Das Imperium schlägt zurück
Von Ulrich Thielemann, 27. April 2012
Uwe Jean Heuser, Ressortleiter Wirtschaft DIE ZEIT, hat unter dem Titel «Einstürzende Altbauten» auf das Memorandum reagiert – oder sollte man sagen: mit diesem abgerechnet? Zwar wird das Memorandum erst im letzten Teil des Beitrages ausdrücklich erwähnt; doch ist klar, dass der Text vor allem auf dieses abzielt. Was auch einer Kommentatorin auffällt, der «nicht ganz klar [ist], was Sie [Heuser] in dem Absatz meinen, in dem Sie von den ‚Gegnern‘ reden, die der ‚alten gleich eine neue Ideologie entgegensetzen‘ wollen. Wer ist denn ‚Sie‘? Von welcher Strömung sprechen Sie hier genau und was genau ist Ihr Kritikpunkt? Ethik an sich ist ja keine Ideologie...»
Wir haben es hier mit einem grundlegenden Problem zu tun, auf das ich mit einem Eigenzitat hinweisen möchte: «Jeder, der sich heute professionell mit dem Wirtschaften beschäftigt, sei es als Führungskraft in einem Unternehmen oder als Berater der Wirtschaftspolitik,» – oder als Wirtschaftsredakteur! – «durchläuft ein Ökonomiestudium. Dort werden ihm bestimmte Botschaften über richtiges Wirtschaften beigebracht, ja eine ganze Weltsicht wird vermittelt. Das Wirtschaftsstudium ist eine Schule der Ökonomisierung des Denkens und damit letztlich der Welt.»
Nun bitte dies nicht ad personam auslegen. Und auch nicht verallgemeinernd im Sinne von: flächendeckend. Ja, es gibt Ausnahmen. (So hätte ich mir von Seiten der ZEIT lieber eine Kommentierung von Thomas Fischermann gewünscht, der den Volkswirten Michael Burda «erfrischend respektlos» in die Mangel nahm. – Dass das Memorandum vom Ressortleiter selbst, nicht von seinem Stellvertreter kommentiert wurde, ist vielleicht auch ein Indiz für sein Gewicht – oder je nachdem: seiner ‚Gefährlichkeit‘. Heuser spricht tatsächlich von «Gefahren», der «die Ökonomen» durch ihre «Gegner» nun ausgesetzt seien.) Doch sind dies eben Ausnahmen von der Regel einer paradigmatisch verkapselten Disziplin. Und es ist ja auch, wenn die Wirtschaftslehre von einer «Phalanx marktgläubiger Professoren» bestimmt wird, alles andere als leicht, eine abweichende, den Ökonomismus überwindende Position zu entwickeln. Man ist hierzu heutzutage aufs Selbststudium angewiesen und muss/müsste dabei gegen den Strom schwimmen, und man würde dabei auch noch durch die bestehenden Vorgaben für Karrierepfade ausgebremst. Dies ist ja gerade das Problem und bildet einen der Hauptanlässe für das Memorandum.
Das Memorandum als überflüssige und «gefährliche» Intervention der «Gegner» «der Ökonomen»
Wie argumentiert nun Heuser? Nun, er charakterisiert das Memorandum ausdrücklich als «einseitig» und implizit als unfair, jedenfalls als nicht «ganz fair». Denn «die Ökonomen» seien durchaus offener, als das Memorandum insinuiere. Es sei mithin überflüssig. «Viele junge Spitzenforscher räumen ja längst mit der alten Lehre auf», und die Ökonomik im Ganzen sei bereits auf dem richtigen Weg und derzeit in der «so wichtigen Phase des Suchens». Sie brauche dabei keine Unterstützung durch «falsche Freunde». Doch warum sind diese weitgehend unbenannt bleibenden «Kritiker» bzw. «Gegner» «falsche Freunde»? Und wie kann Heuser meinen, die «Kritiker» würden «der Ökonomie die so wichtige Phase des Suchens verwehren»? Hat Heuser das Memorandum gar nicht gelesen, in dem wir ausdrücklich und an erster Stelle «die Ökonomen» ansprechen und zu «paradigmatischer Offenheit ermuntern»? Wie bitte sollte daraus ein «Verwehren» resultieren? Es ist doch das genaue Gegenteil: Die Unterstützung bei der «Suche» nach paradigmatisch neuen Ufern. Doch offenbar möchte Hauser genau dies verhindern. Er möchte nämlich verhindern, dass die Disziplin tatsächlich mit der vorbehaltlosen «Reflexion ihrer eigenen paradigmatischen, einschließlich ihrer normativen Grundlagen» beginnt. Darum sind wir «falsche Freunde», wie sogleich zu zeigen sein wird.
