16. April 2013
Warum es nicht mal mit Protektionismus versuchen?

Ulrich Thielemann
Kategorie: Kapital, Ökonomisierung

Zur Frage, ob wir den Euro abschaffen und zu nationalen Währungen zurückkehren sollten

 

Das Grafikerteam Markus Läubli und Andrea Münch vom Zürcher Atelier «Weicher Umbruch» hatte eine kühne Idee. In meiner Interpretation: Jetzt reden wir schon so lange über diese Eurokrise und haben uns in dieser verhakt; ist es da nicht an der Zeit, zu den je nationalen Währungen zurückzukehren, auch aus Gründen der Stärkung der je länderspezifischen Eigenheiten? Als Grafiker gingen sie die Sache natürlich grafisch an und entwarfen schon einmal die Geldscheine für die 17 (Noch-) Eurostaaten «für die Zeit nach dem Euro».

Herausgekommen ist ein ganz wunderbarer Band mit heraustrenntbaren Geldscheinen (wäre aber zu schade, das zu tun), die, teilweise hübsch bissig, die Eigenheiten der jeweiligen Länder sozusagen hochoffiziell markieren (sollte sich denn eine re-nationalisierte Notenbank finden, die Grafikvorschläge zu übernehmen, was natürlich nicht sooo schrecklich wahrscheinlich wäre, und zwar nicht wegen mangelnder grafischer Qualität... Man beachte die Niederlande!)

Ich selbst habe einen vielleicht gar «theorielastigen» Beitrag beigesteuert, den ich hier einstelle, was den Erwerb des Buches alles andere als überflüssig macht, denn das Neue Geld (ebenso wie die Beiträge weiterer AutorInnen wie etwa Michèle Roten und Constantin Seibt) gibt es nur hier im großformatigen Buch.

Warum es nicht mal mit Protektionismus versuchen?

1. Grenzenloser oder begrenzter Wettbewerb?


Im Naturzustand, also ohne einen einigermaßen funktionierenden Rechtsstaat, wäre das Leben der Menschen «einsam, armselig, scheußlich, tierisch» und vor allem: «kurz» – so eine der berühmtesten Passagen in Thomas Hobbes «Leviathan» (1651). Man muss weder den Proto-Ökonomismus des Menschenbildes und der Gesellschaftstheorie Hobbes' noch den Absolutismus seines Staatsverständnisses teilen, um hierin eine im Kern tiefe Wahrheit zu erblicken – jedenfalls für Gesellschaftsverhältnisse, die über Kleingruppen hinausgehen. Heute stehen wir vor anderen Alternativen. Nicht vor der Alternative zwischen Rechtsstaat und Anarchie, sondern vor derjenigen zwischen einem grenzenlosen Wettbewerb und einem begrenzten Wettbewerb. Entweder das Leben der Menschen ist hektisch, stressig, angespannt, sorgenvoll, flexibel, effizient und kalkulierend, oder der sich eigendynamisch stetig selbst weiter intensivierende globale Wettbewerb wird irgendwie beschränkt und entschärft.

Auch wenn die traurige Tendenz stimmt, so verhalten sich die Dinge natürlich etwas komplizierter. Denn wer sind «die Menschen»? Einige empfinden ein Leben als dauernde und lebenslange Investition ins eigene «Humankapital» nicht als besorgniserregend, sondern als eine «Herausforderung», der nachzukommen ihnen als Erfüllung ihrer Wünsche erscheint. Ob dies pathologische Wünsche sind, steht dabei auf einem anderen Blatt. Zumal ihr Einkommens- und Karrierestreben keine Privatangelegenheit ist, da es andere dazu nötigt, ihnen zu folgen, so sie nicht auf der Verliererstraße landen und in Armut versinken wollen – über die weitgehend «unsichtbaren» Kanäle des dadurch weiter befeuerten Wettbewerbs nämlich. Auch für einen weiteren Kreis von Personen trifft die Charakterisierung nicht zu. Rentiers (nicht zu verwechseln mit Rentnern, die ihren wohlverdienten Lebensabend genießen, finanziert durch erworbene Anwartschaften im Umlageverfahren) erzielen ihre Kapitaleinkommen definitionsgemäß leistungsfrei, also ganz entspannt, wenn auch heute vielleicht hier und da nicht mehr ganz so sorgenfrei wie ehedem. Das lästige Kalkulieren kann man da ruhig den Private Bankern oder, für die richtig Reichen, dem Family Office überlassen.

Der Wettbewerb ist eine Kraft, die alles in ihren Bann zieht und das gesellschaftliche Leben vollständig ihren Maßstäben unterwirft. Dies zeigt sich ja bereits daran, dass die «Wettbewerbsfähigkeit» – von Personen, Unternehmen, Regionen, Staaten und sogar Staatengemeinschaften – zum alles überragenden Leitbegriff geworden ist. (Sobald ein Politiker, eine Politikerin Regierungsverantwortung übernommen hat, dreht sich alles nur noch darum: die Wettbewerbsfähigkeit des «Standortes». Alle anderen Politikbereiche sind bestenfalls Beilage, wenn sie nicht auch bereits nach eben dieser Maßgabe betrieben werden.) Und niemand fragt: Wieso eigentlich? Und ist das gut? Man fragt nicht, weil «der Wettbewerb» keine Instanz ist, bei der man sich beschweren könnte. Er ist einfach da und kommt über uns wie das «sich» verändernde Wetter, wie eine Naturgewalt. Und wenn man das angenommen hat, fragt man nicht mehr ob, sondern nur noch wie die eigene «Wettbewerbsfähigkeit» zu «verbessern» ist. Womit man natürlich diejenige anderer verschlechtert, so dass diese ihre wiederum verbessern müssen, was unsere wieder verschlechtert, usw. usf.

