. Das Kartell der ökonomistischen Ökonomik nimmt den heterodoxen Ökonomen die Freiheit, ihre Ablehnung des Kernparadigmas und die Entwicklung paradigmatisch alternativer Sichtweisen in wissenschaftlich beachteter Weise (und übrigens auch: finanzierter Weise, also überhaupt) zur Geltung zu bringen. Dass diese Freiheit nicht besteht, darauf verweist das Memorandum exemplarisch unter dem Stichwort der «akademischen Prostitution», den wir von Bruno S. Frey übernehmen. Die akademische Freiheit innerhalb der Wirtschaftswissenschaften wieder herzustellen, ist Aufgabe der Wissenschaftspolitik – indem sie durch angemessene Maßnahmen, die das Memorandum den Zuständigen Instanzen anheimstellt, sicherstellt, dass paradigmatische Pluralität endlich wieder «zu einem selbstverständlichen Bestandteil der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung und Lehre» wird.