Und immer wieder grüßt der Business Case II
Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus, Unternehmensethik
Weniger Stress liegt im Interesse der Aktionäre?
Mal wieder zeigt der DGB-Index «Gute Arbeit», dass der arbeitsbedingte Stress und die Verdichtung der Arbeit zunehmen. Die FR berichtet knapp und bündig: «Sechs von zehn Befragten gaben an, sie hätten im Vergleich zum vorangegangenen Jahr ein höheres Pensum bewältigen müssen. Aus Sicht von 37 Prozent der Beschäftigten wurde die Arbeit sogar in hohem oder sehr hohem Maße verdichtet.» (Ich frage mich gelegentlich, ob wir nur noch dadurch wachsen, dass wir immer mehr bzw. immer intensiver arbeiten. Das ist natürlich nicht die Idee des «Wohlstands für alle» und des «Wunders des Marktes». Beide beruhen auf der technisch vermittelten Arbeitsteilung in Märkten («Industrie»), die, freilich unter geeigneten Nebenbedingungen, zu einem «allgemeinen Wohlstand» führen kann, der sich «durch all die verschiedenen Ränge der Gesellschaft verbreitet» (Adam Smith). Dass Mehrarbeit zu mehr Güterausstoß führt, ist trivial, aber, wenn ich hier einmal trotz aller notwendigen Vorbehalte, den Begriff verwenden darf, nicht Ausdruck der Steigerung «der Effizienz».)
Natürlich möchte der DGB, dass die Leute unter «guten» Bedingungen arbeiten. Das ist ein wichtiges und höchst berechtigtes Anliegen, da die (Erwerbs-)Arbeit ja unser Leben und damit seine Qualität wie kaum sonst etwas prägt. Doch offenbar sieht man dazu keinen anderen Weg als den, hierfür einen Business Case ins Spiel zu bringen: Weniger Stress im Betrieb, «dies sei auch im Interesse der Arbeitgeber,» meint DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach. «Denn anhaltend hoher Zeit- und Leistungsdruck sei Hauptursache für die besorgniserregende Zunahme psychischer Erkrankungen und verursache Kosten in Milliardenhöhe.» (Wenn wohl auch zu guten Teilen bei anderen als den (hier angesprochenen) Arbeitgebern, nämlich im Gesundheitssystem, wäre hinzuzufügen.) «Es bedürfe einer Anti-Stress-Verordnung, um die Leistungsfähigkeit der Belegschaften und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen erhalten zu können.»
Damit also die alsbald noch wettbewerbsfähigeren Unternehmen die Beschäftigten anderer Unternehmen (irgendwo in der Welt) unter Wettbewerbsdruck setzen und damit dem Stress aussetzen?
Das aber ist hier nicht mein Punkt, sondern: So argumentiert, wäre genau dasjenige Niveau an Stress und Arbeitsverdichtung das «richtige» bzw. «optimal», welches den «wahren», d.h. den durchsetzbaren Interessen «der Arbeitgeber» entspricht – sprich: der Investoren, der Aktionäre, der Rentiers –, und diese kennen, jedenfalls nach vorherrschenden Standardauffassung und wohl auch tatsächlich, keine Rendite, die zu hoch ausfallen könnte. Wäre schon ein gar komischer Zufall, wenn höchstmögliche Gewinne und «Gute Arbeit» in wunderbarer Harmonie zusammengingen. Selbst Gewerkschaften scheinen heute an die «unsichtbare Hand» des Marktes zu glauben.
Tatsächlich dürften sich die Dinge anderes verhalten. In der NZZ, einer Art Prawda des Neoliberalismus, die ohnehin nur von Marktgläubigen gelesen zu werden scheint und darum Dinge ausspricht, die anderen nicht auszusprechen wagen, war vor einigen Jahren gegenüber einem solchen Harmonieglauben zu lesen: «Solche Schätzungen [über die hohen Kosten, die der Stress verursache] sind allerdings mit Vorsicht zu geniessen, da sie die "Nutzenseite" meist ausblenden.» Gemeint ist der «Nutzen» des Stresses für diejenigen, die ihn unmittelbar verursachen (das Management) bzw. deren Auftraggeber (Aktionäre): «Stressgeplagte Arbeitnehmer leisten möglicherweise während ihrer Arbeitszeit mehr als andere und tragen so zu einer höheren Wertschöpfung [sprich: zu höheren Gewinnen] bei.» [Quelle hier]
Es spricht vieles dafür, dass wir derzeit ein in diesem (ökonomistischen) Sinne «optimales» Niveau des Stresses haben. Ist es da ein Zufall, dass der IWF in Deutschland einen «Musterknaben» erblickt? Wie dem auch sei. Die Marktkräfte hinnehmend, werden sich die Beschäftigten an das höhere Stressniveau schon gewöhnen (müssen). Sie werden dies möglicherweise gar nicht mehr als Stress empfinden, da sie, durch Coaching und Stressmanagement (STATT Stressreduktion an der Wurzel, d.h. bei Wettbewerb und Renditedruck) gestählt, Stressresistenz erworben haben. Die Kosten dafür bilden aus dieser Sicht eine Investition in Wachstum und Kapitaleinkommen.
Wer den Stress ursächlich abbauen will, muss das Niveau, welches der (globale) Wettbewerb heute erreicht hat, senken.