«Wenn wir’s nicht machen, dann macht’s ein anderer»
Ulrich Thielemann
Kategorie: Orientierungen, Unternehmensethik
Ein populistisches Argument der Ermunterung zur Verantwortungslosigkeit
Häufig hört man zur Rechtfertigung der Fortsetzung oder gar der Initiierung unverantwortlicher Praktiken den Satz: «Wenn wir es nicht tun, dann macht es ein anderer.» Man könne also mit der Praktik fortfahren oder gar einen an sich unverantwortlichen Weg einschlagen, weil ein verantwortungsvolleres Agieren ohne jede Konsequenz bliebe. Es handelt sich insofern um eine konsequentialistische Begründung für Verantwortungslosigkeit. Die Verantwortungslosigkeit der fraglichen Praktik an sich wird dabei gar nicht in Frage gestellt, sondern allein die Wirksamkeit eines verantwortungsvollen Handelns.
Dieses populäre Argument brachte auch die Bundesvorsitzende des Wirtschaftsverbandes «Die Jungen Unternehmer», Sarna Röser, in die Diskussion der Phoenix-Runde vom 21. Januar 2020 ein, die unter dem Titel «Trump und Greta in Davos - Profit contra Klimaschutz?» geführte wurde. (Ich war ebenfalls dabei). Es ging unter anderem um die Frage, wie die Entscheidung des Siemens Vorstandes zu beurteilen ist, den Vertrag mit dem indischen Adani-Konzern entgegen gravierender klimapolitischer Bedenken doch nicht zu kündigen. Der Adani-Konzern plant, in Australien die weltweit zweitgrößte Kohlemine zu errichten. Diese würde sieben Prozent des der Menschheit noch unterhalb des 2-Grad-Ziels verbleibenden Kohlestoffbudgets verbrauchen. Bei dem Vertrag mit Siemens geht es (lediglich) im die Bahnsignalisation des Zugtransports der Kohle zum Hafen.
Frau Röser meint dazu (ab Minute 20:12): «Wenn Siemens die Verträge aufgelöst hätte, hätte es jemand anderes gemacht. Das hätte das Kohlekraftwerk [gemeint ist die Kohlemine] nicht gestoppt.» Mehr noch, nicht nur die Fortführung des für sich betrachtet unverantwortlichen Handelns (des Beitrages zum klimaschädlichen Kohleabbau in global signifikantem Umfang), sondern bereits das Einschlagen dieses Weges sei gerechtfertigt: Man müsse «immer im Hinterkopf haben, wenn wir als deutsche Unternehmen sagen» (bzw. wenn man, wie etwa die Fridays for Future Bewegung, von den hiesigen Unternehmen fordert): «Nein, wir gehen da nicht mit.» (Bzw.: Unterlasst die Mitwirkung an der Erschließung weiterer Kohlevorkommen.) «Dann wird es jemand anderes geben, ein Unternehmen aus einem anderen Land, der dann mit beliefert.» Ergo dürfe Siemens und jedes andere Unternehmen jeden erdenklichen Auftrag annehmen, sollte es da irgendein anderes Unternehmen geben, das dieses Geschäft auch betreiben könnte. Dies alles natürlich: um die gewünschten geldwerten Vorteile einzustreichen. Denn darum geht es letztlich.
Der Volkswirt Rudi Kurz, zugleich Beirat beim BUND, erwiderte (ab Minute 21:30): «Aus ethischen Dilemmata kommen sie nicht dadurch heraus, indem sie sagen, dann macht’s ein anderer. Dieses Argument können sie komplett vergessen.» Aber er sagte nicht warum. Und schließlich hülfe das ja mit Blick auf die tatsächlichen Folgen nicht weiter, wenn, wie die Moderatorin, Anke Plättner, meinte (Minute 21:00), [lediglich] «das deutsche Unternehmen moralisch besser handeln würde», womit offenbar gemeint war: dastehen würde.
