Wachstum – ein immerwährendes Menschheitsziel?
Ulrich Thielemann
Kategorie: Nachhaltigkeit, Ökonomismus
Fundstücke
Das von den Arbeitgebern finanzierte IW schickt eine Wissenschaftlerin ins Rennen, die selbstverständlich eine marktkonforme Antwort auf die Klimakrise geben soll. Unter dem Titel «Es geht auch ohne Gängelung» vertritt Adriana Neligan in einem Meinungsbeitrag in der Süddeutschen Zeitung die unter den Green-Economy-Anhängern verbreitete These, dass nur Wachstum die Voraussetzungen dafür schaffen kann, «den wirtschaftlichen Strukturwandel [hin zu sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit] zu finanzieren», wobei offenbar unterstellt wird, dass das «Finanzieren» (möglichst mit frischem Geld statt via Umverteilung) die einzige Art der Bewirkung ist. Leider fragt sie dabei nicht danach, woher denn die volkswirtschaftliche Wirtschaftskraft stammen soll, aus der sich dann die Finanzmittel ergeben, mit Hilfe derer man diejenigen bezahlt, die sagen wir Wind- und Solarkraftwerke, Stromnetze, Speichermedien usw. bauen und bereitstellen.
Selbstverständlich resultiert diese Wirtschaftskraft aus dem Gebrauch fossiler Brennstoffe und nicht etwa aus dematerialisierter Wertschöpfung, also bloßen Dienstleistungen (vgl. hier). Wir müssten also erst einmal noch mehr Ressourcen und noch mehr fossile Brennstoffe aus dem Boden holen, um dann in einem weiteren Schritt in die Kreislaufwirtschaft einzuschwenken. Ich befürchte allerdings, dafür ist es zu spät. Einige Klimaforscher meinen – nur ein Beispiel –, der Kipppunkt für das Abschmelzen des Thwaites-Gletscher in der Antarktis sei bereits überschritten. Die Folge wäre: Ein sich über viele Jahrzehnte erstreckender Anstieg des Meeresspiegels um drei Meter. Küstenstädte wie Hamburg, New York, Bangkok, Tokyo wären dem Untergang geweiht. Welche wirtschaftlichen Krisenfolgen dies haben wird, das weiß niemand. Multiplikatoreffekte würden die Ausfälle von Angebot und Nachfrage durch die Welt tragen. Vernichtete Vermögenswerte gigantischen Ausmaßes dürften zu Finanzkrisen führen, auf die kein Draghi mehr eine Antwort mehr fände. Dies scheint auch JP Morgan begriffen zu haben.
Interessant – um nicht zu sagen: abenteuerlich – ist die Erklärung der Ökonomin dafür, dass es Wachstum gibt: «Konsum und Wachstum sind fester Bestandteil von Fortschritt, Wohlstand und Sicherheit – und danach streben Menschen seit Jahrtausenden.» In den 50er Jahren wollten die Menschen in Deutschland demnach jedes Jahr 8,2 Prozent mehr konsumieren (Destatis, S. 6). Heute nur noch knapp 1 Prozent. In einer Rezession wollen die Menschen nicht mehr, sondern weniger konsumieren. Auch die Eigentümer von Unternehmen wollen nicht mehr konsumieren, jedenfalls heute nicht. Denn sie lassen sich ihre Auslandsgewinne nicht auszahlen, sondern sparen diese in Form einbehaltener Gewinne (IMF, S. 11). Aus Sicht der Ökonomin ist vermutlich auch Arbeitslosigkeit Ausdruck einer verringerten Konsumneigung der Betroffenen. (Neoklassische Ökonomen deuten Arbeitslosigkeit routinemäßig als «freiwillig» - wenn sie denn nicht eine Folge «kontraproduktiver» Regulierung oder von Sozialpolitik sei.) Überhaupt muss die gesunkene Lohnquote und die korrespondierend höhere Kapitalquote (vgl. den Überblicksartikel von Norbert Häring) Ausdruck davon sein, dass Normalbeschäftige weniger und Unternehmenseigentümer mehr konsumieren wollen. Letztere unterstellter Weise allerdings eher irgendwann in der Zukunft.
Die Autorin versteht überhaupt nicht, woraus das Wachstum resultiert. Grundlegend betrachtet aus dem «Marktkampf» (Max Weber) natürlich. Daraus, dass die Verlierer des globalen Wettbewerbs, um ihre Einkommensniveau nur schon zu halten, sich genötigt sehen, sich eine neue oder veränderte Einkommensquelle zu erschließen, wodurch am Ende insgesamt mehr produziert wird. In dieser Nötigung des Wettbewerbs als einer «herrenlosen Sklaverei» (Max Weber) liegt das «Betriebsgeheimnis des Wachstums». Prima, wenn dadurch der allgemeine Wohlstand steigt. Man muss aber auch die «Kosten» sehen – vor allem in Form eines unnachgiebigen Zwangs der Ökonomisierung sämtlicher Lebensverhältnisse.
Diese Nötigung durch den Wettbewerb sieht die Autoren gar nicht. Sie spricht von «Gängelung». Das ist von vorn herein ein falscher Begriff für die systemischen Zwänge, die der instanzlos ablaufende, anonyme Wettbewerbsprozess mit sich bringt. Klar, die Zwänge gehen nicht vom «freien» wettbewerblichen Markt, will uns die Autorin nahelegen, sie gehen – als «Gängelungen» – im Gegenteil von seinen Kritikern aus, den «Postwachstumsverfechtern», was irgendwie nach «Fanatikern» klingt. Ganz mit Max Weber (S. 453-455) lässt sich demgegenüber festhalten, dass es eine offene, genuin politische Frage ist, ob das «Mehr an Zwang überhaupt» bzw. umgekehrt das «Mehr an faktischer persönlicher Freiheitssphäre» auf Seiten der Fortsetzung des wettbewerblich induzierten Wachstumspfades liegt oder aber auf Seiten einer Begrenzung des alle Lebensbereiche erfassenden Zwangs, die eigene Wettbewerbsfähigkeit fortlaufend zu steigern. Die zweite Option dürfte ohnehin ökologisch angezeigt zu sein. Wenn wir denn die Welt vor der sich anbahnenden Heisszeit retten wollen.