04. Mai 2013
Was ist «Soziale Gerechtigkeit»?

Ulrich Thielemann
Kategorie: Fairness, Ökonomismus

Chancengleichheit, INSM – und ein unerwünschtes Interview

 

Ein Journalist fragte an für ein Kurzinterview zum Thema «Soziale Gerechtigkeit», und zwar für das Magazin des AGEV, der «Arbeitgebervereinigung für Unternehmen aus dem Bereich EDV und Kommunikationstechnologie». Der Verband vertritt rund 75.000 Selbstständige.

Es sollte eine Art Konfrontation werden. Die andere Seite sollte vom Geschäftsführer der INSM, Hubertus Pellengahr, ausgefüllt werden. Diese Initiative, die bekanntlich die Interessen der Arbeitgeber der Metall- und Elektroindustrie, sprich: des Kapitals dieser Branche, vertritt, und zwar ohne Relativierung, also strickt instrumentell, und die in den Köpfen der Bürger ein ökonomistisches bzw. «neoliberales» Gesellschafts- und Wirtschaftsbild installieren möchte, wofür ihr jährlich knapp 7 Millionen Euro zur Verfügung stehen, was auf die «höchst bedenkliche Korrespondenz … zwischen der Finanzausstattung und den Finanzinteressen» von Denkfabriken verweist, hatte zu diesem Zweck kürzlich ein Kampagne lanciert, der zufolge Verteilungsgerechtigkeit als «Chancengerechtigkeit» zu fassen sei, wobei gezeigt werden sollte, dass dies die breite Bevölkerung auch so sehe. Die Berliner Zeitung hatte diese Position in ihrem Beitrag zur jüngsten INSM-Kampagne unter den treffenden Titel «Gerechte Armut» gestellt.

Dies war die Ausgangssituation für meine Stellungnahme. Es stand sehr wenig Raum für das Interview zur Verfügung. Die Zurückweisung der Position, die Verteilungsgerechtigkeit als «Chancengerechtigkeit» fasst, konnte also nicht wirklich entfaltet werden (vgl. dazu Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept, S. 422 ff., sowie online verfügbar diesen Foliensatz).– Übrigens ist Verteilungsgerechtigkeit nicht eine Konzeption von Gerechtigkeit, wie die INSM ebenso wie die Kritiker nahelegen, sondern ein Gegenstand von Gerechtigkeit bzw. eine Frage: «Wann ist die Verteilung von Einkommen und Vermögen als gerecht zu klassieren?» Und die Antwort, die das Konzept «Chancengerechtigkeit» gibt, lautet: «Dann, wenn die Chancen gerecht – oder je nachdem: gleich – verteilt sind; die Ergebnisse der Wahrnehmung der Chancen, also die tatsächliche Verteilung, ist dann hinzunehmen.» – Angesichts der Längenrestriktionen für das Interview musste ich folglich zuspitzen und Ergebnisse deutlich umfangreicherer Argumentationen möglichst prägnant in wenige Sätze fassen, was einen dichten Text ergibt, wobei auf wissenschaftliche Fachtermine selbstverständlich zu verzichten ist. Journalisten lieben das. Wissenschaftler bekommen zuweilen etwas Bauchschmerzen. Man muss als Wissenschaftler dahinterstehen können. Und dies kann ich.

Ein paar Tage, nachdem ich das Interview dem Journalisten übersandt hatte, teilte dieser mir Erstaunliches mit: Der Vorstandsvorsitzende des Verbandes (AGEV) lehne es «kategorisch» ab, mein Interview in seinem Mitgliedermagazin zu publizieren. Wie bitte? Dazu unten ein paar Anmerkungen. Hier zunächst das Kurzinterview, das ich durch einige Links, die die Zusammenhänge vertiefen und begründen, ergänzt habe:

1. Was bedeutet für Sie der Begriff «Soziale Gerechtigkeit»?

Wer eine krude marktlibertäre Position á la Hayek vertritt, lehnt diese Begriff von vorn herein ab. Für die Gerechtigkeit reicht es dann aus, dass sich die Leute die Köpfe nicht einschlagen und jeder die gleiche «Chance» hat, an der Wohlstandserzeugung wettbewerbskonform teilzunehmen. Wer im Wettbewerb verliert, dem wird dann gesagt: «Du hattest ja die Chance, aber du hast sie offenbar nicht genutzt.» Diese Position negiert die eigentliche Gerechtigkeitsfrage in einer Marktwirtschaft von vorn herein, nämlich die Frage nach der Fairness bzw. der Leistungsgerechtigkeit der wirtschaftlichen Interaktionsverhältnisse: Wer arbeitet und folglich Leistungsbeiträge zum gesellschaftlichen Wohlstandstopf beisteuert, sei es als Arbeitnehmer oder als Selbstständiger, soll dafür anständig vergütet werden. Zusätzlich bildet die Solidarität mit denjenigen, die keine Leistungsbeiträge beisteuern können, einen wichtigen Grundpfeiler der sozialen Gerechtigkeit.