Natürlich ist «Wettbewerbsfähigkeit» ein Nullsummenspiel: Des einen Wettbewerbsstärke ist des anderen Wettbewerbsschwäche. Und natürlich ist der «unsichtbar» – ja, das ist die «unsichtbare Hand» von Adam Smith – bzw. der instanzlos ablaufende Wettbewerb die Quelle des Wohlstandes, verstanden als äußerliche Güterfülle, der allerdings auch nicht mehr das ist, was er einmal war, nämlich ein einigermaßen fair verteilter Wohlstand für alle. Aber gibt es nicht noch andere Dinge im Leben als mehr Autos, billige Flachbildschirme, das neuste iPad oder «mehr Schlagsahne»? Zumal dieses andere mit noch mehr Gütern durchaus unmittelbar in Konflikt steht. Dieses andere ist nämlich ein Leben, welches nicht bis in seine feinsten Verästelungen durchökonomisiert ist – zumal ein solches einem ohnehin kaum mehr die Zeit lässt zum Genießen all der Dinge, die es da zu kaufen gibt (wenn man es sich denn leisten kann); es sei denn, man ist Rentier, «Investor».

2. «Das Schönste an Europa ist seine Vielfalt»

Vermutlich ist es diese unpersönliche Kraft des Wettbewerbs, die das Leben vereinheitlicht. Der Schriftsteller Eugen Ruge, dessen Lesungen ihn durch zahlreiche europäische Großstädte führen, stellt fest: «Auf den Straßen fahren dieselben Autos wie überall. In den Schaufenstern stehen dieselben Schuhe, die ich mir gerade in Berlin angesehen habe. Die allgegenwärtigen Werbeflächen werben für dieselben Telefone, dieselbe Unterwäsche. Dieselben jungen Frauen fingern nervös auf denselben Smartphones herum. Junge Männer tragen Kopfhörer über Wollmützen. Es gibt überall dieselben Burger, dieselben Pizzabuden. Es gibt Café Latte, es gibt Croissants... Und plötzlich weiß ich für einen Augenblick nicht mehr: Wo bin ich eigentlich?»

Dabei ist «das Schönste an Europa» doch «seine Vielfalt! Es ist einfach wunderbar, dass in 27 Eurostaaten 27 verschiedene Sprachen gesprochen werden, oder sogar mehr! Es ist wunderbar, dass jede Region seine eigene, komplizierte Geschichte hat, seine Lieder, seine Dichter! Dass es verschiedene Klimazonen und verschiedene Landschaften gibt, verschiedene Mentalitäten und verschiedene Geschwindigkeiten, verschiedene Auffassungen darüber, was wichtig, was schön, was lebenswert ist, und ich muss zugeben, dass ich seinerzeit sogar seine verschiedenen Geldscheine schön fand. Ein bisschen unpraktisch, aber schön: die Tausender-Packen der Lire in der Hand zu halten. Man hatte wirklich das Gefühl, im Ausland zu sein.» Spätestens damit bin ich beim Thema.

3. Der Euro verschärft den Wettbewerb

Natürlich haben all die bunten Geldscheine, die man physisch mit sich herumtragen durfte – oder musste –, wenn man vor der Euro-Einführung durch Europa reiste, mit der Euro-Krise oder je nachdem, mit der Zeit, als die mittlerweile 17 EURO-Staaten noch ihre je eigenen Währungen hatten, recht wenig zu tun. Aber durchaus auch. (Gewichtiger als die Bargeldeinführung, die am 1. Januar 2002 bejubelt werden durfte, war die Einführung des Buchgelds und die Festlegung der Umrechnungskurse 3 bzw. 4 Jahre zuvor. Damit bereits setzte die Zinskonvergenz ein.) Nationale Währungen, das bedeutet höhere Hürden bei der Vergleichbarkeit von Waren, vor allem aber Unsicherheit bei den Investoren. Diese könnten ja auch für das Ausland, also den Export, investieren; oder gleich in diesem investieren bzw. ihr Geld dort anlegen und das im Inland angesammelte Kapital exportieren. Bei schwankenden Wechselkursen aber wissen sie nicht, ob sich ihre Investition auszahlt. Das von den Euro-Architekten ins Feld geführte Argument, dass man beim Reisen durch Europa nun nicht mehr ständig und zu hohen Gebühren Geld umtauschen müsse, ist natürlich albern und sollte nur die Akzeptanz der Normalbürger sicherstellen – über eine Sache, die in ihrem Erfahrungshorizont liegt. Die eigentlich bedeutsamen Zusammenhänge sind halt schwieriger zu verstehen.

Durch die Einführung des Euro sanken die sog. «Transaktionskosten». Weniger Kosten für «Transaktionen» heißt mehr Transaktionen, mehr Güter- und Leistungsaustausch. Und das ist doch eigentlich immer ein «Vorteil», nicht wahr, für alle selbstverständlich. Die Standardsicht finden wir knapp zusammengefasst in einem Beitrag der Sparkassen Zeitung: «Das Wechselkursrisiko fällt weg, Unternehmen müssen keine Devisen mehr vorhalten, die Kosten des Geldwechselns entfallen ebenfalls, zudem lassen sich die Preise besser vergleichen. Dies alles führt zu einer Intensivierung des Handels und folglich auch zu mehr Wohlstand.»

