Überwindet der Prognostizismus den Ökonomismus?
Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus
Erfreulicherweise hatte die FAZ auf die «2. pluralistische Ergänzungsveranstaltung zur Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik» des Netzwerks Plurale Ökonomik hingewiesen. Diese Veranstaltung war notwendig geworden, nachdem der VfS meinte, dies selbst organisieren zu können (Vorsitz: Dennis Snower), um das Ganze unter das Motto «Moving The Frontiers of Economics» zu stellen. Als ginge es darum, das bestehende Paradigma «weiter zu entwickeln», statt in einem redlichen wissenschaftlichen Disput die Möglichkeit ins Auge zu fassen, es zu überwinden.
An sich stellt der Autor, Johannes Pennekamp, die Situation journalistisch gut dar, indem er aufzeigt, dass es sich um eine paradigmatischen Konflikt handelt:
«Wenn die Etablierten darauf pochen, Studenten bestimmte Grundlagen als Handwerkszeug zu vermitteln, dann haben die Kritiker ein ganz anderes Verständnis davon, was diese Grundlagen sein sollten. Wenn die Etablierten einwenden, dass sich die Wissenschaft im vergangenen Jahrzehnt unter anderem durch verhaltensökonomische Ansätze und erweiterte makroökonomische Modelle stark gewandelt hat, dann halten Kritiker das nur für eine Verschiebung von Nuancen. Und wenn Neoklassiker definieren, welches Handeln «rational» und «effizient» ist, sehen Kritiker darin eine unzulässige Okkupation normativer Begriffe.»
Dann allerdings nimmt der Text eine überraschende Wendung, die alles Vorausgegangene zur Makulatur werden lässt. Die These lautet:
«Entwickeln kritische Forscher Ansätze, die die Realität treffender beschreiben und Entwicklungen genauer vorhersagen, setzt sich ein neues Paradigma durch.»
Eigentlich sind dies zwei Thesen. Die erste besteht in der Behauptung, die Akademie der Wirtschaftswissenschaften funktioniere derzeit gut, da sich die bessere Erkenntnis durchsetze. Dies ist eine steile These, weshalb Helge Peukert den Beitrag als «meinungsstark», sprich: als unsubstantiiert klassierte. Frank Beckenbach wandte auf dem Podium ein, damit werde das Problem der «Pfadabhängigkeit» verkannt, welches unter anderem darin bestehe, dass vom etablierten Einheitsparadigma nur bestimmte «Probleme» wahrgenommen würden. Unabhängig davon sei Pluralismus ohnehin wissenschaftskonstitutiv. Ich würde dies so formulieren: Eine Wissenschaft, die von einer paradigmatischen Sicht geprägt ist, aber nicht mehr bereit ist, diese Sicht grundlegend zu reflektieren und sich selbst in Frage zu stellen und in Frage stellen zu lassen, ist als Wissenschaft am Ende bzw. nur mehr der Form nach eine Wissenschaft.
Mit der zweiten These wird das Kriterium Erkenntnisfortschritts normativ definiert. Dieses bestehe in der Prognosefähigkeit einer Wissenschaft und in sonst gar nichts. Damit wird Ökonomik von vorn herein auf ein rein positivistisches Paradigma festgelegt. Ein anderes Verständnis von Wissenschaft scheint im Zeitalter des Positivismus ja auch kaum mehr vorstellbar. Welche Rolle dabei die «treffende Beschreibung der Realität» spielt, ist allerdings unklar.
