11. Februar 2012
Wertfreiheitsillusionen

Ulrich Thielemann
Kategorie: Orientierungen, Ökonomismus

 

Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man lachen. Prof. Michael C. Burda, Inhaber des Lehrstuhls für Makroökonomik an der Humboldt-Universität zu Berlin und Vorstandsvorsitzender des hochrenommierten Vereins für Socialpolitik, wurde von Forschung & Lehre, dem Publikumsorgan des Deutschen Hochschulverbandes, relativ hart ran genommen. Anlass ist natürlich das «Versagen» der Ökonomen angesichts der Weltfinanzkrise. Burda glaubt tatsächlich, die Ökonomik sei eine wertfreie, ethisch neutrale, rein «positive» (Sozial-)Wissenschaft. Vgl. zur Unmöglichkeit hier.

Auf die Frage, ob «die universitäre Ausbildung der Wirtschaftswissenschaften angesichts der weltweiten Krise grundlegend reformiert werden, also z.B. mehr ethische Elemente enthalten» müsse, antwortet Burda: «Ethisches Verhalten ist zweifelsohne richtig und wichtig. Aber unsere Wissenschaft fährt zweigleisig: die positive Volkswirtschaftslehre beschäftigt sich mit der Ökonomie der Dinge, wie sie sind. Die Dinge zu ändern – im Sinne der einen ethischen Richtung oder der anderen – das ist die normative Volkswirtschaftslehre. Beide sind Bestandteile einer modernen Ausbildung. Bei letzterer gehört eine hohe Dosis persönlicher Meinung dazu, die ein Wissenschaftler anderen nicht vorschreiben darf.»

Dies ist in mehrerer Hinsicht höchst befremdlich. Zunächst ist begrüßen, dass Burda immerhin, qua «Zweigleisigkeit», eine «normative Volkswirtschaftslehre» befürwortet, die zu einer «modernen Ausbildung» (wo bleibt die Bildung?) dazu gehöre. Doch wo ist diese? Meint er etwa die Lehrstühle einer angeblichen «Wirtschaftsethik», die nur noch einmal das «ethisch» garnieren und bestätigen, was vorher ohnehin in den Lehrbüchern zu lesen war und deren Ökonomismus an Radikalität nicht zu überbieten ist? Die Homann-Nachbeter haben allesamt problemlos die überwiegende Zahl der wenigen mit «Wirtschaftsethik» titulierten Lehrstühle besetzen können, so in HalleLeipzig (Graduate School of Management), MannheimMünchen (TU) und Lüneburg. Und auch die jüngste Ausschreibung in Sachen «Wirtschaftsethik» – eine Professur an der FH Köln – ist, damit nur ja keine Zweifel aufkommen, durch den Zusatz «… und Institutionenökonomik» unzweideutig als ökonomistisch ausgerichtet klassiert. Auch die «Institutionen», und übrigens auch das «Verhalten» («Verhaltensökonomik»), sollen also von vorn herein «ökonomisch», und d.h. nach Maßgabe der Vorteilslogik des Homo oeconomicus, betrachtet werden, ansonsten betreibt man nach Ansicht der Ausschreiber offenbar keine «Wirtschaftsethik». Die Professur ist übrigens dem Schmalenbach Institut für Wirtschaftswissenschaften angegliedert, das eng mit der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft verbunden ist. Alles klar? Die Homannianer und Transzendental-Ökonomen verstehen sich übrigens als die konsequenteren Advokaten des Marktprinzips (vgl. hier S. 213 ff. und hier S. 278 ff.).

Noch befremdlicher ist allerdings die Annahme Burdas, es gebe da eine wertfreie bzw. ethisch neutrale, nämlich «positive Volkswirtschaftslehre», die sich ‚mit den Dingen‘ beschäftigt, ‚wie sie sind‘. Hat der etablierte Volkswirt Burda tatsächlich nicht verstanden, dass es eine «schlechthin ‚objektive‘ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens ... unabhängig von speziellen und ‚einseitigen‘ [nämlich normativen] Gesichtspunkten» nicht geben kann, worauf bereits Max Weber dezidiert hingewiesen hat? Glaubt er an die «Existenz eines Wissens, das unabhängig von Bewertungen gewonnen werden kann», was Gunnar Myrdal treffend als «naiven Empirismus» klassiert hat?