Halt. Da fehlt noch ein Zwischenschritt bevor wir zum angeblichen «Wohlstand» – gemeint ist offenbar: für alle – kommen könnten. Mehr «Handel», mehr «Transaktionen», das bedeutet zunächst einmal mehr Wettbewerb. Und der Wettbewerb ist ein Prozess «schöpferischer Zerstörung» (Joseph A. Schumpeter), schafft also Gewinner und Verlierer, und er führt zur Ökonomisierung der Lebensverhältnisse. (Vgl. auch System Error, S. 41 ff.) Das verschweigen uns die Ökonomen. Oder sie tun so, als spiele sich der Wettbewerb irgendwo anders, sei es in Modellen oder allein zwischen «Unternehmen» ab – in denen offenbar keine Menschen arbeiten. So etwa in einer Lobeshymne der deutschen Bundesregierung auf den Euro. Die durch den einheitlichen Währungsraum erhöhte «Preistransparenz steigert den innereuropäischen Handel und führt zu mehr Wettbewerb», was offenbar fraglos ein «Vorteil für Verbraucher» sei. Dass diese «Verbraucher», Normalbürger also, «mehr Wettbewerb» als Bedrohung empfinden könnten (weil sie wissen, dass letztlich sie, als Beschäftigte nämlich, unter Wettbewerbsdruck geraten), kommt den marktgläubigen ökonomischen Experten (es gibt kaum andere), die für die Bundesregierung solche Texte verfassen, gar nicht erst in den Sinn. Und weiter: «So können Unternehmen die Vorteile des europäischen Binnenmarktes in Gänze ausschöpfen. Der daraus resultierende europaweite Wettbewerb kommt allen Menschen zugute.» – Solange sie diesem nicht selbst unterworfen sind, müsste natürlich hinzugefügt werden.

Für einige Bürger, die die Bundesregierung ebenfalls zu den «Verbraucherinnen und Verbrauchern» zählt, mag dies tatsächlich zutreffen. Für diese nämlich gebe es durch die gesunkenen «Transaktionskosten … viel mehr Anlagemöglichkeiten, die in der gesamten EU genutzt werden können.» Und die von den Rentiers ja auch genutzt wurden.

4. Der Euro macht die Krise

Der Euro und der durch ihn verschärfte Wettbewerb innerhalb des Euroraums war vor allem ein Geschenk an die Investoren, ans Kapital, vor allem ans deutsche Kapital. Davon gab es schon damals zu viel, was sich in «Anlagenotständen» zeigt. Denn die Kapitaleinkommen, so sie nicht illusionär sind, müssen ja aus realwirtschaftlicher Wertschöpfung abgezweigt werden – und fallen dann als Gewinne, Dividenden oder Zinsen an. Wertschöpfung aber betreiben definitionsgemäß nur Beschäftigte. Und wenn deren Einkommen sinken, fehlt ihnen das Geld, um all die schönen Dinge zu kaufen, die mit Hilfe der Investoren produziert wurden und aus deren Absatz die Gewinne finanziert werden.

Mit der Einführung des Euro floh zunächst das Kapital ins Ausland, vor allem in den neu geschaffenen Euroraum – also etwa nach Italien, Spanien, Griechenland. Sagenhafte 2/3 der zwischen 2002 und 2010 in Deutschland angefallenen «Ersparnisse» (das sind Einkommensbestandteile, seien es Gewinne oder Arbeitseinkommen, die nicht konsumiert werden, weil die Leute sie aktuell nicht zum Leben brauchen) flossen als Kapitalexport ins Ausland. Weil man ja sicher sein konnte oder sich sicher wähnte, dass die in den Südländern von nun ab geltende Währung nicht mehr an Wert verlieren würde und in Deutschland, wegen der überproportional tiefen Arbeitseinkommen, kaum mehr Gewinne zu erwarten waren (schwache Binnennachfrage). In den Südländern wurden damit dann massenhaft Häuser gebaut (in Spanien) oder, pars pro toto, Porsche Cayennes gekauft (in Griechenland). Auf Pump. Nur konnten die Beschäftigten der Südländer diese Kredite letztlich nicht bedienen. Das ist die manifeste Ursache der Eurokrise, aber nicht ihr Kern.

Der Kern ist das überschüssige Kapital. Davon wurde noch mehr produziert. (Das ist das Muster jeder Krisenbewältigung, auch heute. Das neu gedruckte Helikoptergeld etwa, welches die EZB Billionenfach über der Wirtschaft abwirft, kommt ja als Kapital auf die Welt, und es beschert den Banken wunderbare, d.h. leistungslose windfall profits.) Zum einen durch die Agenda 2010 und den damit geschaffenen Niedriglohnsektor, den eine zum Neoliberalismus bekehrte Sozialdemokratie durchsetzte, da, so formulierte es Hans-Werner Sinn, «das Unternehmerkapital» zu «hofieren» sei, weil nur so die benötigten Arbeitsplätze geschaffen würden. – Wie antwortete noch Maggie Thatcher auf die Frage nach ihrem bedeutendsten Erfolg? New Labour! – Es wurden dann auch mehr Arbeitsplätze geschaffen. Aber tiefer vergütete. Das Ergebnis ist, dass das gesamte Wachstum der letzten 10, wenn nicht sogar der letzten 20 Jahre in Deutschland zum Kapital wanderte.

