Warum eigentlich sind Neoliberale für «Haircuts»?
Ulrich Thielemann
Kategorie: Orientierungen, Kapital
Warum eigentlich sind zumindest einige neoklassische oder Mainstream-Ökonomen, jedenfalls solche, die sich nicht einer Schule zurechnen (als gäbe es eine paradigmafreie Ökonomik an sich), im Unterschied zu vielen keynesianisch geprägten Ökonomen, für den Haircut bzw. gegen Bail-outs, das «Herausschlagen» der Investoren durch Übernahme ihrer «Risiken»? (Vgl. etwa Plenum der Ökonomen, Harald Hau und Bernd Lucke, Kunibert Raffer, Hans-Werner Sinn und der Sachverständigenrat.) Sie erscheinen damit wie Verbündete der Occupy-Bewegung, die mit dem Slogan aufwartet: «Wir zahlen nicht für Eure Krise»? (Die Gemeinsamkeiten haben aber sogleich wieder ein Ende, wenn Anhänger der Occupy-Bewegung zur Lösung des Überschuldungsproblems der Staaten eine höhere Besteuerung insbesondere des Kapitals fordern, neoklassische Ökonomen hingegen für eine Austeritätspolitik votieren («Sparen», «Den-Gürtel-enger-Schnallen», «Rosskur») und Keynesianer für noch mehr Staatsverschuldung bzw. deren Absicherung oder für Eurobonds, weil sie mit einiger Plausibilität darauf verweisen, dass die Austeritätspolitik nicht zum gewünschten Wachstum, sondern in die Rezession führt, was nichts anderes als die Überforderung der Beschäftigten bzw. der Volkswirtschaften markiert, dem Wettbewerbs- und Renditedruck zu entsprechen. – Dies ist hier aber nicht mein Thema.)
Moralische Empörung?
Im Votum dieser Ökonomen für die Gläubigerbeteiligung, die Umschuldung, den «Haircut» mag sich echte Empörung über die Geiselhaft bzw. die «Erpressbarkeit» der Staaten und ihrer Bürger (soweit sie nicht selbst Rentiers sind) aussprechen, die ausgerechnet von einem Personenkreis faktisch betrieben werde, der weit überdurchschnittliche Wertschöpfungs- oder wohl besser: Abschöpfungserfolge zu verzeichnen hat. Dann allerdings lief das Votum für den Haircut auf einen Paradigmawechsel hinaus, nämlich weg vom Ökonomismus und hin zu einer ethisch-reflektierten Ökonomik. (Damit ist nicht gesagt, dass die Überwindung des Ökonomismus zwingend auf einem Abbau der Kapitalbestände hinauslaufen müsste – wiewohl dies m.E. heute ethisch (!) alternativlos ist. Vielmehr passt dann die Begründung für den Haircut nicht ins ökonomistische bzw. «neoklassische» Programm.)
Positivistische Ökonomik
Auch wenn es für einen solchen Paradigmawechsel durchaus Andeutungen gibt, so scheint mir die Antwort auf die obigen Frage im Kern die gleiche zu sein wie diejenige auf die Frage, warum neoklassische Ökonomen in der Regel die Löhne für zu hoch erachten, aber niemals die Gewinne, worauf meines Wissens erstmals Siegried Katterle (Quelle hier) vor vielen Jahren hingewiesen hat. Dahinter verbirgt sich eine naturalistische bzw. positivistische Sicht, die den Kern des neoklassischen Paradigmas ausmacht und die dem integrativ-ethischen Paradigma (einer menschlichen Marktwirtschaft) genau gegengelagert ist.
Diese Ökonomen sehen ihre Aufgabe darin, die Marktmachtverhältnisse «objektiv» und «exakt» abzubilden. (Natürlich sprechen sie dabei nicht von Macht.) Im wettbewerblichen Marktraum ereignen «sich» Dinge (was sich mathematisch abbilden lässt), aber es sind nicht Individuen, die in Interaktion treten oder, mit Blick auf den Wettbewerb, die in Interaktionsbeziehungen stehen. Die Akteure adressieren aus dieser Sicht also an sich wechselseitig keine Ansprüche (die legitim oder illegitim sein könnten), sondern verfolgen, jeder für sich, Interessen, und zwar im nicht von Menschen, sondern etwa von Preisbewegungen bestimmten Marktraum, der nach einer eigenlogischen, quasi-natürlichen Maßgabe funktioniert, nämlich nach der des «Marktmechanismus».
Interpersonalität vs. Interobjektivität
Die Bail-outs, die die Politik den Investoren gewähren (durch EFSF oder ESM) oder auch verweigern könnte, lassen sich aber nun mit einiger Plausibilität als ein Anspruchsverhältnis zwischen mehr oder minder identifizierbaren Akteuren begreifen – zwischen «uns», die wir der Staat letztlich sind, und «den Investoren». Letztere werden durch die Bail-outs «vor den Marktmechanismen geschützt», und zwar «auf Kosten der Allgemeinheit» (Kunibert Raffer). Und der «Marktmechanismus» hat doch eigentlich gesprochen bzw. innerhalb diesen hätte man «entdecken» (Hayek) können und müssen, dass die Investitionen, wie jede Investition, «riskant» waren (und nicht etwa: unberechtigt). Im wettbewerblichen Markt gebe es eben «profit and loss», wie der Übervater der Marktlibertären, Ludwig von Mises, unermüdlich betonte. Nun aber werde dieser «grundlegende Marktmechanismus außer Kraft» gesetzt (Raffer), was «aus ökonomischer Sicht allerdings schwer zu rechtfertigen» sei (Hau/Lucke). In den Worten Guido Westerwelles: «Wer Gewinnchancen durch seine Investments haben will, oft genug hoch spekulativ, darf sich seiner eigenen Verantwortung nicht entziehen, indem er das Risiko permanent auf den Steuerzahler abwälzt,» wobei die Übernahme dieser (Eigen-)«Verantwortung» (das Erleiden des Verlustes) als Ausdruck der «liberalen Prinzipien der [dadurch automatisch] Sozialen Marktwirtschaft» gefasst wird.