Nun könnte Burda einwenden, er habe ja nicht einfach von den ‚Dingen, wie sie sind‘, gesprochen, sondern von «der Ökonomie der Dinge, wie sie sind». Damit hätten wir einen erkenntnisleitenden Gesichtspunkt, nämlich «die Ökonomie». Nur, wie immer dieser Gesichtspunkt genau zu fassen ist, dieser ist ganz sicher nicht rein «positiv», sondern normativ. «Ökonomie ist Ethik», wie dies bereits Karl-Heinz Brodbeck so treffend gefasst hat. Sie votiert stets zugunsten der Marktlogik (erlaubt ist allenfalls eine Auseinandersetzung darüber, was dies innerlich konsequent bedeutet), für den Homo oeconomicus als den Inbegriff von «Rationalität».

Ein Beispiel gefällig? Pikant ist die immunisierende Stellungnahme Burdas ja auch darum, weil er just einen Satz vor seinem Versuch der Exkulpation der Ökonomik als über jeden ethischen Zweifel erhaben dafür plädiert (!), die Studierenden mögen doch für die Lehrveranstaltungen und damit für die ‚gewünschten‘ Studiengehalte «selber zahlen». Was also die ‚richtigen‘ Lehrgehalte sind, das bemisst sich Burda zufolge an der Zahlungsfähigkeit. (Über die Ausrichtung der Lehre sollen also etwa die Kinder reicher Eltern oder Investmentbanker in spe bestimmen?) Der Ökonomismus dieser Auffassung, die ich einmal als «transzendentale Ökonomik» bezeichnet habe, ist in seiner Radikalität nicht zu überbieten: An die Stelle der Wahrheitstheorie tritt das Recht des Stärkeren (Zahlungskräftigeren, Wettbewerbsfähigeren) im «freien» Wettbewerb als einem «Entdeckungsverfahren» (Hayek).

Ich weiß nicht, ob Burda tatsächlich glaubt, diese Plädoyer für eine Ökonomisierung der Bildung («Die Studierenden sollen mit den Füßen wählen, …») sei keine «persönliche Meinung» über eine «Vorschrift» bzw. Norm, die ja angeblich nur in der «normativen Volkswirtschaftslehre» Platz greife, nicht in der davon zu trennenden «positiven Volkswirtschaftslehre». [Um hier keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Ich plädiere keineswegs für eine Ökonomik der 'Präskriptionen', sondern behaupte die Unausweichlichkeit der Normativität der Ökonomik bei der Beschreibung bzw. der begrifflichen Fassung des Gegenstandes als dieses und nicht jenes – etwa als «rational» oder «irrational», «effizient» oder «ineffizient» usw.] Im Text selbst könnte man weitere normative Begrifflichkeiten ausmachen, etwa im Begriff der «Gefahr», der «Sünde» oder der «Verbesserung». (Ohne solche normativen Hinsichten wäre eine jede Stellungnahme ja ohnehin sinnlos, jedenfalls solange sie nicht selbst ein Geschäft ist.) Ich erspare mir hier, die jeweilige Normativität auszubuchstabieren.

Auch wenn Burda immerhin eine Offenheit für eine «normative Volkswirtschaftslehre» zugute zu halten ist (und ich gehe hier einmal davon aus, dass es sich um eine Wirtschaftsethik handeln soll, die den Namen verdient), so möchte er doch eine seriöse Diskussion über die Normativität der Ökonomik selbst abblocken. Dies nicht nur, indem er hier offenbar nur «persönliche Meinungen», also Willkür statt Argumente, am Werke sieht, sondern auch, da er, ähnlich wie kürzlich sein Kollege Rüdiger Bachmann hier, jede seriöse Diskussion auf das nun mal «führende Paradigma» verpflichten möchte, also den Ökonomismus, der sich hinter seiner angeblichen «Wertfreiheit» versteckt. Wer also unter «Rationalität» nicht Vorteilsmaximierung verstehen möchte und wer «Effizienz» oder «Wettbewerbsfähigkeit» als Kriterium der Beurteilung der gesellschaftlichen Interaktionsverhältnisse ablehnt, soll vorn herein keine Chance haben, im wissenschaftlichen Diskurs ernst genommen zu werden. Dies ist wissenschaftlich unlauter und widerspricht dem Geist akademischer Redlichkeit. Zur Wissenschaft gehört nämlich zwingend die Offenheit für entgegenstehende Argumente und Paradigmen. Davon allerdings ist die vorherrschende Ökonomik denkbar weit entfernt.