18. Februar 2012
Wer «Spitzenökonom» sein will, muss den Homo oeconomicus predigen

Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus, Orientierungen

 

Auch der Tagesanzeiger hat sich mit der These Rüdiger Bachmanns beschäftigt, dass die Kritiker der VWL zunächst einmal rechnen lernen sollten. Die Exkulpation geht weiter.

Im Interview mit dem Volkswirten Reiner Eichenberger, Inhaber des Lehrstuhls für Finanzwissenschaft an der Universität Fribourg, gibt der Tagi-Journalist diesem sogleich eine Steilvorlage, indem er ihn fragt, ob er auch der Meinung sei, «dass nur über Wirtschaft diskutieren dürfe, wer sich in den wissenschaftlichen Diskurs einklinkt». Aha, ein «wissenschaftlicher Diskurs» ist dies also. Und, kein Wunder, antwortet Eichenberger, dass er sich stets bemüht, die «Lehren» der «Spitzenökonomie» «allgemein verständlich» darzustellen und dabei «ökonomisches Wissen weiterzugeben», um, wie es der Journalist formuliert, «die Zirkulation von volkswirtschaftlichem Wissen zu verbessern».

Abgesehen von der schmerzhaften Reflexionsferne, die uns hier entgegenströmt – als sei das sog. «volkswirtschaftliche Wissen» und dessen normativer Gehalt nicht genau das, was kontrovers ist; als seien «die Spitzenökonomen» mit ihrer ökonomistischen Grundausrichtung fraglos im Recht und als ginge es nur darum, deren Botschaften noch «besser» als bislang zu verbreiten – ist vor allem interessant, durch welche (natürlich normativen) Grundbotschaften der ethisch vollkommen ahnungslose Volkswirt die VWL charakterisiert sieht, die er offenbar für in sich paradigmatisch völlig geschlossen hält. Was ihm dann auch auffällt: «Andere Disziplinen wie die Soziologie oder die Psychologie sind da tatsächlich viel heterogener.» Könnte dies vielleicht daran liegen, dass es sich hierbei um echte Sozialwissenschaften handelt, nicht um dogmatisch geschlossene, angeblich wissenschaftliche Räume der Verfechtung einer Weltanschauung?

Letzeres bestätigt Eichenberger – wohl eher unfreiwillig – selbst. Der paradigmatische Kern «der Ökonomie» bzw. der «große Bogen», der die VWL schon «seit längerem» bestimmt und der «alles überspannt» ist, wen wundert’s, «die Vorstellung vom eigennützigen Menschen». Die möglichst «allgemein verständliche» Weitergabe dieser «Vorstellung» besteht etwa darin, dass man «zur Lösung des Umweltproblems» oder von welchen gesellschaftlichen «Problemen» auch immer «nicht einen «Neuen Menschen»» brauche, sondern nur die «richtigen Anreize». Dies ist Ökonomismus-Populismus der übelsten Art, der sich dem immer wieder beliebten, schlichten rhetorischen Trick des Argumentierens durch die Begrenzung der Alternativen bedient. Soll ich dies ausführen? Nun gut. Hier wird nicht nur unterstellt, wir Normalbürger, die wir ja nicht «Neue Menschen» sind, seien Homines oeconomici, würden also «unbändig» (Karl Homann) noch Vorteilen streben und uns ginge aller Gerechtigkeitssinn ab, sondern auch, jede Alternative zum Homo oeconomicus münde in eine totalitäre Utopie. (Eine kleine Anekdote: Als ich für einen Probevortrag im Rahmen der Ausschreibung eines Lehrstuhls für Wirtschaftsethik – ich sage nicht, an welcher Universität es war; dass ich überhaupt eingeladen wurde, war erstaunlich genug –, erstmals die Idee verdienter Reputation vorstellte, die ja sozusagen eine nicht-ökonomistische Brücke zwischen wahrhaftig verantwortungsvoller Unternehmensführung und Gewinnerzielung schlägt, war die erste Reaktion des Vorsitzenden der Berufungskommission: «Vielen Dank für Ihren Vortrag. Wenn ich Sie richtig verstehe, fordern Sie ja einen neuen Menschen. Aber hatten wir dies nicht schon? Bei Stalin?» Zunächst dachte ich, ich hätte mich verhört. Hatte dieser Professor für Volkswirtschaftslehre tatsächlich gerade «Stalin» gesagt und mich in die Nähe dieses Massenmörders gestellt? – Eigentlich hätte ich den Raum verlassen müssen mit dem Hinweis, die Berufungskommission habe nun Zeit, sich eine Entschuldigung zu überlegen und wenn sie dazu nicht bereit sei, reise ich wieder ab. Aber ich war ganz brav und habe den Unterschied zwischen Werterhellung und Wertentscheidung erläutert…)

Zurück zu Eichenberger. Natürlich wiegt die Ahnungslosigkeit «der Spitzenökonomen» für die Weltfinanzkrise schwer. «Unbestrittener» Weise habe es «Verfehlungen» gegeben (die vermutlich darin liegen, nicht nur in Deutschland, sondern überall in der Welt «Rosskuren» zu etablieren und damit der Plutonomy zuzuarbeiten). Doch sei «die Volkswirtschaftslehre immer noch die beste Ratgeberin». Schließlich rufe man zur Krisenbewältigung nicht etwa Psychologen oder Politikwissenschaftler an, die ja auch «erstaunlich wenig zu sagen» hätten zu all diesen «komplizierten» Fragen. Und so werde etwa «die Staatsschuldenfrage» ja nun einmal «von Ökonomen dominiert».

Diese exklusive Zuständigkeit «der Volkswirtschaftslehre», wie sie sich heute darstellt, für die in der Tat «komplizierten» wirtschaftspolitischen Fragen unserer Zeit, das ist ja gerade das Problem.