Und darum wird das Memorandum als überflüssig hingestellt. Die Vertreter der «neuen Ideologie» – es können nur die Initiatoren und Unterzeichner des Memorandums gemeint sein – forderten «mehr Ethik». Andere Kategorien als die der Quantität kann sich der Journalist, der sich «den Ökonomen» – die mit einer Stimme zu sprechen scheinen – zurechnet, offenbar nicht vorstellen. Das Memorandum fordert nicht etwa «mehr Ethik» – «mehr» von welcher «Ethik» denn? –, sondern eine ethisch redliche Reflexion. Ich würde sagen: der unausweichlichen und ohnehin faktischen Normativität «der Ökonomik». Doch da dies niemals ein ernsthaft zu vertretenes Anliegen sein kann, weiß Heuser, dass wir etwas anderes «meinen» müssen, «mehr Umverteilung» nämlich… (Genau so hilflos – aber teilweise erfolgreich in der Wirkung – hatte übrigens der damalige Leiter der der Wirtschaftsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung, Gerhard Schwarz (G.S.), auf einen Beitrag von Peter Ulrich und mir, der sich kritisch mit dem Bankgeheimnis beschäftigte, geantwortet: So umgäben die Aussagen von «Wirtschaftsethiker» zwar eine «Aura der Unangreifbarkeit». Doch sei «bezeichnend, dass die Autoren Gleichheit meinen, wenn sie Gerechtigkeit sagen»… Damit sollte jede sachlich-argumentative Auseinandersetzung von vorn herein abgewehrt werden. Vgl. übrigens zum Status der «Gleichheit» im Zusammenhang von Fragen der Verteilungsgerechtigkeit den knappen Hinweis in diesem Text, S. 9.)
Dass das Memorandum nicht Ausdruck eines ernst zu nehmenden Anspruchs sein kann, macht Heuser überdies in direktem Anschluss deutlich. Die wahren Motive der Initianten und der Unterzeichner des Memorandums bestünden nämlich darin, darauf zu «hoffen, dass ihre eigene Disziplin wieder mehr gehört wird.» Heuser, immerhin Leiter des Wirtschaftsressorts einer der bedeutendsten Qualitätszeitungen des deutschsprachigen Raums, meint also, die Initianten und die mehr als 750 Unterzeichner des Memorandums, davon mindestens 300 Wissenschaftler im Rang eines Professors, würden selbst nicht meinen, was sie sagen, sondern mit dem Memorandum ihre eigenen Interessen verfolgen. Im Grunde seien sie neidisch auf die gewichtige gesellschaftliche und politisch hoch bedeutsame Stellung, die «den Ökonomen» (auch denjenigen in den Wirtschaftsredaktionen) zukommt – schon nur qua Bedeutung ihres Gegenstandes: der unser aller Leben sehr weitgehend bestimmenden Wirtschaft. Abgesehen davon, dass hier wohl eine Projektion des der Logik des Eigeninteresses verfallenen Ökonomen vorliegen dürfte, sei Heuser dringend ein Blick in die Liste der 103 Erstunterzeichner sowie der (aktuell 670) weiteren Unterzeichner empfohlen.
Überwindet die Verhaltensökonomik das ökonomistische Kernparadigma?
Wie gut ist es nun mit der angeblichen Offenheit der Disziplin bestellt? Heuser rekurriert zumindest implizit auf den sog. «neueren Methodenstreit», den die positivistischen Vertreter des Kernparadigmas, die «Mathematiker», bekanntlich gegen die Austrians und die Neo- oder Ordoliberalen gewonnen haben, also gegen diejenigen, die wissen, dass die Verteidigung des Marktprinzips bzw. des Wettbewerbsprinzip nur mit Worten, nicht mit Zahlen, gelingen kann. Wie offen diese positivistischen Vertreter sind bzw. ob auch sie das ökonomistische Kernparadigma, mutatis mutandis, überhaupt noch vertreten, damit habe ich mich hier, hier und hier bereits beschäftigt. Und ja, sie vertreten es.
Die meisten der von Heuser genannten Ökonomen, die sich von der alten «Denkschule» emanzipiert hätten (worin auch immer dieser bestehen soll), arbeiten im Feld der sog. «Verhaltensökonomik», die sich als eine empirische Wissenschaft versteht und daher dem positiven bzw. positivistischen Wissenschaftsverständnis zuzurechnen ist. Darum meint er sie als «Anti-Ideologen» bezeichnen zu können – da ja jede ethische Reflexion offenbar als «ideologisch» zu klassieren sei.
