Tagesanzeiger zum Memorandum: Polemisch und sachlich irreführend

Von Ulrich Thielemann, 6. April 2012

Der Tagesanzeiger (Zürich), die größte Tageszeitung der Schweiz, war einmal ein, wie man so sagt, linksliberales und politisch liberales Blatt, scheint sich aber – auch wenn dort der einer der, wie ich finde, klügsten Kommentatoren der Schweiz, Constantin Seibt, nach wie vor schreibt – in jüngerer Zeit dem allgemeinen Rechtstrend in der Schweiz angepasst zu haben (oder betrifft dies nur die Online-Redaktion?), betreibt etwa die Tatbestandsverzerrung in Sachen Bankgeheimnis fleißig mit (um durch solchen Bankgeheimnis-Patriotismus Anzeigenkunden und Publikum am Bankenstandort Zürich nicht zu vergraulen?), gibt dem Volkswirtschaftsprofessor Reiner Eichenberger durch tumbe Fragen die Steilvorlagen, die ihm gefallen – und kann offenbar auch in Sachen unseres Memorandums nicht anders, als darüber polemisch und überdies sachlich irreführend zu berichten.

Das verkannte Kernanliegen des Memorandums

Der Beitrag von Simon Schmid ist vor allem darum ärgerlich, weil er das falsche Bild zeichnet, die 99 Erstunterzeichner – alle im Rang eines Professors – würden das Programm einer ethisch-integrierten Ökonomik teilen. Worauf sie sich verpflichten und was sie stützen, dies ist im Text des Memorandums glasklar formuliert. Sie votieren nämlich allein (!) dafür, dass »paradigmatische Offenheit» und eine «Pluralität von Sichtweisen» in die Wirtschaftswissenschaften einziehen, wozu überdies auch die «ethische Reflexion» sowohl der «praktischen Folgen der wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung» als auch ihrer «paradigmatischen Grundlagen» zählt.

Es geht um paradigmatische Offenheit einschließlich ethischer Reflexivität. Dies ist ein rein formal-wissenschaftliches Anliegen, welches seinen Ausgangspunkt in der von allen Unterzeichnern getragenen Problembeschreibung nimmt, dass die Wirtschaftswissenschaften sich «dogmatisch verkapselt» haben, was formalen Ansprüchen von Wissenschaftlichkeit entgegensteht. – Nicht allein formal wissenschaftlicher, also inhaltlicher Natur sind allein die Problembestände, mit denen das Memorandum qua Zitation anhebt (erste Spiegelpunkte). Aus diesen leitet das Memorandum aber keinerlei inhaltlichen Aufruf ab, wenn diese Problembestände auch viele der Unterzeichner motiviert haben dürften, was ich für die Initiatoren aus erster Hand bestätigen kann.

Integrativ verstandene Wirtschaftsethik, die im Memorandum übrigens gar nicht erwähnt wird, bildet also nur eine mögliche paradigmatisch-inhaltliche Bestimmung von Ökonomik (die ich allerdings teile und vertrete), die innerhalb der Wirtschaftswissenschaften, wie viele andere auch, «redlich» zu diskutieren wäre.

Dies alles, also den eigentlichen Kern des Memorandums, hat der Autor des Beitrages, dem der Tagesanzeiger seine Online-Plattform zur Verfügung stellt, offenbar überlesen oder nicht verstanden. Beim Memorandum handel es sich also nicht um einen «Aufstand der Wirtschaftsethiker», wie es bereits irreführender Weise in der Überschrift heißt – schon allein darum nicht, weil von den 99 Erstunterzeichnern sich nur 16 (in der Haupt- oder Nebensache) als «Wirtschaftsethiker» verstehen dürften. Ob die übrigen Erstunterzeichner sich einer «ethisch-integrierte Sicht auf das Wirtschaften» (was übrigens eine Positionsbestimmung neben anderen innerhalb der «Wirtschaftsethik» markiert) paradigmatisch anschließen würden, entzieht sich meiner Kenntnis. Und so taucht diese Formulierung im Memorandum auch nicht auf, sondern ist der programmatischen Selbstbeschreibung des MeM entnommen. Die Erstunterzeichner haben sich folglich auch nicht «[dem] M’eM [MeM]» bzw. seiner programmatischen Ausrichtung «angeschlossen». Allerdings darf man davon ausgehen, dass sie das integrativ-ethische Paradigma von Ökonomik, so sie von diesem Kenntnis genommen haben, zumindest für eine innerhalb der Wirtschaftswissenschaften respektable und diskussionswürdige Position halten, ebenso, dass sie ethische Reflexionen im oben angesprochenen Sinne für erforderlich erachten.

