07. August 2012
Überwindung der «marktkonformen Fassadendemokratie» durch unbegrenztes Bürgen?

Ulrich Thielemann
Kategorie: Freiheit, Kapital

Zum Vorschlag von Peter Bofinger, Jürgen Habermas und Julian Nida-Rümelin

 

Bekanntlich hat Siegmar Gabriel in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der SPD den Philosophen Jürgen Habermas um einen programmatischen Beitrag zur Eurokrise gebeten. Vermutlich dieser holte, wohl wegen des ‚ökonomischen Sachverstandes‘, Peter Bofinger und zusätzlich Julian Nida-Rümelin ins Boot, um einen «Einspruch gegen die Fassadendemokratie» – so nennt die Autoren die «marktkonforme Demokratie», von der Angela Merkel sprach – zu formulieren.

Der Text, bei dem einigermaßen klar ist, welche Passagen von Peter Bofinger und welche von Jürgen Habermas verfasst wurden, changiert zwischen der Forderung nach einer echten Erweiterung der Demokratie auf EU- oder sogar auf Weltebene und einer dann letztlich doch erneut «marktkonformen» Demokratie.

Vergemeinschaftung von Schulden durch die Vordertür

Zunächst verwundert, dass sich auch Habermas um die «labile Situation der Banken» Sorgen zu machen scheint; ebenso um die «wachsende Unsicherheit» der «Anleger», die «immer weniger bereit sind, Anleihen der Problemländer zu erwerben». Ist dem «sozialen Europa», von dem später die Rede ist, am besten dadurch gedient, dass sich Banken und Anleger keine Sorgen darüber machen müssen, dass ihre Vermögensbestände bedient werden und ihnen ein «stabiles Finanzsystem … garantiert» wird? Genau dies ist bekanntlich die Position Bofingers, die, jedenfalls diesbezüglich, mit den Interessen des Kapitals konform geht. – Max Otte meinte kürzlich: Wenn Goldmann Sachs & Co das Skript für diese Krise hätten scheiben können, hätten sie keine besseren Verbündeten als Bofinger und Horn finden können.

Das Problem, so Bofinger, seien letztlich die untragbar hohen Zinsen für Staatsanleihen, die «einzelne Staaten des Euroraums» träfen. (Zu den Problemtatbeständen gehört also nicht, dass sich die Staaten zum Zwecke der Deckung ihres – auch und gerade «sozialen» – Ausgabenbedarfs dazu genötigt sahen, sich beim Kapital zu verschulden, statt die massiv angewachsenen Kapitaleinkommen und die aufgetürmten Vermögensbestände angemessen zu besteuern.) Und dieses Problem sei nur durch eine «gemeinschaftliche Haftung für Staatsanleihen des Euroraums» zu lösen. Wenn nur die Eurozone im Ganzen für die gesamte Staatsverschuldung bürge, wenn die «Rettungsschirme» nicht, wie es der Ansatz der Bundesregierung vorsieht, «quantitativ begrenzt», sondern, so offenbar die Ansicht, "quantitativ unbegrenzt" aufgespannt würden, dann öffneten die Gläubiger wieder ihre Schatullen, und alles wird gut. Eine weitere Verschärfung der «Austeritätspolitik» erübrige sich dann ebenso wie die «nicht endende Kette von Hilfsmaßnahmen» (womit offenbar nicht nur Bürgschaften, sondern tatsächliche Transfers von öffentlichen Geldern gemeint sind), so wird offenbar angenommen.

Darum votiert Bofinger für eine «Vertiefung der Integration» im Sinne einer «politischen Union» Europa, womit natürlich ein demokratisch verfasstes Europa gemeint ist. Statt einer «Vergemeinschaftung [der Verschuldung] durch die Hintertür» soll es eine solche gleichsam durch die Vordertür geben.

Demokratie unter Vorgaben ist keine

Dem Demokratietheoretiker Habermas ist klar, dass eine solche Begründung für eine «Vertiefung» und Erweiterung der Demokratie eine Widerspruch in sich selbst wäre: Volkssouveränität, die sich Vorgaben verdankt, ist keine, sondern bestenfalls eine Scheindemokratie. Darum formuliert er, beinahe als Einwand zum Vorangegangenen: «Die Rechtfertigung eines großen Integrationsschrittes ergibt sich jedoch nicht nur aus der aktuellen Krise des Euroraums, sondern gleichermaßen aus der Notwendigkeit, das Unwesen des gespenstischen Paralleluniversums, das die Investmentbanken und Hedgefonds neben der realen, Güter und Dienstleistungen produzierenden Wirtschaft aufgebaut haben, durch eine Selbstermächtigung der Politik wieder einzufangen.»