(Dass es sich genau umgekehrt verhält, habe ich hier zu zeigen versucht: Eine sich selbst als rein «positiv» verstehende, rein «erklärend» (statt begründend) verfahrende Sozialwissenschaft ist nicht etwa «wertfrei», sondern ebenfalls normativ. Ihre spezifische und höchst fragwürdige Normativität, bezogen auf die Ökonomik, liegt zum ersten darin, die bestehenden Marktmachtverhältnisse als eine «Tatsache» hinzunehmen und damit stillschweigend zu legitimieren, zum zweiten darin, den Gegenstand in einer bestimmten, nämlich in der Regel Zustimmung erheischenden Art und Weise zu beschreiben und zum dritten darin, der instrumentellen Vernunft das Wort zu reden, denn der Sinn der Erklärung ist die Gestaltung, die instrumentelle Verfügung und die erfolgreiche Intervention in die als Wirkungszusammenhang gefasste soziale Welt, was einmal «technisches Erkenntnisinteresse» (Jürgen Habermas) genannt wurde. Die eigene, unausweichliche Normativität allerdings nicht selbst zu reflektieren, was ja unter positivistischen Vorzeichen ausgeschlossen ist, dies lässt sich gerade als «Ideologie» fassen, hier: als Ideologie der Ideologielosigkeit.)
Hat sich die Verhaltensökonomik von der Marktapologetik, vom Ökonomismus verabschiedet? Oder handelt es sich hierbei, wie ein Kommentator bemerkt, eher um «ein paar angebliche deutsche Revolutionäre der Ökonomik»? (Abgesehen davon: Von einer «Verhaltensökonomik» sind gewichtige «Antworten auf die großen Fragen von heute» (Heuser) – etwa im Verhältnis von Marktfreiheit und politischer Freiheit, Kapital und Realwirtschaft, ökonomischer Rationalität und Lebenswelt – ohnehin kaum zu erwarten. Es ist schon erstaunlich, dass Heuser dieses doch eher exotische, eng mikroökonomische Forschungsfeld als Kronzeuge der Überflüssigkeit des Memorandums anzuführen können meint. Meint er etwa, aus der Verhaltensökonomik sei eine «distanzierte Perspektive» dafür zu gewinnen, die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse «beurteilbar» zu machen?)
Die Verhaltensökonomik ist angetreten, die Homo oeconomicus Annahme empirisch zu überprüfen. Dabei hat sie nicht verstanden, dass es sich beim Homo oeconomicus um eine «erfahrungsvorgängige» (Karl Homann) Annahme handelt, die empirisch niemals widerlegt werden kann (sondern nur ethisch-reflexiv); sie markiert vielmehr das als verbindlich reklamiert Verständnis von Handlungsrationalität (nämlich als instrumentelle Vernunft, Durchsetzungs- oder Erfolgsrationalität). Man könnte allenfalls «economic men» (George Stigler), der von «Geldgier» getrieben ist, empirisch widerlegen. Dies ist aber nur eine besondere (freilich bedeutsame) Auslegung der «Argumente» in der Nutzenfunktion von Homo oeconomicus, who «can be seen to maximize almost anything at all» (James M. Buchanan), der also etwa auch «moralische Präferenzen», so diese in ihm aufkommen sollten, «optimal» durchgesetzt sehen will. Dies ändert nichts an seiner «nontuistischen» (Philip H. Wicksteed), durch «wechselseitig Desinteressiertheit» (John Rawls) bestimmte (angebliche) «Vernünftigkeit», die nach der Durchsetzbarkeit privatim bestimmter Präferenzen «und sonst gar nichts» (Karl Homann) drängt.
Diesem transzendental-ökonomischen, eher seltener anzutreffenden, aber innerlich konsequenteren Verständnisses des Homo oeconomicus stand bislang das bei weitem verbreitetere, empirische Verständnis gegenüber, für das insbesondere der Name Gary S. Becker steht (oder auch Gebhard Kirchgässner). Dessen Attraktivität lag in Folgendem: Es sollte nachgewiesen werden, dass alle Menschen, zumindest in der Regel, als Homines oeconomici agieren, egal in welchem Lebensbereich. Daraus erwuchsen diverse, sich als empirisch verstehende «ökonomische Theorien» – der Familie einschließlich des Heiratsverhaltens (natürlich: auf dem «Heiratsmarkt»), der Kunst, des Rechts, der Politik, bis hin zum Selbstmord, wie plausibel dies auch immer erscheinen mag. Zwar lässt sich aus der (angeblichen) universellen empirischen Vorfindlichkeit eines Handlungsmusters (eben des Homo oeconomicus) nicht auf dessen normative Richtigkeit schließen; dies wäre ein naturalistischer Fehlschluss. Doch schert sich das philosophische Laienpublikum darum in der Regel nicht, und so kann die implizite Botschaft des Beckerschen Ansatzes an die Zweifler verfangen: Wenn alle so handeln, dann muss es ja wohl seine Richtigkeit damit haben.
