Wirtschaftsethische Überlegungen zum Prozessauftakt gegen Ex-Audi Vorstandsvorsitzenden Rupert Stadler
Ulrich Thielemann
Kategorie: Compliance
Der Dieselskandal ist ein besonders drastisches und umfassendes Beispiel für die Skrupellosigkeit und das betrügerische Verhalten, das seit geraumer Zeit in vielen Unternehmen um sich greift. Man denke an Wirecard, den Raubzug auf die Staatskasse durch Cum-Ex, Geldwäsche, die die Praktiken der Fleischindustrie, auch viele andere, weniger spektakuläre Fälle. Neu ist, dass hier erstmals ein Vorstandsmitglied, sogar ein Vorstandsvorsitzender eines bedeutenden Unternehmens für unternehmerisches Fehlverhalten massiven Ausmaßes zur Verantwortung gezogen wird.
Der Prozess, auch wenn er unmittelbar nur unternehmenspolitisch relevant ist, lässt sich durchaus in einen größeren Zusammenhang einordnen. Mir scheint, es ist mit Händen greifbar, dass der Neoliberalismus, der seit gut 30 Jahren eine extreme Variante von Marktwirtschaft propagiert, an sein Ende geraten ist und abgewirtschaftet hat. Gesellschaftliche Polarisierung, wütende Bürger, die, von verbreiteten Abstiegsängsten geplagt, vielfach Rechtspopulisten und Rechtsextremisten wählen, die Klimakrise. Der Neoliberalismus ist das Gegenteil, ja der Zerstörer einer wahrhaft sozialen Marktwirtschaft, von fairem Wohlstand für alle. Zur sozialen Marktwirtschaft gehört nicht nur eine gute, griffige Regulierung des Wirtschaftsgeschehens, es gehören dazu nicht nur gut ausgebaute Systemen der sozialen Sicherung, damit die Leute nicht in ständiger Angst vor dem Abstieg leben, sondern auch eine entsprechende Wirtschaftskultur und eine Wirtschaftsmoral. Die ist aber zerstört worden, insbesondere auch durch ein Ökonomiestudium, das jede echte Rücksichtnahme auf die Ansprüche anderer als Ausdruck von Irrationalität schlecht redet.
Entsprechend sind irgendwann alle Dämme gebrochen. Die Unternehmen wurden radikal auf Rentabilität und sonst gar nichts getrimmt. Das Management und Teile der Beschäftigten wurde durch Boni auf Linie gebracht. Alles, was der Rentabilität dient, wird getan. Alles, was höchstmöglichen Gewinnen entgegensteht, wird unterlassen, ignoriert oder unterdrückt. Und da ist buchstäblich jedes Mittel recht.
Das zeigt sich etwa daran, dass da offenbar niemand in einem solchen Unternehmen ist, der sagt: so etwas tut man nicht. Und wenn, dann ist er da nicht lange. Bei niemandem scheint sich da ein schlechtes Gewissen zu regen. Außer vielleicht bei Hinweisgebern. Die negativen Folgen der Betrügereien werden bestenfalls opportunistisch kalkuliert, also wiederum nach Maßgabe der Rentabilitätslogik – als «Risiken» nämlich, als Reputations- oder Rechtsrisiken insbesondere.
Für den VW-Konzern hat es sich übrigens gelohnt. Lag der operative Gewinn zu Beginn der Manipulationen in den Nullerjahren noch bei jährlich rund 7 Mrd. €, so lag er danach bei €12 Mrd. Nur 2015 gab einen Verlust und 2016 einen etwas tieferen Gewinn. Danach war der alte Gewinnsteigerungskurs wieder erreicht. Heute liegt der Gewinn bei rund €16 Mrd. Die €30 Mrd., die Volkswagen bislang an Strafzahlungen geleistet hat, vor allem in den USA, dürften durch den Gewinnsprung der letzten Jahre überkompensiert worden sein – wobei sich natürlich fragen lässt, inwieweit er auf die Manipulationen zurückzuführen ist.