Für eine Demokratisierung kann es nur Rechtsgründe geben. Die Bürger sollen das Recht haben, über die Umstände, die ihr Leben bestimmen, selbst zu befinden, und zwar gemeinschaftlich und effektiv. Dieses Recht ist ihnen aber abhanden gekommen. Die (selbstredend demokratische) «Politik» hat ihre «Handlungsmacht» an die «Imperative des Marktes» verloren. Wir leben in einer «marktkonformen Fassadendemokratie».  Die Rechtsgründe findet Habermas also in der unrechtmäßigen Macht «des Marktes» und vor allem des Kapitals (benannt durch «Investmentbanken und Hedgefonds»). Um diese Macht zu bannen, habe sich der logische Souverän, die von den Bürgern bestimmte Politik, selbst zu ermächtigen. (Niemand anderes als die Bürger selbst können ihre logisch vorauszusetzende Gestaltungsmacht ergreifen.) Dies muss auf «transnationaler Ebene» geschehen, weil das grundlegende Problem ja gerade darin besteht, dass die je nationalstaatlichen Politiken von den global wirkenden Marktkräften unterlaufen werden.

Widersprüche zwischen ökonomischem Inhalt und demokratischer Formvorgabe

Von diesem demokratietheoretischen Ausgangspunkt aus müssten alle weiteren, inhaltlichen Vorschläge als Beiträge innerhalb der – dann innereuropäischen oder sogar weltinnenpolitischen – demokratischen Willensbestimmung aufzufassen sein. Und diese Vorschläge dürften die demokratische Freiheit nicht wieder hinterrücks untergraben. Über letzteres ebenso wie darüber, ob die materialen Argumente stichhaltig sind, sind Zweifel angebracht.

  • So kann der Eindruck entstehen, dass das Kapital die Politik lediglich dadurch entmachtet habe, dass es seine Finanzmittel nicht der «realen, Güter und Dienstleistungen produzierenden Wirtschaft» zur Verfügung gestellt habe. Die «Selbstermächtigung der Politik» bestünde dann darin sicherzustellen, dass das Kapital endlich wieder "der Realwirtschaft dient", statt in "Spekulationsgeschäften verschwendet" zu werden. (Vgl. zur Kapitalmarktgläubigkeit dieser Sicht hier.)  
  • Wenn, wie offenbar Bofinger meint, die «erforderlichen Maßnahmen zu einer Re-Regulierung  auf der Hand liegen», also technokratisch bereits vorentschieden sind – sie bestehen nämlich insgesamt in einer Absicherung und Ausweitung der Staatsverschuldung, die nichts anderes als die Abhängigkeit der Demokratien vom Kapital markiert – welchen Sinn soll dann noch die transnationale Ausweitung der demokratischen Selbstbestimmung haben? Dies müsste doch ein Projekt mit offenem Ausgang sein.

Nirgend finde sich in der Schrift die Option einer massiven Besteuerung des massiv angewachsenen Kapitals oder gar des Abbaus der Blase, also als illusionär zu bezeichnender Vermögensbestände. (Der Sinn des ersteren liegt darin, «die Reichen», also im Wesentlichen das Kapital, an den «Kosten der Krise zu beteiligen», der Sinn des zweiteren darin, diese Kosten gar nicht erst entstehen zu lassen.) Diese Bestände sind es doch vor allem, die die Demokratie «faktisch entleert» haben und zur «Fassade» haben werden lassen – weil das Kapital die Demokratien in Geiselhaft nimmt und zum Bürgen zwingt (sonst steigen die Zinsen auf die Staatsanleihen auf untragbare Niveaus). Und Bofinger möchte diesem Druck nachgeben, indem das Bürgen ausgeweitet und auf EU-Ebene verschoben werden soll, weil er glaubt, dann träte die gewünschte Entlastung ein. Das Vorbild sind die USA und Japan. Bofinger sieht nicht, dass sich das Kapital, dessen Bestände weit überproportional angewachsen sind, global in einer Art Endspiel befindet.