Damit bricht die sog. Verhaltensökonomik, die sich gar als «experimentelle Wirtschaftsforschung» versteht. Sie ist im Gegenteil davon getrieben nachzuweisen, dass «die Menschen» in der Regel oder jedenfalls häufig nicht «rational» handeln. «Die Menschen» seien mit zahlreichen «Biases» behaftet, wie etwa der von Heuser als Kronzeuge der faktisch angeblich bereits erfolgten Überwindung der alten «Denkschule» herangezogene Armin Falk in einem Gemeinschaftsbeitrag festhält. Mit traumwandlerischer Sicherheit wissen diese «Ökonomen» bereits, was eine «rationale Entscheidung» wäre oder wie «relevante Informationen richtig gewichtet werden» müssten. Aber die Leute sind nun einmal nicht «rational», jedenfalls «eingeschränkt rational». So besteht ein «Bias», eine «Verzerrung» im Urteil der «Probanden» bzw. «der Menschen» – über die, aber nicht mit denen man hier spricht – etwa darin, Kindergeld doch tatsächlich für die eigenen Kinder, also seinem Sinn gemäß, auszugeben, obwohl dies doch eigentlich nur ein «Etikett» einer erhaltenen Zahlung sei, die, wie andere Einkünfte auch, ins Haushaltsbudget einfließt und von dort «frei», d.h. nach privat bestimmten Präferenzen, für «Konsumausgaben» aller Art ausgegeben werden «sollten». Das Kindergeld also für Schulbücher, Spielzeug usw. statt, sagen wir, für Alufelgen, Damenschuhe oder Urlaubsreisen auszugeben, dies gilt den Ökonomen als Ausdruck «beschränkter Rationalität». Hier zeigt sich übrigens exemplarisch der «nontuistische» Charakter der «ökonomischen» Fassung von Vernünftigkeit (und damit Richtigkeit). Dieses Verständnis von «Rationaltität» bleibt vollständig dem methodologischen Individualismus verhaftet: Die «Präferenzen» der Individuen sollen argumentationsunzugänglich (nontuistisch) bleiben – oder besser: sie sollen es werden, nämlich qua «liberalem Paternalismus». Hier wird die «Ökonomisierung des Denkens», von der das Memorandum mit Besorgnis spricht, praktisch betrieben.
Was die sozusagen feurigen Verteidiger des Homo oeconomicus explizierten – man denke an Gebhard Kirchgässner, Ludwig von Mises oder James M. Buchanan –, wird hier einfach vorausgesetzt (vielleicht: weil dies ja schon lange in den Lehrbüchern steht und mit dessen Wiederholung keine «akademische Rendite» einzufahren ist): Dass die Erfolgs- und Durchsetzungsrationalität, für die der Name Homo oeconomicus steht, der Inbegriff praktischer Vernunft ist. Allerdings verschiebt sich der Fokus des Festmachens der Verbindlichkeit dieses Rationalitätsverständnisses: weg vom Gegenstand der empirischen Forschung («den Menschen»), wie im Falle des Beckerschen Programms, hin zum Adressaten der Theorie, und zwar rein qua Implikation. Die (angebliche) «Revolution» der «Sicht der Ökonomen auf menschliches Verhalten», von der ein weiterer der genannten «jungen Spitzenforscher», Axel Ockenfels, spricht, besteht offenbar vor allem darin, dass mit diesen empirischen Kenntnissen «die Ökonomen mit Instrumenten ausgestattet [werden], mit denen sie gleichsam wie Ingenieure helfen können, effektivere Institutionen zu gestalten und bessere Entscheidungen zu treffen». Was «effektiv», also wirksam, durchsetzbar ist – wofür bzw. wo gegen eigentlich? – und was «besser» heißt (beides unmittelbar normative Begriffe), soll dann wohl von den Klienten (bzw. Adressaten) der Theorie bestimmt werden. Diesen bieten sich die «jungen Spitzenforscher» als «erfolgreiche Berater» an, etwa «wenn es um Anreizwirkungen und Verhaltensstrategien geht», genauer: um deren «Durchsetzbarkeit» (Falk). Nur, wem «geht» es denn darum? Solventen Auftraggebern? (Ein Kommentator bemerkt: «Die herrschende Lehre ist die Lehre der Herrschenden.») Dies jedenfalls, der Übergang von einer wissenschaftlichen Theorie hin zu einer reinen Beratertheorie, die nichts mehr zeigen, sondern verkaufen will, wäre innerlich konsequent. Der Homo oeconomicus säße dann auf der Bank der Auftraggeber für Studien aller Art, auf Seiten der «Prinzipale» und ihrer (privat finanzierten?) «Agenten».