Zunächst lässt sich naheliegender Weise einwenden, dass die Wirtschaftswissenschaften die 2008er Finanzkrise, die uns heute noch beschäftigt, vollkommen überraschend traf. («Wie konnte es passieren, dass niemand diese Krise vorhergesehen hat?», hatte die Queen bekanntlich gefragt, und die Ökonomen brauchten acht Monate für eine – kaum befriedigende – Antwort.) Gerne wird gegen das offenkundige Versagen nach diesem Maßstab, etwa von Rüdiger Bachmann, eingewandt, dass es eben schwierig sei, den genauen Zeitpunkt eines volkswirtschaftlichen Ereignisses vorauszusehen, und Rubini und andere Warner hätten eben Glück gehabt mit ihren Vorhersagen. Im Übrigen könne man die Finanzkrise nachträglich problemlos «modellieren». Bachmann übersieht, dass Ökonomen hier, wie ja auch sonst, nicht einfach als angeblich neutrale Beobachter von Ereignissen auftraten, sondern als Berater und Advokaten (worauf auch Helge Peukert hinwies) – nämlich der Liberalisierung und Deregulierung auch und gerade des Finanzsektors, da dessen «Entfesselung» ja mehr Kapital und darum mehr Arbeitsplätze schaffe. (Vgl. etwa zur Rolle von Jörg Asmussen hier.)
Natürlich könnte man sich, jedenfalls versuchsweise, eine Ökonomik vorstellen, die auf solche Vorschläge verzichtet. Sie müsste dann aber auch auf alle Interpretationen des Marktgeschehens, durch die Handlungsempfehlungen ja bereits nahegelegt werden, enthalten. Sie müssten etwa davon Abstand nehmen, Erfolgsstreben und Nutzenmaximierung als «rationales», also richtiges Verhalten zu klassieren. Ebenso davon, den Wettbewerb als Maschinerie der Steigerung «der Effizienz» – für wen eigentlich? – zu deuten, wenn damit bloß messbares BIP-Wachstum gemeint ist. Übrig bliebe eine sinnhaft entleerte Theorie, soweit hier denn überhaupt noch von einer Theorie die Rede sein könnte. Es gäbe kein «Gedankengebäude» mehr, «innerhalb dessen man die (wirtschaftliche) Realität versteht» (Gustav Horn). Die Lehrbücher, die heute auf solchen, in der Regel marktaffirmativen, Deutungen aufbauen bzw. diese darlegen, die also «Theorie» enthalten, ohne die man nicht arbeiten könne (Carl Christian von Weizsäcker), müssten durch neue ersetzt werden. Die neuen dürften nur mehr aus einer Sammlung von Hypothesen sowie vorläufiger empirischer Ergebnisse bestehen.
Natürlich ist dies eine undenkbare Versuchsanordnung. Denn auch noch die reflexionsvergessendste positivistische Sozialwissenschaft kommt nicht umhin, den Gegenstand als etwas Bedeutsames zu fassen. Und diese Bedeutungszuweisungen, die begriffliche Erfassung der Welt, sind unausweichlich normativ. Ansonsten wären sie bedeutungslos. Insofern kann die Konzentration auf das Prognostizieren nie das Ganze einer Wissenschaft bilden. Es stellt sich ja auch bereits die Frage, welche Wirkungen des Marktgeschehens, die eine rein positivistische Ökonomik prognostizieren wollen soll, eigentlich relevant sind? Von wem nähme eine solche Ökonomik, die dann eine notwendig opportunistische Dienstleisterin wäre, ihre normativen Problemvorgaben, ohne die sich aus dem Meer möglicher Ereignisse Wünschenswertes von Unerwünschtem nicht unterscheiden ließe? Vielleicht von der Politik, die im Zeitalter eines globalen Wettbewerbs vor allem wissen will, wie die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes und wie das Wachstum zu steigern sei? Die Volkswirtschaftslehre würde zu einer Erfolgswirtschaftslehre nach dem Vorbild der Betriebswirtschaftslehre, die nur mehr zeigt, ob und wie normative Vorgaben angesichts prognostizierbarer Widerstände durchzusetzen sind.