Die Bail-outs seien eben als ein «Eingriff des Staates in den freien Markt» zu deuten, innerhalb dessen nicht Ansprüche nach Maßgabe ihrer Legitimität und Fairness geklärt, sondern Interessen durchgesetzt werden, und zwar nicht gegen andere Personen, sondern im Angesicht von Preisbewegungen im unpersönlich und instanzlos ablaufenden Markt. (Diese Naturalisierung der Marktverhältnisse habe ich hier mit dem Begriff eines menschenleer gedachten «Dschungels» zu verdeutlichen versucht.) Niemandem darf geholfen werden – was im Falle «der Spekulanten» freilich auch moralisch einigermaßen plausibel erscheint. (Dass es sich bei den Inhabern der Staatsanleihen allerdings häufig um Personen handelt, die ihre Pensionsansprüche sichern wollen, deutet Stefan Homburg an. Man mag hierin den Wahnsinn erkennen, der darin liegt, die Rentensysteme vom Umlage- aufs Kapitaldeckungsverfahren umzustellen, wofür übrigens auch Homburg selbst geworben hatte. Im Vorschlag von Hau/Lucke, die Entwertung über die Enteignung der Bankaktionäre zu bewerkstelligen, was als eine «Rekapitalisierung [der Banken] zu Marktpreisen» gedeutet wird, womit die faktisch an sich bereits eingetretenen bzw. faktisch an sich zu «erwartenden Verluste» bloß «realisiert» würden bzw. deren Realisierung nicht (durch die Bail-outs nämlich) aufgehalten würde, scheint dieses Problem weniger gravierend.)
Die konsequent ökonomistische Sicht
Der Ruf nach Gläubigerbeteiligung, «Haircut», Entwertung der Kapitalbestände usw. verdankt sich also allein der Trennung zwischen dem unpersönlich bzw. natural gefassten «Marktmechanismus», in dem «sich» Dinge ereignen, einerseits, der interpersonal gefassten Sphäre der Politik und der öffentlichen Auseinandersetzung, in der es um die Klärung der Legitimität von Ansprüchen geht, andererseits. Dies allerdings ist nicht die konsequent ökonomistische Sicht. Dieser zufolge ist auch die Politik ein, wenn auch «komplexerer», «Austauschprozess», in dem es allein um die Durchsetzbarkeit je eigener Interessen geht – «fully analogous to the market» (James M. Buchanan).
Ein Beispiel für diese Sicht, mit Blick auf die Bail-out-Frage, bot der damalige US-amerikanische Finanzminister, Henry Paulson, in der Sub-prime Krise. Paulson rechtfertigte den «Rettungsplan», der den Aufkauf von aktuell weitgehend wertlosen Hypothekenpapieren für $ 700 Mrd. vorsah, damit, dass «dieser mutige Ansatz die amerikanischen Familien weniger kosten wird als die Alternative: Eine fortgesetzte Konkursserie von Finanzinstituten und eingefrorene Kreditmärkte, die unfähig sind, das Wirtschaftswachstum zu finanzieren». Genauso könnte man argumentieren: Die Auszahlung des Zasters liegt im Interesse der Kassiererin, weil die Pistole des Bankräubers tatsächlich geladen ist. (Die Analogie ist nur darum schief, weil im Falle eine Bankraubs positive Macht – Gewalt also, einschließlich ihrer Androhung – im Spiel ist, im Falle der Marktinteraktion hingegen allein negative Macht: der Abzug von Kapital bzw. deren Androhung.)
Strukturgleich zu Paulson argumentierte auch Finanzminister Wolfgang Schäuble. Auf die Frage, warum es denn so schwer sei «zu vermitteln, dass wir für die Einigung Europas auch finanzielle Opfer bringen müssen», antwortete Schäuble: «Schon der Begriff ‚Opfer bringen‘ ist falsch. Wir verschwenden keine deutschen Steuergelder für irgendwen auf der Welt, sondern wir investieren in die Zukunft Deutschlands.» In den Worten des Chefökonom der staatlichen KfW-Bankengruppe, Norbert Irsch: «Die Euro-Rettung [die Sicherung der Vermögensbestände und Renditen der Gläubiger] lohnt sich, nicht nur für Deutschland, sondern für jedes einzelne Mitgliedsland der Euro-Zone.»
Die integrativ-wirtschaftsethische Alternative
Die Alternative zu beiden Sichtweisen, der «neoklassisch» bzw. «neoliberalen» und der ökonomistisch-radikalen bzw. der transzendental-ökonomischen, besteht natürlich darin, nach der Berechtigung der Renditeansprüche «der Investoren» innerhalb des Marktzusammenhangs zu fragen, also integrativ-wirtschaftsethisch zu fragen. Es geht dabei um die Berechtigung unmittelbar (mit Blick auf die Verteilungsfrage) als auch mittelbar (mit Blick auf die «Peitschenwirkung» des Kapitals im wettbewerblichen Marktprozess «schöpferischer Zerstörung»). Im Ergebnis dürfte den «neoliberalen» Bail-out-Kritikern Recht zu geben sein. Doch dürfte hinter ihre häufig zugleich vertretene Austeritätspolitik ein großes Fragezeichen zu setzen sein.