[Nachtrag, 22. März 2013: Ernst Fehr will aus der "Widerlegung" des Homo oeconomicus offenbar ein Geschäft machen – womit er ihn bzw. die Vorteilsorientierung, das Geschäfte-Machen, ganz praktisch als Prinzip ins Recht setzt. Hier einige Belege: «FehrAdvice machen diese Erkenntnisse – zum Beispiel über systematische Tendenzen zu Fehlentscheidungen – für die Unternehmensberatung nutzbar. Das Resultat ist ein eigenständiger Beratungsansatz – der Behavioral Economics Ansatz (BEA™). Seine Anwendung durch verhaltensökonomisch geschulte Berater und innovative Methoden der empirischen Forschung ermöglichen uns, unausgeschöpfte Verbesserungspotentiale in Unternehmen, Märkten und Organisationen zu identifizieren.» Drei Mal darf man raten, was hier «Verbesserung» heißt... Jetzt erklärt sich wohl auch, warum die UBS, nach hartnäckiger Intervention von Ernst Fehr, der Universität Zürich unglaubliche 100 Millionen Franken zur Verfügung gestellt hat. (Der «Zürcher Appell» sieht die Unabhängigkeit der Universität in Gefahr. Hier ein ethisch-kritische Kommentar von Peter Ulrich dazu.) Abgesehen von den Reputationsgewinnen und der Beeinflussung von Forschung und Lehre möchte man wohl einen privilegierten Zugang zu dieser «Spitzenforschung» im Bereich des Verfügungs- und Verwertungswissens erhalten. – Ist es nicht zynisch, wenn Fehr «empirisches Wissen über die menschliche Tendenz zu fehlerhaften Entscheidungen» «systematisch» «für Problemstellungen in der Wirtschaftsberatungspraxis» (natürlich ist damit letztlich stets das «Problem» einer Rentabiltiät unterhalb des erreichbaren Maximums gemeint) nutzen möchte? Des einen Schaden wird des anderen Nutzen. Und die Wissenschaft – darf man das noch «Wissenschaft» nennen? – hilft dabei. Sie wird zur allgemeinen Instrumentalwissenschaft, sozusagen selbst zum Homo oeconomicus, die etwa der Frage nachgeht: «Wie lässt sich die Akzeptanz für Vergütungssysteme steigern?»]
Dass sich die genannten «jungen Spitzenforscher» vom ökonomistischen Kernparadigma verabschiedet haben, davon kann keine Rede sein. Zwar sind ihre Voten nicht unbedingt «marktliberal». (Was sich vom an dritter Stelle genannten «Spitzenökonom», Roman Inderst, wohl kaum sagen lässt; dieser tritt für «mehr Wettbewerb» in allen Lebenslagen ein und rät politisch dazu, ganz im Sinne des Hayekschen Verständnis vom «Wettbewerb als Entdeckungsverfahren», «erst einmal abzuwarten, wie die Banken selbst auf die Erfahrungen der letzten Jahre reagieren».) Und ihre «Fürsprache des Marktes», die ja, wie das Memorandum hervorhebt, «in verschiedenen Varianten» auftritt, ist nicht so ohne weiteres eine klassisch «neoliberale» im Sinne des Einzugs sozialpolitischer Errungenschaften. Es ist vielmehr eine Fürsprache des Marktprinzips in bestimmter Hinsicht, die sich vor allem am Festhalten des Verständnisses von «Rationalität» als instrumenteller Vernunft festmachen lässt. Vom Markt bzw. vom Marktprinzip ist hier zu reden, insofern wir den (reinen) Markt als Zusammenspiel eigeninteressierten Handelns begreifen – nicht nur als den Ort des Kaufens und Verkaufens unmittelbar. Wenn Heuser meint, Ockenfels vertrete die Ansicht, «ein Markt» sei «nicht per se gut oder schlecht, die Frage ist nur, wann er funktioniert», so verbirgt sich das Marktprinzip im «Funktioniert». Dies gemahnt an die Constitutional Economics (S. 201 ff.), der zufolge der ultimative Markt auf der Ebene der Politik zu verorten ist – als Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mitteln (S. 159 f.).