Damit sind wir schon bei einer zweiten Ursache des Kapitalzuwachses bzw. der Gewinnsteigerungen. Denn durch die tieferen Löhne konnten die Südländer mit vergleichsweise billigen Waren höchster Qualität «Made in Germany» versorgt bzw. überschüttet werden. Nach der Einführung des Euro explodierten die Exporte Deutschlands förmlich. Vor allem in die Eurozone natürlich. (Heute werden die Besserverdienenden Chinas mit BMWs beliefert, da die Nachfrager aus den Südländern ja nicht mehr zahlen können und eigentlich noch nie vollumfänglich gezahlt haben, weshalb der deutsche Durchschnittssteuerzahler ja für die Gewinne aufzukommen hat, die die deutsche Exportindustrie eigentlich gar nie eingefahren hat, was sich als «Marktwirtschaft grotesk» fassen lässt.) Weil sich die an sich hoch kompetitive deutsche Exportwirtschaft überdies hinter den weniger kompetitiven «Weichwährungsräumen» der Südländer in Sachen Währung verstecken konnte und die für Deutschland geltende Währung also nicht immer weiter aufgewertet wurde, konnte ebenfalls billiger als unter den vorherigen Bedingungen exportiert werden. Das ist das Geschäftsmodell des Euro, von dem vor allem die deutsche Exportindustrie profitierte.

Beides zusammengenommen bedeutet, dass die Südländer kaputtkonkurriert wurden. Zunächst hat es keiner gemerkt, weil der Kapitalimport (aus Deutschland) ja unmittelbar bedeutete, dass die Leute Geld in der Tasche hatten. Und mit diesem konnten sie dann Porsche Cayennes oder Häuser kaufen. Und die Hausbauer, also Handwerker, Architekten usw., haben natürlich auch verdient. Und wiederum Geld ausgegeben. Die Binnenwirtschaften der Südländer boomten. Aber eben zu guten Teilen auf Pump. D.h. die Beschäftigten der Südländer – oder der sog. GIIPSZ-Staaten, zu denen neben «Südländern» wie Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Zypern auch Irland zählt – verdienten zu wenig Geld, um die in- und ausländischen Gläubiger, denen sie über komplexe Formen schuldrechtlich verpflichtet waren und immer noch sind, zu bedienen.

5. Worin besteht eigentlich die Krise?

Könnte die Rückkehr zu je nationalen Währungen einen Ausweg aus der Krise bieten? Dazu muss man zunächst wissen, worin genau die Krise besteht. Krise, ebenso wie «Problem», ist ein normativer, ein ethischer Begriff: Da ist etwas schief gelaufen. Aber was? Darüber bestehen unterschiedliche und durchaus konträre Ansichten. Allerdings wird die Kontroverse kaum je offen geführt, vor allem, weil die komplexen marktwettbewerblichen Wirkungsgeflechte, in die wir uns verstrickt haben oder haben verstricken lassen, kaum je angemessen verstanden werden. (Den Schlüssel dazu bietet das Konzept «schöpferischer Zerstörung».) Einigkeit besteht lediglich über einige Krisensymptome, vor allem die massiv gestiegene Arbeitslosigkeit, die Kapitalflucht und auch die steigenden Zinsen, die die GIIPSZ-Staaten für ihre Staatsanleihen aufzubringen haben (oder hatten).

Für die Neoliberalen, die, da sie das Heer der ökonomisch ausgebildeten oder je nachdem: der ökonomistisch verbildeten Experten stellen, das Sagen haben und den Mainstream der Politik bestimmen, ist die Krise dann bewältigt, wenn die messbaren Krisensymptome beseitigt werden konnten, und die Losung dafür lautet: Die internationale Wettbewerbsfähigkeit ist wieder oder überhaupt erst herzustellen. Und diese werde hergestellt, wenn das Kapital (welches «die Märkte» genannt wird) wieder darauf «vertrauen» kann, dass die Renditen fließen werden und sich das Investieren lohnt. Dieses lohnt sich, wenn die Kosten, und d.h. vor allem: die Einkommen der Beschäftigten, sinken. Es müsse jetzt überall in Europa «Rosskuren» geben, hatte Hans-Werner Sinn im September 2011 gefordert. Vorbild ist Deutschland mit der Agenda 2010. Hartz IV für alle, so lautet die «Lösung», die die Troika aus EU Kommission, EZB und IWF durchgedrückt hat. Sie nennen es einfach «Reformen», da die Sachzwänge ja ohnehin «objektiv» diktierten, was zu tun sei: Mindestlöhne und Arbeitslosenhilfen senken, den Kündigungsschutz lockern, überhaupt Arbeitnehmerrechte abbauen, Arbeitszeiten verlängern, Bildung auf Humankapitalbildung umstellen, insgesamt: dafür sorgen, dass «die Disziplinierung [der Bürger] durch den Markt nicht ausgehebelt wird», so Lars Feld, einer der von der Bundesregierung installierten sog. «Wirtschaftsweisen».