In meiner Antwort an Frau Rösner (ab Minute 25:30) stellte ich die Legitimität des fraglichen populären Argumentationstypus nicht in Frage, sondern ließ mich darauf ein und schien diese Legitimität damit sogar zu bestätigen, indem ich das Argument bloß als empirisch «falsch» zurückwies, aber nicht prinzipiell-philosophisch argumentierte – was vor allem am Zeitmangel lag. Man kann in einer solchen Sendung keine Vorträge halten, sondern nur Stellungnahmen von ein paar Sätzen abgeben. Und außerdem war mir anderes wichtiger. Ich verwies auf Unternehmen wie Alstom, die den Auftrag hätten ausführen können, aber ablehnten, überdies darauf, dass australische Banken die Finanzierung der Mine als zu riskant eingestuft haben. Vermutlich nicht nur wegen der «Reputationsrisiken», sondern vor allem, da die politisch gesetzten Preise für den Ausstoß von CO2 global signifikant steigen dürfte, was das gesamte Projekt unrentabel machen könnte. Es sei also, so fasste ich zusammen, «nicht ausgemacht, ob er (der Kohleminenbetreiber Adani) überhaupt noch jemanden findet», der die Signalisierung zur Verfügung stellt. Und ohne diese gibt es keinen Transport der Kohle zum Hafen.
Peter Ulrich meinte dann in einem Email an mich, der Punkt sei doch eigentlich, dass das Argument nicht «verallgemeinerbar» sei, weshalb es ein «Pseudoargument» sei. Ganz richtig. Denn wenn alle so denken und auf dieser Basis handeln würden, dann würde die fragliche unverantwortlichen Praxis ja niemals eingestellt. Aber dies wird die Vertreter und Nutzer dieses Arguments nicht überzeugen. Dies liegt daran, dass sie das Agieren der möglichen anderen Akteure, die aus dem fraglichen Handeln Vorteile ziehen, objektivieren. So als handele es sich um eine Naturtatsache, die «sich» einfach ereignete.
Dar Argument basiert gerade auf dieser Objektivierung, also darauf, dass diese anderen Akteure nicht adressiert werden. Man verbleibt propositional, also mit dem Inhalt des Arguments, partikularistisch innerhalb des Diskussionskreises, in dem man das Argument «Wenn’s wir nicht tun, dann tut es ein anderer» nun einmal lanciert wird. Und man lanciert dieses Argument, um dessen das Eigeninteressestreben fälschlich rechtfertigende Wirkung sich entfalten zu lassen. Doch sind Diskurse von Hause aus öffentliche, universalistische Veranstaltungen. Und zwar durchaus in der realen Welt. Das Reden hat Folgen. So dürfte das Argument auch anderen, potentiellen oder tatsächlichen «Tätern» zu Ohren kommen. Und diese fühlen sich dann darin bekräftigt und legitimiert, ihrem Eigeninteresse zu folgen und auf die Verantwortlichkeit ihres Tuns zu pfeifen. Es macht sich dann eine Stimmung breit, die zu einer generellen Verantwortungslosigkeit führt. Um an eine Formel von Ulrich Beck anzuknüpfen: Derjenige, der so argumentiert, «organisiert» damit eine und ermuntert zu einer Kultur der Unverantwortlichkeit.
Man sieht, das Argument selbst ist durchaus nicht ohne Konsequenzen. Auch das Reden, das öffentliche Denken, hat Konsequenzen – was innerhalb der ökonomischen Theorie derzeit als Tatbestand der «Performativität» just dieser Theorie entdeckt wird. Es ist nicht nur ein populäres, sondern ein populistisches Argument – wenn Populismus bedeutet, dass das einfachere Argument das bessere Argument schlägt. Darum hört man das Argument ja auch eher im privaten Kreis, am «Stammtisch», wie man früher sagte, und eher selten in sich seriös gebenden, öffentlichen Diskussionsveranstaltungen. Denn viele Interessenvertreter, die das Argument an sich vielleicht gerne einsetzen würden, üben sich hier in der Regel in Zurückhaltung, da sie spüren, dass das Argument ziemlich grobschlächtig daherkommt und den eigenen Legitimitätsanspruch untergräbt, da man selbst Gleichgültigkeit gegenüber der anstehenden Verantwortungsfrage signalisiert. Vielleicht ahnen sie auch, dass es partikularistischer Natur ist, mithin nicht begründungsfähig ist.