Solch eine Klage gegen einen ehemaligen Vorstandsvorsitzenden ist möglicherweise Teil einer beginnenden Rückbesinnung auf die Idee einer sozialen Marktwirtschaft. Mir scheint, dass die Bürger sich solche dreisten Betrügereien einfach nicht mehr bieten lassen wollen.
Seit geraumer Zeit ist es normal geworden, dass sich Vorstände nicht am Unternehmenswohl (bzw. Unternehmensinteresse, S. 70 ff.) ausrichten sollen, sondern an ihrem eigenen Vorteil – durch Millionen messende Boni nämlich. Damit soll ihre Gier entfacht werden – zum Wohle der Aktionäre. Diese sog. Anreizsteuerung reicht dann einige Managementstufen herunter und schwächt sich dann ab.
Die übrigen Beschäftigten, Ingenieure, Facharbeiter usw., sollen dann dadurch auf höchstmögliche Renditen und sonst gar nichts eingeschworen werden, dass diese angereizten Manager ja ihre Vor-gesetzen sind, die ihnen gegenüber ja weisungsberechtigt sind. Dies führt dann unter anderem zu Systemen der Angst – der Angst nämlich, den hohen Zielvorgaben nicht zu genügen.
Da das obere Management sich seine Integrität hat abkaufen lassen, führt das auch dazu, dass es keine moralischen Einwände mehr gibt. Wenn es überhaupt Beschäftigte gegeben hat, die bei den Fahrzeugmanipulationen gesagt haben: «Spinnt ihr eigentlich. Bei solchen Betrügereien mach ich nicht mit.» Der dürfte ausgelacht worden sein. Oder genauer: Sie wagten es gar nicht, ihre Bedenken zu äußern. Alles was man in diesen Unternehmen sagt und tut, muss rentabilitätsförderlich sein. Wer andere, vor allem moralische Gesichtspunkte einbringt, gilt als Spinner.
Das trifft sich auch damit, dass zwei Drittel der Unternehmensberater sagen, dass der Trend zu unmoralischerem Verhalten in Unternehmen eine Folge des immer weiter wachsenden Renditedrucks ist.
Die Unternehmen sagen immer: Das sind Taten einzelner, skrupelloser Mitarbeitern. In der Tat verhält es sich bei den Automobilunternehmen offenkundig so, dass kein Vorgesetzter einen Ingenieur angewiesen hat, eine Betrugssoftware zu entwickeln. Irgendwie scheint es niemand gewesen zu sein, was man in Anlehnung an Ulrick Beck «organisierte Unverantwortlichkeit» nennen kann: Die Unternehmen, also die von der Kapitalseite bestellte Geschäftsführung, verweist auf «Einzeltäter». Diese im Falle von Audi angeklagten Ingenieure, die heute auf der Anklagebank sitzen, sagen: Nicht wir, sondern das oberste Management hat die «unternehmenspolitischen Entscheidungen» eines jahrelang vollzogenen Betrugs getroffen bzw. die «grundlegenden strategischen Entscheidungen» (Bundesgerichtshof) herbeigeführt, um die es hier angesichts von Millionen betroffener Fahrzeuge offenbar geht. Wir sind Baueropfer. Denn welches Interesse sollten sie gehabt haben, die Betrugssoftware zu entwickeln? Zwar hat Abteilungsleiter Giovanni Pamio dem Vernehmen nach Boni in sechsstelliger Höhe erhalten. Doch reicht das für eine Erklärung? Und falls ja, wer hat denn diese Bonistrukturen installiert und mit welche Zweck? Wer hat die Unverantwortlichkeit organisiert?