Die beinahe einzigen Kritiker aus dem Kreise der ökonomischen Experten, die im öffentlichen Raum Gehör finden, sind die Mainstream-Keynesianer, die zu Recht einwenden, dass diese Austeritätspolitik nicht im Sinne ihrer Erfinder funktioniert und diesbezüglich sogar kontraproduktiv ist. Verschuldungsgrade sinken nicht, sondern steigen. Im Kern verweisen sie, ohne dies allerdings zu wissen, auf die zerstörerische Seite des Wettbewerbs und dabei darauf, dass dieser die Beschäftigten faktisch überfordert: «Wer soll das alles kaufen? Wer soll das Kapital bedienen, wenn die Löhne überall gesenkt werden?» Produzenten bzw. Beschäftigte sind eben auch Konsumenten; und Konsumenten müssen Produzenten sein, sonst haben sie kein Geld zum Kaufen. Das ist der schlichte makroökonomische, kreislauftheoretische Kern der Keynesianischen Unterkonsumtionstheorie.

Die zynische Antwort hierauf lautet: Dann kaufen wir es eben selbst. «Wir», das sind dann die Rentiers, die One Percent. Dies ist das Modell «Plutonomie», das die Analysten der Citibank bereits 2005 vorgeschlagen hatten. Wenn doch die Rentiers für sich immer größere Anteile aus der Wertschöpfung abzweigen – weil ja das Kapital überall «hofiert» wird, wäre zu ergänzen – und das Kapital so in den Anlagenotstand gerät, weil sich ja immer weniger Normalbürger finden, die in der Lage sind, all die durch Investitionen angestoßenen Produkte zu kaufen, dann lasst sie uns Rentiers doch einfach selbst kaufen. Da dies allerdings nicht unbedingt die Produkte sind, die Superreiche üblicherweise konsumieren, lautet die Losung: Lasst uns die Investitionen in die Luxusproduktion lenken. «Buying Luxury, Explaining Global Imbalance», so lautete dann auch der Titel der Studie. Und sogleich wurden auch sog. «Plutonomy-Baskets» aufgelegt, also Investitionsvehikel für die Luxusindustrie. Man denke an Porsches und BMWs, Modelabel, Yachten, Luxusimmobilien, Schweizer Uhren und Schweizer Privatbanken. Genau darauf laufen die Vorschläge der Standardökonomen letztlich hinaus. Natürlich sagen sie dies nicht offen. Doch zuweilen verraten sie sich. So etwa Hans-Werner Sinn. Wenn die Löhne sinken, was sie ihm zufolge ja sollen, dann «leidet darunter doch nicht der Absatz. Die Reichen können mehr kaufen, die Armen weniger. Aber die Nachfrage fehlt deshalb nicht.» Krise bewältigt.

Auch Mainstream-Keynesianer müssten dies eigentlich so sehen. Denn die Wertschöpfungskreisläufe würden so eben durch Luxuskonsum geschlossen. Doch dürfte ihnen der Neofeudalismus eines solchen Wohlstands für wenige nicht behagen. (Natürlich sind die Differenzen in den Theorien letztlich nicht einfach empirischer, sondern normativer Natur.) Abgesehen davon schlagen sie eine andere Kur als die Rosskur vor, nämlich «deficit spending», also die Ausweitung der bestehenden Staatsverschuldung, einschließlich ihrer Absicherung durch Bürgschaften. (Kritisch jenseits neoliberaler Kapitalhofierung Michael Hudson.) Denn nur ein staatlich vermittelter Konsum könne die Wertschöpfungskreisläufe schließen. Auch dies ist, wie jede Verschuldung, «Hofierung» des Kapitals. Denn statt den staatlichen Ausgabenbedarf durch die Besteuerung vor allem auch des Kapitals zu decken, verschuldet man sich bei ihm. Die Folge ist: Die Wirtschaft muss wachsen, um die Schulden irgendwann zurückzuzahlen. Bei Staatsverschuldungsständen, die in die Nähe ganzer Jahreswirtschaftsleistungen geraten sind (in Japan sind es zwei), ist dies nicht nur reichlich unwahrscheinlich. Auch wird so der «zerstörerische» Wettbewerbsmotor einfach als gegeben bzw. seine «Ankurbelung» als fraglos wünschenswert angesehen.

6. Rückkehr zu nationalen Währungen?

Eine Rückkehr zu nationalen Währungen könnte insofern einen Ausweg bieten. Dies würde bedeuten: höhere Transaktionskosten, weniger Transaktionen und folglich weniger Wettbewerb und weniger Wettbewerbsdruck. Vermehrt würden inländische statt ausländische Waren gekauft und folglich auch verkauft. Man geht, um irgendein Beispiel zu wählen, für den Kaffee ins Café um die Ecke statt zu einer der internationalen Ketten. Die Bürger der Länder würden ihre eigene Wirtschaft nicht dadurch zerstören, dass sie, als Konsumenten, ihre Mitbürger, in deren Eigenschaft als Produzenten, auf die Straße setzen, weil sie ihre Produkte nicht mehr kaufen, sondern ausländische, weil diese als «besser» gelten oder weil sie billiger sind. Natürlich wäre es nicht unmöglich dies zu tun, aber doch irgendwie weniger naheliegend als dann, wenn im Kontinent mehr oder weniger flächendeckend die gleiche Währung installiert wäre. Eine Volkswirtschaft – ja, so nannte man das doch einmal – hätte noch ein spezifisch kulturell (oder «national»?) bestimmtes Gepräge, wäre auch Ausdruck einer Kultur und damit bestimmt nicht allein von marktökonomischen Vorteilsgesichtspunkten. Wirtschaftssoziologen nennen dies eine «eingebettete» Wirtschaft. Das Wirtschaften liefe vielleicht etwas gemächlicher ab. Es gäbe weniger «Innovationen», damit aber auch weniger «Zerstörung», von Arbeitsplätzen nämlich. Man hätte mehr Zeit für andere Dinge im Leben als allein dafür, sich wettbewerblich «fit» zu halten.