2. Gibt es in Deutschland zu wenig soziale Gerechtigkeit?

Dank der neoliberalen Hofierung des Kapitals ist das Wachstum der letzten 10-15 Jahre mehr als komplett zu den Beziehern von Vermögenseinkommen gewandert. Die obersten 10 Prozent haben praktisch alle Zuwächse erhalten und etwa 16% an Einkommen hinzubekommen, die unteren 20 Prozent haben etwa 19% verloren. Und natürlich besteht hier ein Zusammenhang, weil Einkommen niemals allein erzielt werden, sondern arbeitsteilig mit anderen und im Wettbewerb auch gegen andere. Man muss ziemlich marktextremistische Positionen vertreten, oder bestimmte Interessen, um diese Umverteilung von unten nach oben als leistungsgerecht zu beurteilen. Zu bedenken ist dabei auch, dass reine Vermögenseinkommen überhaupt keinen Leistungseinsatz erfordern. Auch ist die Lastengerechtigkeit hoch fragwürdig, weil immer mehr Menschen unter teilweise massivem Arbeitsstress leiden.

3. Wie kann die Politik aktuell dafür sorgen, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland gerechter werden?

In einer globalisierten Welt muss sich auch die Politik globalisieren. Ansonsten spielen die Kräfte des Kapitals die Nationalstaaten gegeneinander aus. Das ist die «marktkonforme Demokratie», die nicht erst besteht, seitdem Angela Merkel sie ausgerufen hat. Statt sich beim Kapital immer weiter zu verschulden, muss es wieder anständig besteuert werden. So wie in den Wirtschaftswunderjahren, in denen Spitzensteuersätze von 70% und mehr gang und gäbe waren. Die Wegbesteuerung überschüssiger Vermögensbestände ist ein Schlüssel dafür, um zu einem fairen «Wohlstand für alle» zurückzukehren. Das Kapital befindet sich ja ohnehin im Anlagenotstand. Eben weil zu viel davon angehäuft wurde.

 

Die Ablehnung eines von mir einem Journalisten gegebenen Interviews, für das ich angefragt wurde, durch den Herausgeber des Publikationsorgans ist mir bislang nicht untergekommen. Natürlich ist dies ärgerlich, weil man Zeit investiert hat; und eigentlich ist ein solches Interview, zumal in einer nicht gerade gewichtigen Zeitschrift, auch, und vielleicht vor allem, eine Dienstleitung.

Mehr als ärgerlich, nämlich dreist, ist allerdings die Begründung für diese Ablehnung. Der Vorsitzende meint nämlich, meine Antwort sei als «politisch» damit nicht als «wissenschaftlich» zu klassieren. Dreist ist dies, weil daraus offenbar zu folgern ist, dass seine, ebenso wie die zumindest erahnbare Antwort des INSM-Vertreters, als "objektiv" oder "unparteilich" zu gelten haben.

Jetzt ließe sich natürlich fragen, was denn eine «wissenschaftliche» Antwort sei. Ich vertrete bekanntlich die Ansicht, dass es keine «wertfreie» Ökonomik geben kann. Die Wissenschaftlichkeit kann sich folglich nur darauf erstrecken, wie ethisch reflektiert zum Wirtschaften Stellung bezogen wird. Selbstverständlich reklamiere ich eine solche reflektierte Stellungnahme, also eine solche, für die sich Gründe beibringen lassen (und zwar allgemeine Gründe, nicht bloß persönliche Befindlichkeiten), womit wir den Bereich des wissenschaftlichen Disputs betreten, der in einer solch knappen Stellungnahme sich natürlich nicht durchführen lässt. (Die Grenze der Wissenschaftlichkeit ist m.E. allerdings dann erreicht, wenn der Raum der «Werterhellung» verlassen und zur «Wertentscheidung» übergegangen wird. Jetzt ließe sich natürlich sagen: Mit dem Hinweis auf eine wieder «anständige» Besteuerung des Kapitals habe ich eine Wertentscheidung, also eine Aussage über eine Norm, getroffen. (Was ist zu tun? Statt nur: Wie ist dies zu beurteilen? Welche Gesichtspunkte sind ins Spiel zu bringen?) Meine Aussage ist aber nicht letztlich dies. Sondern: Dass politisch zu erwägen ist, das Kapital gegenüber den Arbeitseinkommen wieder mindestens gleich zu besteuern, was reichlich naheliegend ist. Wenn ich aber derart vorsichtig abwägend zu Werk ginge, freuten sich weder Journalisten noch die nicht-akademische Leserschaft einer Publikumszeitschrift. Vor diesem Hintergrund wäre die Präsentation einer ideologie- und ökonomismuskritischen Sicht gegenüber der angeblich «wissenschaftlich» abgesegneten neoliberalen Sicht, die die bestehenden Machtverhältnisse affirmiert, also nicht "fordern" muss, chancenlos.)

Der Punkt ist doch einfach: Dem Verbandsvorsitzenden passte die von mir vorgetragene Meinung schlicht nicht in seinen politischen (!) Kram. Denn meine Kritik unterläuft ja die Agenda, die die INSM verfolgt (wofür sie sich ja ganz schön ins Zeug gelegt hat) und die offenbar auch der Vorstand dieses kleineren Arbeitgeberverbandes vertritt. Ich frage mich allerdings, ob die 75.000 Mitgliedsfirmen, zumeist offenbar Kleinunternehmer mit nur sehr wenigen Angestellten, es tatsächlich begrüßen würden, von der ideologie- und ökonomismuskritischen Position, wie ich sie vertrete, verschont zu bleiben – was sie nur beurteilen könnten, wenn sie von ihr Kenntnis hätten nehmen können.