20. November 2012
Und immer wieder grüßt der Business Case I

Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus, Unternehmensethik, Ökonomisierung

Restrukturierung, Gewinnmaximierung und Stress

Derzeit kreist wieder der Restrukturierungshammer. «Wohlklingende Slogans wie «Fit for Leadership» (Daimler), «Fox 2013» (Heidelberg Cement) und «Turbine 2013» (Air Berlin) können nicht kaschieren, dass die Unternehmen in Deutschland und Europa kräftig sparen,» schreibt etwa das Handelsblatt. Sparen bedeutet immer: da gibt es Härten. Wer Kosten einspart, senkt die Einkommen anderer, sei es im eigenen Hause oder bei den Zulieferern.

Und dies alles nicht etwa, weil die Dax-Unternehmen am Rande des Zusammenbruchs stünden. Laut Ernst & Young verfügten die großen Konzerne über flüssige Mittel von knapp 74 Milliarden Euro (Berliner Zeitung vom 19.11.12). Sondern weil, etwa im Falle Siemens, der Gewinn nur noch den «zweithöchsten Wert der Firmenhistorie» aufweist. Um wieder «die Erwartungen der Börse» zu «übertreffen» also, will Löscher die Kosten bis 2014 um sechs Milliarden Euro senken. Dies entspricht (bei einem BIP pro Kopf in Deutschland von € 43742) den Durchschnittseinkommen von 136.363 Personen. Projektiert sind «nur» 10.000 Stellen.

Druck auf Beschäftigte wird hier offenbar nicht aus (betrieblicher) Not, sondern aus Gier ausgeübt (vgl. zum Unterschied System Error, S. 79 ff.) – es ist die Gier der Aktionäre, der Renditemaximierer, denen unterstellt wird und die darin bestärkt werden, keine Rendite zu kennen, die zu hoch ausfallen könnte. Schließlich sind sie ja die «Prinzipale», alle anderen sind Zudiener des Kapitals. «Um bis 2014 auf eine operative Rendite von zwölf Prozent zu kommen, will Siemens jetzt kräftig sparen,» formuliert der Spiegel.

Rentabilitätsgetriebener Druck auf Beschäftigte wird einerseits durch Kostensenkungen ausgeübt (das sind ihre Einkommen), andererseits durch Intensivierungen. «Arbeitsverdichtung» nennt man das. Nach dem aktuellen «Gute-Arbeit-Index» des DGB geben 63 Prozent der Arbeitnehmer an, dass sie «seit Jahren immer mehr in der gleichen Zeit leisten» müssen (oder wollen?...). Der Stress nimmt zu. Und zwar stetig. Ist das Fortschritt? «Die Anspannung im Job ist bei 58 Prozent der Befragten im Vergleich zum Vorjahr … gestiegen, weltweit empfinden das 48 Prozent der Menschen so.» Und die (volkswirtschafts-ethische) Frage ist natürlich die: Lohnt sich der Stress noch, und letztlich die: Dürfen die das? (Vgl. systematisch hier, S. 12 ff.)

Die Ökonomisierung des Denkens setzt dann ein, wenn dies alles zu einem «Risiko» der Betroffenen, also zu einer Sache eines privaten Risikokalküls erklärt wird. «Je häufiger restrukturiert wird, desto höher sind die Gesundheitsrisiken für die Belegschaften», schreibt die Berliner Zeitung. Und selbstverständlich darf auch die andere Seite dies alles kalkulatorisch angehen. Und wenn sie dies tut, so die Suggestion, dann zahlt es sich aus, das Richtige zu tun, womit wir beim Business Case wären: «Eigentlich ist dies auch im Interesse der Unternehmen…», wobei «dies» sich hier lediglich darauf bezieht, die Beschäftigten an den «Veränderungsprozessen» zu «beteiligen». (Die «Veränderungsprozesse» selbst werden natürlich als «unvermeidlich» klassiert, weil ja der Renditedruck des Kapitals ebenso wenig wie der globale Wettbewerbsdruck jemals in Frage gestellt werden darf.) Denn «wer seine Belegschaft nicht mitnimmt, droht zu scheitern.»

Was immer auch «Mitnehmen» hier heißt – «mitgenommen» werden natürlich nur die verbleibenden Beschäftigten, diejenigen also, die aus einer Restrukturierung als «Überlebende» hervorgehen –, die Suggestion ist klar: Eine irgendwie als (ethisch) angemessen zu bezeichnende Art des Umgangs mit Beschäftigten liegt auch im Eigeninteresse des Kapitals. Auf dass die Konzerne demnächst über sagen wir 100 Milliarden Euro flüssige Mittel verfügen? Das Ergebnis ist natürlich ein anderes. Es ist nicht die «gute Arbeit» (DGB), sondern eine weitere Verschärfung des Drucks. Nicht nur 58 Prozent, sondern 100 Prozent der Beschäftigten sollen offenbar Jahr für Jahr angeben, dass die «Anspannung im Job» im letzten Jahr gestiegen ist.

Einzurechnen ins ökonomische Kalkül ist ja nicht nur die Kosten-, sondern auch die «Nutzenseite» des wachsenden Stresses. So mag der arbeitsbedingte Stress zwar «die Zahl der Fehltage wegen psychisch bedingter Arbeitsunfähigkeit» in die Höhe treiben, wodurch «allein im vergangenen Jahr der Wirtschaft [wer ist dies eigentlich?] 26 Milliarden Euro verloren» gingen. Doch «leisten stressgeplagte Arbeitnehmer möglicherweise während ihrer Arbeitszeit mehr als andere und tragen so zu einer höheren Wertschöpfung bei.» Und damit zu noch höheren Gewinnen.

Instrumentalismus (der Business Case) ist die falsche Suggestion, dass sich das ethisch Richtige (hier: Arbeitsbedingungen, die als «gut» zu bezeichnen sind) auszahlt, sich die Interessen also in Harmonie befinden. Hier wird dem Pareto-Prinzip das Wort geredet. Unverantwortliches Handeln, das gibt es aus dieser Sicht gar nicht, sondern nur: ein allenfalls «kurzfristig» vorteilhaftes, im Kern aber kurzsichtiges Handeln, durch welches die Gewinne tiefer ausfallen, als sie ausfallen könnten. Der Instrumentalismus ist eine Variante des Ökonomismus. Ökonomismus ist die Umdefinition des ethisch Richtigen durch die Marktmachtverhältnisse. «Wettbewerb als Entdeckungsverfahren» (Hayek) nennen das Ökonomen. Im Wettbewerb lasse sich nicht nur definitionsgemäß «entdecken», was sich zum eigenen Vorteil durchsetzen lässt, sondern auch, was das ethisch Richtige ist. (Vgl. ausführlich Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept, S. 383 ff.)

Wenn übrigens Arbeitnehmer gegen den wachsenden Druck Widerstand leisten (und weniger zu leisten, ist eine Art von Widerstand), dann ändern sich die Marktmachtverhältnisse. Es liegt dann etwas anderes «im Interesse der Unternehmen» – sprich: des Kapitals. Dies allerdings bedeutet nicht, dass diesem Interesse unbedingte Legitimität beizumessen sei – wie alle, die den Business Case vertreten, dem Publikum weismachen wollen.

Wo ist eigentlich die Schule, die die Journalisten kritisch über die Unhaltbarkeit ihres eigenen Ökonomismus aufklärt – auch wenn es ein Ökonomismus light sein mag?