Ein Traum? Oder ein Alptraum? – Eigentlich wäre dies eine Frage, die politisch, in freier demokratischer Deliberation, zu klären wäre. Doch haben «die Märkte» bereits eine Vorentscheidung getroffen. Oder war es die Politik, die den Euro einführte? Jedenfalls gehen so ziemlich alle Studien, die den Zusammenbruch der Eurozone hypothetisch untersuchen, dahin, dass dieser, selbst wenn das Ende des Euro und damit die Rückkehr zu nationalen Währungen irgendwie kontrolliert abliefe, für alle (!) Beteiligten geradezu katastrophale Folgen hätte. Überall in Europa würde die Produktion um etwa 10% einbrechen, die Arbeitslosenquoten würden nach oben schnellen und die Endverbraucherpreise steigen. So jedenfalls hält der Spiegel fest, der sich dabei auf eine unveröffentlichte Studie des Bundesfinanzministeriums beruft. (Langfassung nur in Englisch verfügbar.) Warum dies so ist – wenn es so ist – ist leicht verständlich, denn mit der Euroeinführung haben sich innerhalb der Eurozone bestimmte Abhängigkeiten herausgebildet. Und wenn diese aufgelöst werden, dann sind die «zerstörerischen» Wirkungen im Kern die gleichen wie im Falle des Wettbewerbs. Nur passierte es nun auf einen Schlag und wäre politisch (statt wettbewerblich) in Gang gesetzt: Zahlungen werden eingestellt, Arbeitslosigkeit ist die Folge, woraus sich weitere Einbrüche von Zahlungsströmen ergeben; eine Abwärtsspirale setzt ein.

Natürlich ließen sich diese Szenarien bezweifeln. Ist es nicht vielleicht naheliegend, dass das Bundesfinanzministerium die deutsche Exportindustrie – und d.h. letztlich: das hinter ihr stehende Kapital – genau so hofiert wie bislang auch? Denn vor allem deren Absatzmärkte würden ja einbrechen. Vielleicht wäre die Rückkehr zu nationalen Währungen ja ein Ende mit Schrecken statt ein Schrecken ohne Ende – und der Einstieg in einen guten Neuanfang: eine gemäßigter ablaufende, kulturell stärker eingebettete Wirtschaft. Was etwa bedeuten würde: weniger Hektik und Stress. (Nach einer global durchgeführten Umfrage des Bürodienstleisters Regus vom Oktober 2012 gaben 48% der Befragten an, dass ihr Job allein im letzten Jahr stressiger geworden ist. Die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz stellt fest: «Die Veränderungen der Arbeitswelt», die offenbar wie das Wetter über uns kommen, «stellen erhöhte Anforderungen an die Arbeitnehmer. Stellenabbau und Auslagerungen fordern eine größere Flexibilität hinsichtlich der Funktionen und Fähigkeiten, was zu einem vermehrten Einsatz von zeitlich befristeten Verträgen, zu höherer Arbeitsplatzunsicherheit und Arbeitsintensivierung (mit einer höheren Arbeitslast und mehr Druck) sowie einer schlechten Ausgewogenheit zwischen Arbeits‐ und Privatleben führt.» Daher «wird die Anzahl der Arbeitnehmer, die unter arbeitsbedingtem Stress leiden, wahrscheinlich weiter steigen.» Aus dem Munde einer EU-Agentur, die ihre Aufgabe allein darin sieht, den angeblichen Sachzwang zu verwalten – durch Stressmanagement nämlich –, klingt dies reichlich zynisch, da diese «Veränderungen» ja gerade von der EU-Politik zumindest mitverursacht wurden, nämlich von der Lissabon-Strategie, durch die die EU zum «wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt» zu machen sei, und auch durch die Einführung des Euro.) Dies wäre dann auch eine Wirtschaft mit nicht gar so steilen Einkommensdifferenzen (die ohnehin kaum als leistungsgerecht zu beurteilen sind). Denn wenn der Marktraum kleiner ist, sind es auch die Gewinne derjenigen, die sich an die Spitze von Massenproduktionen setzen. (Denn nur so, nicht von ein paar Kunden allein, kann man ja reich werden.)