Dass die (soziale) Welt ein Ensemble von Wirkungseigenschaften ist, die «rationaler» Weise nur unter Nützlichkeitsaspekten bzw. Gesichtspunkten der «Durchsetzbarkeit» (Falk u.a.) interessiert, dass wir also dem anderen gegenüber «fertig» sind und damit «die Wurzel der Humanität mit Füßen treten» (Hegel), wird hier von den «jungen Spitzenforschern» nach wie vor und vollkommen reflexionsfrei vorausgesetzt. (Eine Kritik daran würde in jedem hoch gerankten Journal scheitern.) Und weil die Fürsprache fürs Marktprinzip ganz im Hintergrund bleibt, erscheinen die Texte der von Heuser herangezogenen Kronzeugen für die angebliche Offenheit der Ökonomik so harmlos – in Heusers Diktion: als «anti-ideologisch». Hierin lässt sich auch eine Abkehr vom expliziten, sozusagen feurigen Ökonomismus, wie ihn die Homann-Schule einer angeblichen «Wirtschaftsethik» in unüberbietbarer Reinheit vertritt, hin zum impliziten Ökonomismus der Hinnahme der «empirisch» gegebenen Marktmachtverhältnisse erblicken (etwa in der Mindestlohnfrage, die Ockenfels anspricht). Implizit ist übrigens auch der Umgang der genannten Autoren mit offenkundig normativen Begriffen wie «besser», «optimal» (für wen?), «beherrschbar» oder «Fehler». Die ethische Reflexionsabstinenz, mit der mit solchen Begriffen hantiert wird, ist atemberaubend.
Ökonomik als Lehre der «Härte»
Von der Bereitschaft, «sich sowohl mit den praktischen Folgen der wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung als auch mit den paradigmatischen Grundlagen dieser selbst ethisch-kritisch auseinanderzusetzen», wie sie das Memorandum einfordert, fehlt bei all dem jede Spur. Und dies soll offenbar so sein. Heusers Volte besteht darin, das nicht mehr ganz so feurige und eher mittelbare Eintreten der «jungen Spitzenforscher» für «freie Märkte», wie es die Altvorderen kennzeichnete – man denke an Volkswirte vom Schlage eines Herbert Giersch, überhaupt an die Mehrheit der «Verlierer» des neuen Methodenstreits –, als Erlaubnis dafür zu nutzen, just diese alten Weisheiten weiterhin zu verbreiten, im Glauben, um die Kritik daran brauche er sich ja dann nicht mehr weiter zu kümmern. (Ähnlich verfuhr Heuser übrigens im Falle seiner Replik auf meinen Beitrag auf ZEIT online, in der er meine These, dass die «freie» Ausübung der je eigenen Marktmacht hinterrücks zur Unfreiheit in anderen Dimensionen der Freiheit als der Marktfreiheit und bei anderen führt, schlicht ignorierte und stattdessen einfach voraussetzte, dass «Freiheit» und Markt Geschwister seien – und ergänzte, diese «Freiheit» erzeuge überdies allgemeine «Zufriedenheit».)
Diese Wendung leitet Heuser ein, indem er dekretiert: «Ökonomie ist die Lehre der harten Entscheidungen». Sogleich taucht die Frage auf: Woher kommt denn diese «Härte»? Wollen wir diese «Härte»? Ist sie naturgegeben, oder Gott gewollt? Entspringt diese «Härte» vielleicht just den «neuen wirtschaftlichen Aktivitäten», die ja offenbar zu fördern seien, da ansonsten «Lähmung» herrscht? Sehr gut möglich, denn diese «neuen wirtschaftlichen Aktivitäten» sind ja nichts anderes als die «Schöpfung» (gerne beschönigend mit dem Begriff «Innovation» gefasst), die ja, wie Schumpeter noch wusste, stets zur «Zerstörung» woanders führt. Der Wettbewerb schafft eben Gewinner und Verlierer.
Davon ist aber mit keiner Silbe die Rede. Vielmehr ist die Rede von dem «größten Geheimnis, das die Ökonomen der Wirklichkeit entreißen können» – nämlich: wie werden «neue wirtschaftliche Aktivitäten» angeregt? (Bekanntlich durch «Hofierung» des Kapitals, wie Hans-Werner Sinn die neoliberale Agenda treffend auf den Punkt brachte.) Und wenn «den Ökonomen» dies gelingt, hätten sie «der Gesellschaft viel zu sagen». Nämlich offenbar: dass das Leben «hart» ist, insbesondere, wenn ‚die Märkte‘ die Politik vor sich hertreiben und zeigen, dass jede Abweichung vom Pfad der «rationalen» Tugend ‚kontraproduktiv‘ ist. «Ist es Zufall», fragt ein Kommentar, «dass die ‚Härte der Entscheidungen‘, die die Ökonomen verlangen, immer die Gleichen trifft?» Nein, das ist kein Zufall.