Versuch der Verunglimpfung

Ärgerlich – weil nämlich unredlich – ist der Text Schmids überdies, weil er offenbar die inhaltlich motivierte und in der Folge die formal-wissenschaftlich fokussierte Kritik des Memorandums nicht teilt bzw. dieser selbst unterläge, seine Position aber nicht explizit verteidigt. (Dies soll offenbar in den nächsten Wochen vier etablierten Volkswirten überlassen sein – wobei man sich fragt, warum kein heterodoxer Ökonom gefragt wurde, wenn wir von Bruno S. Frey einmal absehen, der sicher zu den zumindest formal-wissenschaftlichen Kritikern der eigenen Zunft zählt.) Stattdessen spricht er despektierlich über die Erstunterzeichner, indem er unter der Unterschrift «Kunstpädagogen gegen die Marktwirtschaft» (da soll offenbar ‘Orchideenfach’ klingeln) suggeriert, diese «Forscher», die «nicht im Kerngebiet der Wirtschaftswissenschaften tätig sind», hätten doch gar nicht die Kompetenz, um über Ökonomie und Ökonomik wissenschaftlich Beachtliches zu sagen. (Abgesehen davon: weder das Memorandum noch die integrative Wirtschaftsethik wendet sich pauschal «gegen die Marktwirtschaft». Die integrative Wirtschaftsethik wendet sich vielmehr gegen die Überhöhung der Marktlogik zum normativen «Prinzip Markt».)

Abgesehen von den despektierlichen Suggestionen und den populistischen Vorurteilen, die der Autor hier bedient, zeigt sich erneut, dass er das Problem offenbar nicht verstanden hat (das übrigens Bruno S. Frey, nicht wir, mit dem Begriff der «akademischen Prostitution» belegt): Abweichende Sichtweisen kommen in den Wirtschaftswissenschaften ja gar nicht mehr vor. Das ist ja gerade der Anlass für das Memorandum. Darum konnten auch nur sehr wenige Wirtschaftswissenschaftler als Erstunterzeichner gefunden werden. Wer das Marktparadigma nicht teilt, aber über das Wirtschaften wissenschaftliche Aussagen treffen will, der muss heute eben, so er denn überhaupt im Wissenschaftssystem verweilt, in andere Disziplinen wie etwa in die Politikwissenschaften oder die (Wirtschafts-)Soziologie ausweichen.

Über die formal-wissenschaftlichen Defizite innerhalb einer fremden Disziplin, nämlich der Wirtschaftswissenschaften, dürfen auch «Sozioökonomen, Sozialethiker oder Wirtschaftsdidaktiker, … eine Kunstpädagogin [es ist übrigens ein Kunstpädagoge] und ein Forstökonom» urteilen. Sie nehmen dabei überdies ihre Verantwortung als Intellektuelle wahr, weil es sich bei den Wirtschaftswissen- schaften um eine in besonderen Maße «für unser aller Leben eminent wichtigen» Wissenschafts- disziplin handelt. Dies hängt nicht nur mit der Ökonomisierung der Lebensverhältnisse zusammen (die das Memorandum explizit aufgreift), sondern wird auch durch Ökonomen selbst bestätigt (vgl. hier, suche Samuelson).

Hätte Schmid diesen Text als Seminararbeit eingereicht, hätte ich ihn leider zur Überarbeitung zurückreichen müssen. Diesen Hinweis darf die Chefredaktion des Tagesanzeigers ruhig als Wink mit dem Zaunpfahl verstehen.

Missverständnis meiner Position

Obwohl dies streng genommen in keinem unmittelbaren Zusammenhang zum Memorandum steht, möchte ich die Gelegenheit gleichwohl nutzen, die verzerrten und vorurteilsbelasteten Darstellungen meiner Position zurechtzurücken. Überhaupt ist der Text, der doch eigentlich vom Memorandum handelt, allzu sehr auf meine Person fixiert. Man gewinnt den Eindruck, der Autor registriere mit Genugtuung, dass ein anderer mir «als Institutsdirektor [des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen] vorgezogen wurde», da ich ja «in St. Gallen [gemeint ist die Universität St. Gallen] ungeliebt» geworden sei – als dürfte es im Wissenschaftssystem, statt um Erkenntnisfortschritte, um Zu- oder Abneigung gehen.

Schmid unterstellt mir (und zugleich allen Unterzeichnern), ich wolle «der dominanten ökonomischen Lehre den Garaus machen». Abgesehen davon, dass auch hier deutlich wird, dass der Autor die formal-wissenschaftliche Stoßrichtung des Memorandums nicht verstanden hat bzw. diese einfach zu ignorieren können meint, verwahre ich mich gegen solche verächtlichen Formulierungen, die offenbar den Projektion des Autors entspringen. Gleiches gilt für strategische Formulierungen wie der, mein «Ziel» sei es, «an Universitäten eine ‘ethisch-integrierte Sicht auf das Wirtschaften’ durchzusetzen».

Im integrativ-ethischen Paradigma von Ökonomik geht es mitnichten um «Durchsetzung» – womöglich: von «Ethik» (vgl. kritisch dies, dies und dies) – sondern um ein kritisch-reflexives Grundverständnis von Ökonomik bzw. Wirtschaftstheorie, das den bloß verschwiegen normativen Geltungsanspruch der sich positivistisch missverstehenden Standardökonomik zurückweist. (Vorsicht, Eigenzitat: «Die Möglichkeit einer angeblich ‘wertfreien’, ethisch neutralen, sozusagen über jeden ethischen Zweifel erhabenen Thematisierung des Wirtschaftens gleichsam jenseits von Richtig und Falsch ist der Ökonomik als einer Sozialwissenschaft verwehrt.») Doch vermutlich fehlt dem hemdsärmeligen Autor das kognitive Sensorium, um diese geltungslogische Pointe zu verstehen. Dann aber sollte er sich nicht keck und auch noch in despektierlicher Rede in solche Gefilde vorwagen.