7. Schlechter und guter Protektionismus

Die Rückkehr zu nationalen Währungen wäre im Prinzip ein protektionistischer Akt. Ist es nicht erstaunlich, dass dieser Begriff zum Schimpfwort geworden ist, so dass sich niemand mehr traut, ihn zu verwenden? Wer sich gegen unbegrenzt «offene Märkte» ausspricht, der wird sofort des «Protektionismus» überführt und soll gesellschaftlich geächtet werden. Protektion heißt aber doch einfach: Schutz. Und Schutz ist der Inbegriff allen Rechts. Nur dürfe es niemals einen Schutz vor den Kräften des Wettbewerbs geben (in dem die Wettbewerbsfähigen und -willigen und das Kapital das Sagen haben). Das ist der Wunschtraum aller Marktlibertären. Denn damit kann erfolgreich das Bild der Alternativlosigkeit gezeichnet werden: Entweder der Wettbewerb herrsche unbeschränkt oder gar keiner und damit gäbe es auch keine Marktwirtschaft. (Übrigens ist jede Regulierung «protektionistisch», es sei denn, sie ist neoliberaler Natur, dient also der Beförderung des Wettbewerbs. Vgl. Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept, S. 278-290) Und es ist der Wunschtraum der Rentiers, die nicht nur faktisch die Macht haben (das bedeutet die «marktkonforme Demokratie»), sondern sich auch moralisch im Recht meinen wähnen zu dürfen. Macht und Recht werden eins. Der eigendynamischen Selbstverschärfung des Wettbewerbs und der daraus folgenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche in allen erdenklichen Hinsichten – denn alle Dimensionen des Lebens sind für die Wettbewerbsfähigkeit relevant und daher für sie in Dienst zu nehmen – dürfte niemals Einhalt gegeben werden. Nach den «moralischen Grenzen des Marktes» zu fragen, so wie jüngst der Philosoph Michael Sandel (der damit endlich die Lähmung der Philosophie nach mindestens 30 Jahren intellektueller Vorherrschaft des Ökonomismus überwindet), wäre demnach ein von vorn herein moralisch aussichtsloses Unterfangen.

Die Plausibilität der Abweisung jedes Protektionismus ergibt sich daraus, dass jede Befreiung vom Druck des Wettbewerbs zugleich bestehende marktökonomische Abhängigkeiten kappt. Dies führt in ökonomische Katastrophen, zumindest in Schwierigkeiten. Man denke an die Politik der frühen 1930er Jahre, bei der die Amerikaner (durch den Smoot-Hawley Tariff Act) Schutzzölle einführten, was die Umsätze ausländischer Exportunternehmen einbrechen ließ und diese Staaten veranlasste, ihrerseits Importzölle zu erheben, um den inländischen Einkommensausfall zu kompensieren, was wiederum Einkommensausfälle für die US-amerikanische Wirtschaft zur Folge hatte.

Um die globale Wettbewerbsmaschinerie zu verlangsamen (von der die europäische nur ein Teil ist), müsste man ursächlicher ansetzen – also so, dass marktökonomische Abhängigkeiten gar nicht erst aufgebaut werden. Oder behutsamer. Und auf jeden Fall nicht unilateral, sondern multilateral. Die Welt würde den Wirtschaftskrieg, in dem sie faktisch steht (dies zeigt das Mantra der «Steigerung unserer Wettbewerbsfähigkeit» praktisch aller amtierenden Politiker, vor allem aber der EU-Bürokratie), teilweise beenden und eine Art wettbewerbliches Waffenstillstandsabkommen in bestimmten Hinsichten beschließen. Dies wäre «protektionistisch», aber es wäre ein universalistischer, kein partikularistischer (oder «nationalistischer») Protektionismus.

Der Weg dahin ist weit und steinig. Dies nicht nur wegen der machtvollen Widerstände (deren Aufbau die Rentiers, etwa die Koch-Brüder in den USA, aus der Portokasse finanzieren können), sondern auch und vor allem, weil der explizite und der implizite Ökonomismus (letzerer ist bloß ein verharmlosendes Unwissen) noch überall in den Köpfen steckt. Wer in Politik oder Unternehmen wirtschaftlich relevante Entscheidungen zu treffen hat (oder in Wirtschaftsredaktionen diese kommentiert), der hat in der Regel die ökonomistische «Gehirnwäsche» durchlaufen, in der das Ökonomiestudium heute zumeist besteht. Der 2009 verstorbene Bestsellerautor eines volkswirtschaftlichen Standardlehrbuchs, Paul Samuelson, meinte, ihm sei es egal, «wer die Gesetze eines Landes schreibt oder die Staatsverträge ausarbeitet, solange ich seine volkswirtschaftlichen Lehrbücher schreiben kann.» Samuelson hat Recht. Die Macht der Ökonomen ist immens – wovon sich «practical men» (Keynes) in der Regel keine Vorstellungen machen. Nicht nur, weil sie Weltbilder breitenwirksam prägen und zur Ökonomisierung des Denkens beitragen. Sondern auch, weil sie die ökonomischen Experten ausbilden. Wir brauchen diese Expertisen. Um die komplexen Abhängigkeiten zu ergründen, in die wir uns durch Markt und Wettbewerb gesetzt haben. Damit wir bei der Regulierung des Wirtschaftens – hin zu einer gemäßigten, eingebetteten, dem guten Leben und dem fairen Zusammenleben dienenden Wirtschaft – keine Katastrophen erzeugen. Doch sind die Expertisen in der Regel ökonomistisch fehlgeleitet oder verkürzt. Das ist das Problem.