Was, wenn seine ausdrücklich als «mutig» klassierte Rechnung nicht aufgeht? Dann haben die Normalbürger für all die massiv angewachsenen und zu guten Teilen in die Staatshaushalte verschobenen Blasenbestände gebürgt. Sie bürgen für Bestände, die sich unter anderem daraus ergaben, dass das Kapital, in einer Mischung aus tumber Kapitalmarktgläubigkeit und unterlassener internationaler Steuerkoordination, immer geringer besteuert wurde, was die Staatsverschuldung in die Höhe schnellen ließ; sie sollen sich für die seit der Krise wegen der angeblich «alternativlosen» «Rettungsmaßnahmen» um 20% erhöhte Staatsverschuldung verbürgen, d.h. zusichern, dass sie dem Kapital die korrespondierenden Renditen durch entsprechende Wachstumsanstrengungen schon verschaffen werden; die Normalbürger Europas und hier vor allem Deutschlands sollen Vermögensbestände «absichern», die sich daraus ergaben, dass sie guter Teile ihrer Einkommen «beraubt» wurden – durch diverse «neoliberale» Reformen nämlich –, die Investition dieser dem Kapital zugeflossenen Einkommen, die in den Südländern (auch in den us-amerikanischen Subprime Anlagen) erfolgte, sich aber als illusionär erwies.

Hoffen auf ein Wunder oder demokratische Zähmung der Marktdynamik?

Wie soll eigentlich verhindert werden, «dass die Regierungen ihre Bürger in der Rolle von Steuerzahlern» weiterhin «für den eingetretenen Schaden aufkommen lassen», wenn doch genau dies nun auf EU-Ebene institutionell abgesichert werden soll? Offenbar glauben die Autoren – und glaubt vor allem Bofinger –, dass diese Absicherung zu einem Wunder führt. (Der Unterschied zwischen der [vulgär?-] keynesianischen und der neoklassischen Hofierung des Kapitals besteht lediglich darin, dass diese Privatinvestitionen, jene staatlichen Investitionen das Wort reden – oder die Differenz zwischen Konsum und Investition mißachten?) Nämlich einerseits dazu, dass die Kosten, zu denen sich Staaten verschulden können, sinken, und andererseits dazu, dass das damit ermöglichte defict spending einen Schub in Sachen Wachstum auslöst, das dann kostenlos wie Manna vom Himmel fiele. Dann bleibe es bei den Bürgschaften, bei der bloßen Willensbekundung. Zahlen müssten die Steuerzahler trotzdem, aber erstens, wegen tieferer Zinsen für Staatsanleihen, weniger und zweitens mit Leichtigkeit, da ja Zinsen (und Tilgung?) aus dem Wachstum, für dessen Entstehung man nur «warten» müsse, gleichsam als Nebenprodukt anfielen.

Dass wir nicht nur an sozialen und ökologischen, also normativ zu bestimmenden, sondern auch an den ökonomischen Grenzen des Wachstums angelangt sein könnten, kommt in dem inhaltlichen Vorschlag des Autorenteams nicht vor. Dieser Umstand hat aber weitreichende Konsequenzen, weil der Wettbewerbsdruck dann weitergeht und durch die überschüssigen Kapitalbestände sogar forciert wird. Und dieser «systemische» Wettbewerbsdruck führt zu einer Ökonomisierung der Lebensverhältnisse, für die Jürgen Habermas ja einmal den Begriff der «Kolonialisierung der Lebenswelt» geprägt hatte.

Wollen wir das, und dürfen die, die das wollen, den Rest dazu zwingen, ein in wachsendem Maße «lebensunternehmerisches» Leben zu führen? Diese Fragen sind der «sozialen» Verteilungsfrage sogar vorgenordnet. Sie zu beantworten und daraus die politischen Konsequenzen zu ziehen, darum müsste es gehen, wenn «die europäischen Völker», und nicht nur diese, «die Souveränität, die ihnen von "den Märkten" längst geraubt worden ist, auf europäischer Ebene», und letztlich auf Weltebene, «wiedergewinnen» wollen.

Der Weg dorthin ist äußerst steinig, nicht nur wegen der divergierenden Interessenlagen, sondern vor allem, weil nicht nur die zirkulierenden Vorschläge «kompliziert und schwer durchschaubar» sind, sondern weil es schon der Problemtatbestand ist, und zwar viel mehr. Dieser Problemtatbestand ist aber ökonomistisch vernebelt, weil es praktisch alle "Experten" sind, die die Politik bzw. die «verselbständigte Exekutivgewalt» in Sachen Marktregulierung beraten. (Vgl. zum Hintergrund das Memorandum und die begleitende Diskussion.) Es ginge um nichts weniger als um die Frage, welche Rolle die wettbewerbliche Marktlogik in unserem Leben spielen soll. Ökonomismus-kritische Aufklärung täte Not, damit «die Völker», die kaum in der Lage sind zu durchschauen, wie sie sich durch Markt und Wettbewerb ins Verhältnis setzen, «selbst zu Worte kommen» können.