Es hilft nichts, wenn man die «Fürsprache des Marktes» – und hier ist es eine solche im ganz unmittelbaren Sinne – in neue, reichlich nebulöse Worte fasst. Es bleibt doch «Fürsprache des Marktes».
Und dann wird Heuser noch einmal ganz grundsätzlich. «Die Wissenschaft … der Ökonomen … handelt vom Menschen». Von was denn bitte sonst? Das Wirtschaften ist und war immer schon ein arbeitsteiliger Prozess. Es sind «Menschen» die von «Menschen» kaufen und an «Menschen» verkaufen. Soll damit irgendetwas gerechtfertigt werden? Etwa, dass die «Marktlogik» ja gar nicht so «kalt» sei, wie das Memorandum unterstelle? (Dem Memorandum geht es nicht um «Kälte» oder «Wärme», sondern um den verfehlten Exklusivanspruch der «als wissenschaftlich anerkannten Thematisierung des Wirtschaftens», die in unlauterer, da ethisch nicht offen reflektierter Weise Legitimität fürs Marktprinzip reklamiert.) Nur, in welcher Weise, mit welcher Botschaft handelt die Ökonomik «vom Menschen», von den «menschlichen» Interaktionsverhältnissen?
Offenbar im Modus der «Knappheit». Darin bestehe der «harte Kern» der Ökonomik. Und da hätten wir es wieder, das ökonomistische Kernparadigma: «Knappheit ist keine objektive Eigenschaft, die den Dingen anhaftet. Knappheit ist keine Tatsache, sondern eine Bewertung von Tatsachen. Die Welt mag objektiv gegeben sein, wie sie ist, aber nicht die Weise, wie wir uns ihr nähern. Das Spezifikum von Knappheit liegt nicht in objektiven Entitäten, die der Fall sein mögen oder nicht, sondern im Willen zur Knappheitsbewältigung. Ohne den Willen zur Selbstbehauptung ist überhaupt nichts ‚knapp‘, und die Universalität der Knappheit ist nur die Rückseite der Unbedingtheit individueller Selbstbehauptung – für welche Zwecke auch immer.» Man kann den Homo oeconomicus auch rechtfertigen, ohne von ihm zu sprechen.
Vor dem Hintergrund, dass einige ihre notorische (Geld-)«Knappheit» dadurch überwinden, dass sie sich mit einer sagen wir 15 prozentigen Eigenkapitalrendite nicht mehr zufrieden geben, «zeigt uns» – genauer: denjenigen, die gar keine «Knappheit» empfunden haben mögen – «die Ökonomie … das Wechselspiel von Wollen und Verzicht.» Man mag sich ja mit dem bestehenden Wohlstand, dem eigenen Einkommen, der bisherigen Beschäftigung zufrieden geben «wollen»; angesichts der gegebenen Marktmachtverhältnisse ist nun aber «Verzicht» angesagt. Der angelblich ganz unideologisch verfahrene Ökonom weiß auch ohne ethische Reflexion, dass «im vergangenen Jahrzehnt … die Arbeit in Deutschland zu teuer und zu unflexibel» war (Hvh. U.T.), weshalb «Opfer» notwendig waren, ohne die es «keinen neuen Wohlstand» gab. Doch wer bekam denn diesen Wohlstand? Hier und hier eine Antwort darauf. (Und versteht Heuser tatsächlich nicht, wie sehr die Niedriglohnpolitik zur gegenwärtigen Eurokrise beigetragen hat?) Und wie fühlen sich die Leute dabei? Einige Hinweise hier.
Alles keine Fragen, die den Ökonomen als Advokaten der (gesellschaftlich erzeugten!) «Härten» interessiert. Vielmehr beglückt der als Gralshüter der Marktmachtverhältnisse auftretende Wirtschaftsredakteur uns mit dem alten Hut der Trennung von «Allokation» und «Distribution»: «Jetzt hat die Volkswirtschaft die Stärke, um den Schwachen besser zu helfen.» Erst also sei für eine ‚effiziente Allokation‘ zu sorgen – durch schärfst möglichen Wettbewerb nämlich qua ‚freien‘ und ‚offenen‘ Märkten, wodurch viele ja überhaupt erst «schwach» gemacht wurden, durch die Niedriglohnpolitik nämlich –, um erst danach eine ‚politisch‘ zu bewerkstellende (Re-) ‚Distribution‘ zuzulassen, wenn nicht sogleich wieder auf die ‚kontraproduktiven‘ Wirkungen jedes ‚marktwidrigen Engriffs‘ verwiesen wird. (Vgl. zum korrespondierenden Kompensationsprinzip des sog. Kaldor-Hicks Kriteriums, dem zufolge das BIP zunächst durch den härtest möglichen Wettbewerb zu steigern ist, um danach aus dem Extra die Wettbewerbsverlierer zu kompensieren, knapp hier.) Paul Samuelson jedenfalls glaubte «nicht einen Moment, dass George W. Bush oder die Republikaner [oder andere ‚neoliberale‘ Austeritätspolitiker, beraten von ‚den Ökonomen‘] dazu bereit wären, von den Reichen zu nehmen, um damit die Verlierer der Globalisierung zu entschädigen». Allgemein formuliert: Warum eigentlich soll das Markprinzip zunächst voll (!) gelten, um es danach außer Kraft zu setzen?