Schon weil Boni ab der dritten Managementstufe eine eher geringe Rolle spielen, dürfte es sich eher so verhalten, dass eine andere, heiß diskutierte Managementmethode griff, «goal stretching» nämlich. Die Idee ist: wir geben Ziele vor, die eigentlich unerreichbar sind. Die Mitarbeiter stehen dann da und fragen sich: Wie sollen wir das denn schaffen? Genau vor diese Frage sollen sie gestellt werden. Versucht es einfach. Wie ihr das schafft, das ist eure Sache.
Im Falle von Volkswagen bzw. Audi sah das dann so aus. Das Management sagte, um seinen Bonus in weiter in Millionensphären zu hieven, den Ingenieuren: Wir wollen viel mehr dieser Dieselfahrzeuge verkaufen. Wobei wir alle wissen, dass insbesondere in den USA sehr strenge Emissionsziele gelten. Wir nennen das dann «Clean Diesel». Die Ingenieure antworteten: Dafür müssen wir größere Ad-Blue Tanks einbauen mit Harnstoff, um die Schadstoffe aus der Verbrennung zu bekommen. Das Management sagte: Egal wir ihr es macht, mehr Raum im Fahrzeug für solche Tanks darf es nicht geben, weil wir sonst keinen Platz mehr haben für die Soundanlagen (vgl. auch hier, S. 14), mit denen wir sehr viel Geld verdienen – und man darf ergänzen: mit denen wir Millionen messende Boni einfahren. Die Ingenieure sagten sich: O.K., wir haben verstanden. Diese beiden Ziele lassen sich nur erreichen, wenn wir eine Betrugssoftware entwickeln. Ihr wollt also offenbar, dass wir eine solche Software entwickeln und Umweltbehörden und Verbrauer täuschen. Sie mussten annehmen, dass die Unternehmensführung dies billigt. Denn alles, was den Umsätzen und damit der Rentabilität dient, geht ja in Ordnung. Auch wenn, oder sogar: gerade dann, wenn es ungewöhnlich ist. Damit sichern wir uns einen Vorsprung vor den anderen.
Der Gerichtsprozess selbst spielt sich natürlich innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens ab. Es kommt heute darauf an, einen Rechtsrahmen zu schaffen, der der neuen Situation gerecht wird. Unter dem Titel «Gesetzentwurf zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft» hat Bundesjustministerin Christine Lambrecht einen Teil eines solche erneuerten Rechtsrahmens vorgelegt. Wie zu erwarten, stößt er auf erhebliche Ablehnung bei den interessierten Kreisen.
Im Falle von Volkswagen bzw. Audi hätte ein solches Unternehmenssanktionsrecht vermutlich dazu geführt, dass 10 Prozent eines Jahresumsatzes dem Unternehmen entzogen worden wären. Dies wäre zu Lasten der Aktionäre gegangen. Für die wäre dies schmerzhaft, aber leistbar, denn sie sitzen auf Milliarden messenden Barreserven. Auch könnte das Vermögen der Großaktionärsfamilien Porsche und Piëch, das sogar noch in der Dieselkrise um Milliarden weiter gewachsen ist, sinken. Denn letztlich sind es die Aktionäre bzw. deren Vertreter, die verantwortlich sind für die Bestellung der Vorstände und damit für den Geist, den diese ins Unternehmen tragen. Ebenso und vor allem für die Führungs- und Anreizsysteme (Boni), die Management und Aufsichtsräte installieren und die ja ausdrücklich den Sinn haben, die Gier des Managements zu entfachten und «Gas zu geben», damit die unstillbare Gier der Investoren nach höchstmöglichen Renditen bestmöglich befriedigt wird.
Der Sinn dieses Gesetzes ist natürlich die Prävention. Die Verantwortlichen sollen es sich drei Mal überlegen, ob sie eine Geschäftskultur des Gewinnemachens um jeden Preis tolerieren oder aktiv forcieren wollen. Damit allerdings ein anderer Geist in die Unternehmen einzieht, bedürfte es eines weniger gewinn- und vorteilsfixierten Ökonomiestudiums.