Diese Zurückhaltung ging der Vertreterin der «Jungen Unternehmer» vollständig ab. Was wohl damit zusammenhängt, dass sie sich in Kreisen bewegt, in denen solche Bedenken gänzlich unbekannt sind. Kein gutes Zeichen für die Zukunft verantwortungsvollen Wirtschaftens. Und sollte die Unterlassung der fraglichen Praxis zu unzumutbaren Nachteilen für den Akteur (etwa für Siemens) führen, dann wäre Regulierung angezeigt. Dies soll bekanntlich sicherstellen, dass der Verantwortungsbewusste nicht der Dumme ist. Doch wollte die Jungunternehmerin uns ja gerade weismachen, dass wir
«den Unternehmen», jedenfalls den sog. «Familienunternehmen» blind vertrauen sollten und eine jede Art der Regulierung hierbei nur hinderlich sein kann.
Regulierung hin oder her – Joe Kaeser hat in seiner unkonventionellen Stellungnahme nach dem Entscheid des Gesamtvorstandes, den Vertrag nicht zu kündigen, das konsequentialistisch anmutende Argument ebenfalls in Feld geführt: «There were competitors who have been competing [was möglicherweise für die aktuelle Situation eher die halbe Wahrheit ist]. Thus, whether or not Siemens provides the signaling, the project will still go ahead.» Aber hätte er dies vor laufender Kamera ins Mikrofon gesagt? Hätte er dies gewagt? Seine Reputation als «politischer» Vorstandsvorsitzender, dessen Stellungnahmen gelegentlich an die Zeit «staatsmännischer Unternehmensführung» erinnern, würde vermutlich Schaden nehmen. Und Kaeser denkt ja in Verantwortungskategorien. Ihm geht es also gar nicht um die Reputation bzw. um die Vorteile aus dieser – weshalb er ja öfter mal aneckt. Was sich etwa zeigt, wenn er denjenigen Aktionären, «die in brisanten Umbruchzeiten wie heute den gesellschaftlichen Beitrag von Nachhaltigkeit und Langfristorientierung nicht auch als Wert an sich verstehen», nahelegt, «ihre Siemens-Aktien zu verkaufen und anderswo einzusteigen, wo sie sich mehr versprechen». Man nimmt Kaeser ab, dass ihn «wirklich umtreibt, wie man die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft eindämmt kann».
Einiges spricht dafür, dass Kaeser überstimmt wurde, auch wenn der Entscheid als einstimmig deklariert wurde (was gemäß Siemens Geschäftsordnung erwünscht ist) und auch wenn Kaeser letztlich auch die Hand gehoben hat (vgl. dazu die Überlegungen von Peter Grassmann, der übrigens früher einmal selbst Mitglied des Vorstands der Siemens AG war). Dies zeigt sich etwa daran, dass sich Kaeser bzw. «we at Siemens» dazu verpflichtet haben, «to do our part to save our planet». Er weiß, worum es geht und was auf dem Spiel steht. Und er weiß, dass es dabei um echte Unternehmensverantwortung geht, nicht um geldwerte Vorteile (einschließlich der Vermeidung entsprechender Nachteile): «Environmental care should not be about money but about responsibility.»
Da ist es nur konsequent, dass Kaeser bekundet, «vermutlich anders entschieden zu haben, wenn es sich um mein eigenes Unternehmen gehandelt hätte». («Had it been my own company, I may have acted differently.») Natürlich bleibt er vorsichtig im Konjunktiv, sonst würde er sich offen gegen die Vorstandsmehrheit stellen. Doch was, wenn der Siemens-Vorstand den Vertrag tatsächlich gekündigt hätte (abgesehen von der Konventionalstrafe in unbekannter Höhe)? Der Weltkonzern Siemens hätte ein klimapolitisch eminent starkes Signal ausgesendet – übrigens grundsätzlich in Übereinstimmung mit den neuen Vorgaben des Chefs von Blackrock, Larry Fink. Die Hürden für andere Anbieter der entsprechenden Leistungen (Bahnsignalisation – ebenso weitere Zulieferdienste), in die Bresche zu springen, wären gestiegen. Man sieht, auch das Reden hat Konsequenzen. Und Kaeser hätte besser getan, den Satz «whether or not Siemens provides the signaling, the project will still go ahead» zumindest im Konjunktiv zu formulieren («the project may still go ahead»). Oder am besten gleich wegzulassen.