Und tatsächlich outet sich Heuser nicht nur als Befürworter der «Agenda 2010», sondern auch des aktuellen «europäischen Sparregimes», der Austeritätspolitik also. Denn die einzige Alternative dazu sei, dass «Europa jetzt noch mehr Geld ausgibt» – als bestünde die Alternative nicht darin, das Kapital endlich wieder anständig zu besteuern, statt sich bei ihm weiter zu verschulden. (Vgl. zu dieser «bizarren» Konfusion zwischen dem Niveau der öffentlichen Ausgaben und der Art der Finanzierung des öffentlichen Ausgabenbedarfs, zwischen Staatshaushalt und Staatsverschuldung, das Interview hier.) Und dann «drohen Inflation und Kreditausfall». – Wer «droht» denn da? Vermutlich ‚die Märkte‘, mit denen im Wesentlichen das Kapital gemeint ist, dessen «Härte» bzw. Macht «die Ökonomen» an «uns», die nicht in dieser Ideologie befangenen Bürger, weiterreichen. Darin sehen sie ihre eigentlich Aufgabe. 'Offen' sind sie vor allem dafür, dass nicht so ganz klar ist, wie «hart» es denn werden wird. Klar ist nur: «härter» als jetzt ganz bestimmt. Denn die wettbewerbliche Eigendynamik kennt aus sich heraus keine Grenzen.
Der Bedarf des Memorandums – auch für die «vierte Gewalt»
Wie kann es eigentlich sein, dass Heuser uns zunächst vorwirft, wir negierten die tatsächliche Offenheit der avanciertesten Vertreter «der Ökonomie», die doch der alten «Denkschule» (angeblich) gar nicht mehr anhängen, weshalb unser Memorandum an sich ins Leere ziele, um sich dann zweifelsfrei selbst als Vertreter eben dieser «alten Ideologie» zu erweisen und diese für die einzig richtige und ernst zu nehmende Perspektive von Ökonomik auszugeben?
Der eher wolkige, dennoch durchschaubar listige Text, den ein Kommentator mit «Blabla statt Anerkennung des Offensichtlichen» umschreibt, wurde hier nur darum so ausführlich rezipiert, weil er in einer der erstrangigen Qualitätszeitungen Deutschlands – DIE ZEIT – erschien. Und dies zeigt die Misere, auf die eingangs hingewiesen wurde: die Marktgläubigkeit sitzt vielfach – eher als Regel denn als Ausnahme – auch an einer für den demokratischen Urteilsbildungsprozess eminent wichtigen Schaltstelle: den Wirtschaftsredaktionen. Nicht nur an die «für die Wahrung der Wissenschaftlichkeit des Hochschulwesens zuständigen Instanzen» ist das Memorandum daher zu richten, sondern auch an diejenigen Stellen, die für die journalistische Qualität auch der Wirtschaftsredaktionen zuständig sind. Marktdogmatiker, auch und gar vor allem, wenn sie sich einer reichlich unklaren Sprache bedienen, sind hier fehl am Platze.
Und auch das noch: Wir «verteufeln» «die [offenbar monistischen] Wirtschaftswissenschaften», die sich nach Heuser jenseits von «links und rechts» wähnen, nicht etwa, sondern kritisieren sie, auch in der Version einer «Lehre der harten Entscheidungen». («Verteufeln» unterstellt, die Kritik sei bar aller Argumente.) Und wir «drücken» uns auch nicht vor den «harten Entscheidungen», sondern wollen, dass die angeblich unabänderliche «Härte» kritisch hinterfragt wird. Dies zu unterlassen ist einfach ein Reflexionsstopp, es ist dogmatisch. Trotzig meint Heuser, je mehr sich die «Gegner» «der Ökonomie» vor den «Härten» (offenbar: die «uns» «die Märkte» auferlegen) «drücken», «desto dringender wird sie gebraucht». «Dringend gebraucht» wird vielmehr eine kritische Abkehr von der «Demut» (Hayek) diesen «Härten» (und ihrer Interessenten) gegenüber.