05. Dezember 2012
Unüberbietbare Kapitalmarktgläubigkeit

Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus, Kapital

 

Das ist so ziemlich das Dümmste, was ich seit langem von einem Ökonomen gehört habe. Oder jedenfalls von einem ökonomischen «Experten» (denn der Autor bewegt sich nicht im Wissenschaftssystem, ist aber Wirtschaftsjournalist).

Wolfgang Münchau, der für den Spiegel schreiben darf, behauptet in seiner Kolumne allen Ernstes, dass der «Kampf» gegen Steuerhinterziehung, den Europas Staaten aufgenommen haben, zwar «moralisch richtig» sein möge, jedoch «volkswirtschaftlich» falsch sei. «Damit reduziert sich für sie [die Steuerhinterzieher] das verfügbare Einkommen. Sie werden weniger konsumieren oder investieren.» Und dies sei «Gift für eine ohnehin schwache Wirtschaft.»

Ich lasse die Frage der Steuergerechtigkeit völlig beiseite. Auch geht es mir nicht darum, dass Staatskonsum oder durch staatliche Umverteilung vermittelter Konsum selbstverständlich auch Konsum ist. Weshalb dies auch gar nicht der Punkt von Münchau sein kann.

Es geht vielmehr ums «Investieren» und um die unüberbietbare Kapitalmarktgläubigkeit, die sich hier ausspricht. Schließlich handelt es sich bei den qua sog. «Steuerwettbewerb» hinterzogenen und ergo nicht eingenommenen Steuern praktisch ausschließlich um Steuern auf Kapitaleinkommen. Denn nur bei diesen funktioniert das Unterlaufen des Wohn- oder auch des Betriebsstättenprinzips.  

Die Position von Münchau findet sich im Kern in praktisch jedem VWL-Lehrbuch – womit der politische Extremismus der vorherrschenden Ökonomik belegt sein mag. Sie lautet: «For a generation, the profession’s message on capital taxes has been simple: the lower the better. Most economists would prefer no tax on capital income at all… Capital, or savings invested in new production, raises future growth and consumption… [Der Simplizismus ist atemberaubend.] As a result, zero tax on capital income should be preferred, even by individuals who don’t earn any such income.» Einzige Voraussetzung: die Kapitalmärkte müssen «perfekt» funktionieren. Und wenn sie es tun, wofür natürlich zu sorgen ist, kann Kapitalbesteuerung nur Ausdruck von «Neid» sein: «Milliardäre sind Investoren und schaffen Arbeitsplätze.»

Warum dies unüberbietbar kapitalmarktgläubig ist, wurde hier gezeigt: Die Investitionen, und zwar gerade dann, wenn sie in der Realwirtschaft landen statt in «Spekulationsgeschäften» «verschwendet» zu werden, entziehen das Geld nicht nur dem aktuellen Wirtschaftskreislauf, sondern suchen diese zu erweitern, indem sie für die einen einen Einkommensstrom schaffen, was nur gelingen kann, indem der Einkommensstrom anderer zerstört wird. Das Kapital ist die «Peitsche» der Realwirtschaft, der Beschäftigten, der Nicht-Rentiers.

Das ist die Quelle des Wachstums. Doch ist es eine politische Frage, ob wir mehr davon wollen und ob die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse weiter vorangetrieben werden soll. Die gegenwärtige Krise zeigt an, dass die Beschäftigten darin überfordert sind, die gigantisch angewachsenen Vermögensbestände (die sich seit 1980 in Relation zum Welt-BIP fast vervierfacht haben) zu bedienen. Münchau und mit ihm praktisch die gesamte Zunft der Ökonomen möchte noch mehr der Peitschenwirkungen des Kapitals, sei es durch fortwährende Nicht-Besteuerung oder durch neoliberale «Reformen».

Wir brauchen eine andere Ökonomik. Eine solche, die unvoreingenommen zeigt, was mit der Entfaltung der wettbewerblichen Marktlogik ethisch auf dem Spiel steht. Eine solche, die sich nicht mit der Autorität einer einzig gültigen «Volkswirtschaftslehre» zum angeblich objektiven «Fürsprecher» der Marktmächtigen – und dies ist letztlich das Kapital – aufschwingt.