8. Eine global koordinierte Kapitalbesteuerung als eine Art Waffenstillstandsabkommen

Was ich allerdings auf dem Stand meiner Expertise, jenseits möglicher währungspolitischer Abenteuer, meine sagen zu können, ist Folgendes: Durch das «Hofieren» des Kapitals seit der neoliberalen Wende (die Anfang der 1980er Jahre begann) haben sich Vermögensbestände gigantischen Ausmaßes aufgetürmt. Um hierin ein Problem zu erblicken, muss man nicht unbedingt die volkswirtschaftliche Rolle, die das Kapital im Wettbewerb spielt, verstanden haben (es ist nämlich nicht der «Diener», sondern die «Peitsche» der Realwirtschaft), wiewohl dies hilfreich ist. Seit 1980 bis heute haben sich die nominalen Vermögensbestände gegenüber dem Wachstum des Welt-BIP verdreifacht, in den OECD-Staaten verdoppelt. Um den gleichen Faktor stieg natürlich auch die Finanzschuld, d.h. der Schuldendienst, den definitionsgemäß realwirtschaftliche Akteure, also abhängig oder selbstständig Beschäftigte, zu erbringen haben. Wenn man den McKinsey-Studien Glauben schenken darf, so müsste die Welt heute dreieinhalb Jahre vollständig fürs Kapital arbeiten, um den Schuldenberg abzubauen. 1980 war es noch nur ein Jahr. Plutonomy hin oder her: Diese Schulden werden niemals zurückgezahlt. Dies wäre nicht nur mit Blick auf den Stress, sondern auch mit Blick auf die Umwelt untragbar. Um welche Raten sollte die Weltwirtschaft denn bitte wachsen, um dies bewerkstelligen zu können – abgesehen davon, dass dies krass ungerecht wäre? Und dabei dürften die Rentiers die Gewinne nur in unterproportionalem Maße reinvestieren (sie müssten diese also vor allem verkonsumieren – das wäre die Plutonomy), weil nur dann der Verschuldungsgrad in Relation zum BIP sinken würde.

Die Boston Consulting Group beziffert die Schuldentraglast einer Volkswirtschaft auf 180% ihres Bruttoinlandproduktes, je 60% für Unternehmens-, Privat- und Staatsschulden. (Der IMF übrigens auf «nur» 100%. Yanis Varoufakis [S. 15] findet diesen Schuldenstand von 1980 «bereits beachtlich».) Griechenland (S. 7) hat eine Schuldenlast von etwa 262% des BIP, Deutschland von etwa 241%. Erforderlich, so die BCG, seien «drastische Maßnahmen», nämlich in Form des «Ausradierens des Schuldenüberhangs», sei es durch Abschreibungen oder durch die Wegbesteuerung von Vermögensbeständen. Hierbei handelt es sich ja ohnehin zu guten Teilen um Phantomvermögen, da sie niemand mehr wird bedienen können. Wobei die eigentliche Frage natürlich ist, ob sie bedient werden sollen. Dies ist eine politische Frage, eine Gerechtigkeitsfrage nach dem guten Leben sowie danach, wieweit die Rentiers den Rest zum Kapitaldienst zwingen dürfen. (Sie tun es, wie gesagt, über weitgehend «unsichtbare», d.h. für den Laien nicht unmittelbar einsichtige Kanäle. Man kann diese Zusammenhänge nicht erfahren, nicht sehen, sondern nur theoretisch erschließen.)

Es bedürfte endlich wieder einer angemessenen Besteuerung des Kapitals. Aus Gründen der (Leistungs-)Gerechtigkeit unmittelbar und um den Wettbewerbsdruck zu entschärfen. «Wieder»? Ja, die Spitzensteuersätze (die vor allem Kapitaleinkommen betreffen) lagen praktisch überall in der Nachkriegszeit deutlich höher als heute – in Größenordnungen von 70% selbst in den USA bis 1980. Und dies, obwohl doch die Rentiers deutlich weniger reich waren als heute (es muss für sie doch viel schmerzhafter gewesen sein) und obwohl doch damals, in Zeiten hoher Wachstumsraten, der Kapitalbedarf eigentlich viel höher war als heute. Paradox eigentlich.

Auch und gerade für die Kapitalbesteuerung bedürfte es einer globalen Koordination. Nicht nur wegen solch grobschlächtiger Geschütze wie Bankgeheimnis und unterlassenem Informationsaustausch. Sondern auch und vor allem weil die Länder – und sogar Staatengemeinschaften wie die EU – die Kapitalbestände im eigenen Land behalten wollen, da sie dort Arbeitsplätze schaffen (das ist natürlich tatsächlich ihre Wirkung, auch wenn besonders gierige Investoren gerne die Strategie Kosten- bzw. Lohnsenkung plus Arbeitsverdichtung installiert sehen möchten). Sie wollen das Kapital im Land behalten und weiteres anlocken, um anderen Ländern qua gesteigerter «Wettbewerbsfähigkeit» Arbeitsplätze und Einkommensströme abspenstig zu machen. Darum die überall installierte Minderbesteuerung (S. 25, 34) von Kapitaleinkommen und hohen Einkommen (die natürlich in der Regel Kapitaleinkommen sind).

Eine Strategie der Wiederbesteuerung von Kapitaleinkommen, die global koordiniert zu erfolgen hätte, entspräche einer Art globalem wettbewerblichen Waffenstillstandsabkommen. Katastrophen wie die oben beschriebenen wären dabei nicht zu erwarten. Dies würde den Wettbewerbsdruck an der Quelle verringern. Es wäre also ein «protektionistischer» Akt. Und dabei würde auch dafür gesorgt, dass weniger weitgehend ökonomische Abhängigkeiten geschaffen werden, aus denen man sich nur schwer wieder befreien kann. Danach könnte man vielleicht darüber nachdenken, ob man irgendwie zu nationalen Währungen zurückkommen möchte.