Und dorthin bewegt sich die heute Ökonomik ja im Zuge «evidenzbasierter Politikberatung» tatsächlich. So fragt etwa die Politik an, ob und inwieweit es der Fall sei, dass das anvisierte Freihandelsabkommen TTIP mehr Arbeitsplätze schafft. (Wie schön, dass sich dieses Ansinnen mit der Marktideologie deckt, die die zum reinen Positivismus konvertierten Ökonomen doch angeblich gar nicht mehr vertreten.) Die Ökonomen speisen die verfügbaren Daten aus der Vergangenheit sodann in ein Modell ein und errechnen in der Regel ein Beschäftigungsplus. Dass die Einkommensdisparitäten, vor allem: zugunsten der Kapitaleinkommen, zugleich wachsen, ist den Studien nur bei genauer Lektüre zu entnehmen. Ebenso, dass die Arbeitslosigkeit zunächst steigt. Doch sei Arbeitslosigkeit ein «vorübergehendes» Phänomen, jedenfalls dann, wenn die «Lohnersatzraten» und die «Lohnuntergrenzen» tief sind und wenn von einer «effektiven Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer» keine Rede sein kann.
Natürlich könnten hier ein Streit zwischen neoklassisch (sind das dann noch Neoklassiker?) und keynesianisch geprägten Ökonomen entbrennen, wobei Letztere aus den gesunkenen Beschäftigteneinkommen eine Senkung der «effektiven Nachfrage» und damit ein Beschäftigungsminus prognostizieren könnten.
Man könnte auch prognostizieren, dass der Freihandel zur Ökonomisierung der Lebensverhältnisse weiter beiträgt. Doch unterbleibt dies, jedenfalls bislang, was dogmengeschichtlich damit zusammenhängt, das Ökonomen traditionellen Zuschnitts hierin gar kein Problem, sondern im Gegenteil eine höchst wünschenswerte Wendung hin zum mehr «Rationalität» erblicken. Systemtisch hängt dies damit zusammen, dass es sich hierbei nicht um ein messbares bzw. quantifizierbares Ereignis handelt, dessen Eintritt (in welchem Ausmaß?) prognostizierbar wäre. Ökonomisierung ist keine dingliche Entität, sondern spielt sich vielmehr im Inneren der Individuen ab und in ihrem Verhältnis zueinander. Der Positivismus stößt hier an eine systematische Grenze. Dies wird erst überwunden, wenn nicht nur sozusagen nackte Wirkungsbeziehungen zwischen den Marktakteuren feststellt und ggf. daraus bestimmte «interessante» Ereignisse prognostiziert werden, sondern zugleich nach einer «treffenden Beschreibung» (Pennekamp) dieser sozialen Wirkungsbeziehungen gesucht wird. Dies ist eine hermeneutisch-kritische, eine ideologiekritische Aufgabe.
Der Prognostizismus (ein Wissenschaftsparadigma, das die Sinn- und Geltungsbedingung als «wissenschaftlich» zu klassierender Erkenntnis daran festmacht, ob sich empirisch objektivierbare Ereignisse vorhersagen lassen, was natürlich nur ex post feststellbar ist) stößt allerdings an eine weitere systematische Grenze. Er muss nämlich die ökonomischen Kräfte, die dieses oder jenes Ereignis wahrscheinlich oder auch unwahrscheinlich werden lassen, so dass Widerstand zwecklos oder gar «kontraproduktiv» wäre, als gegeben hinnehmen. Damit stellt er, im Gewand einer rein «positiven», also Wertfreiheit reklamierenden Wissenschaft, etwa dem wachsenden Renditedruck machtvoller Akteure, der zu Entlassungen oder Arbeitsverdichtungen führt, den legitimatorischen Freifahrtsschein aus. Allgemeiner formuliert: Der positivistische Prognostizismus ist parteilich zugunsten derjenigen Kräfte, die die fraglichen Ereignisse, die da prognostiziert werden sollen, machtvoll bewirken.
Aus der Sicht der Marktideologie, die den ökonomischen Imperialismus im Neoliberalismus politisch wendete, ist diese Strategie, da sie «objektiv» daherkommt, vielleicht sogar erfolgreicher als der Ökonomismus alten Zuschnitts, der ideologiekritisch leichter angreifbar ist.