11. Oktober 2015
«TTIP ist weder „gut“ noch „böse“.»

Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus

Neutralitätsbehauptungen als unlautere Pauschalrechtfertigung der ungebremsten Entfaltung der Marktlogik

 

Sigmar Gabriel sieht sich genötigt, angesichts der Massivität des Widerstands gegeben TTIP und TISA in großen Tageszeitungen eine ganzseitige Anzeige zu schalten, deren Botschaft lautet: Es wird mit TTIP keine «Absenkung der erreichten Standards» geben. Die Befürchtungen von Gewerkschaften, Umweltverbänden, Kulturschaffenden, Wissenschaftlern (die nicht dem Neoliberalismus verfallen sind) und weiteren zivilgesellschaftlichen Akteuren, dass TTIP auf den Ausverkauf der Demokratie (S. 9 ff.) hinausläuft bzw. auf die «Auflösung von Politik in Marktkonformität» (Jürgen Habermas), sind also vollkommen unbegründet.

Die gegenwärtig vorbereiteten Freihandelsabkommen sind darauf ausgerichtet, alle noch bestehenden «Handelsbarrieren» (denn im Grundsatz sind die Märkte ja bereits «offen») ein für allemal abzubauen, ohne dass eine Rückkehr möglich sein soll («Ratchet» Klauseln). Alles, was dem Kauf oder Verkauf von Dingen oder Leistungen entgegensteht und diesen erschwert, also teurer macht, soll abgeschafft werden. Daher ist alles, was einer reinen Privatrechtsordnung entgegensteht, also jede materiale staatliche Regulierung, ein «Handelshemmnis» bzw. ein Markttauschhindernis, welches zu eliminieren sei.

Wenn nun Gabriel meint, dass durch TTIP, also den erklärten Abbau aller «Handelshindernisse», keinerlei Standards abgesenkt würden, dann muss er das hinter TTIP, CETA usw. stehende Prinzip umschreiben, nämlich so, dass nur solche Handelshemmnisse abgeschafft werden soll, die sich aus der Unterschiedlichkeit von Marktregulierungen zwischen Staaten ergeben könnten. Blinker in gleicher Farbe usw. Darum und allein darum ginge es dann bei TTIP.

Natürlich reicht es dann nicht aus, wenn sog. «Investor-state-dispute-settlements» (ISDS) nicht mehr, wie Gabriel verspricht, von privaten Schiedsgerichten, sondern von ordentlichen Gerichten entschieden würden, solange TTIP (wie CETA) vorsieht, dass «indirekte Enteignungen», die sich etwa daraus ergeben, dass staatliche «Maßnahmen» welcher Art auch immer «benennbare, angemessene Investorenerwartungen [über zukünftige Gewinne] beeinträchtigen», im Grundsatz zu kompensieren sind. Dann müssten eben ordentliche Gerichte darüber befinden, was «legitimate public welfare objectives» sind, die noch eine Ausnahme von der Entschädigungspflicht darstellen könnten, und welche Regulierungen «illegitim» bzw. «dysfunktional» sind.

Gabriel möchte, dass wir uns vorstellen, dass TTIP und CETA keinerlei externe Effekte produzieren würde, weshalb die Kritik an TTIP nur Ausdruck einer grassierenden «Hysterie» sein könne. Lassen wir uns, for the sake of the argument, einmal darauf ein. Übrig blieben dann allein die marktinternen Effekte. Bislang lautete die Botschaft: Mehr davon ist «gut für alle». Da diverse Studien (etwa Capaldo) ein negatives Saldo von Arbeitsplätzen prognostizieren, da also, so müssen wir interpretieren, der durch mehr Handel unvermeidlich wachsende Wettbewerbsdruck zu Arbeitslosigkeit führt, die keine «vorübergehende» sein wird, verlegen sich die Befürworter auf eine andere Strategie: Der Markt ist neutral! In den Worten Gabriels: «TTIP ist weder „gut“ noch „böse“.»

Im Ergebnis laufen solche Behauptungen der Neutralität der unbeschränkten und stetig reineren Entfaltung der Marktlogik (darum geht es!), die zumeist implizit, qua Naturalisierung, selten, wie hier, explizit formuliert werden, auf eine Rechtfertigung eben dieser Entfaltung hinaus. Genauso wie in dem Satz des damaligen Wirtschaftsminister, Werner Müller, «die Wirtschaft» habe «als solche vom ethischen Standpunkt als neutral zu gelten”. Warum ist das so? Nun, Gabriels (oder Müllers) Botschaft für die je «freiere», ungebremste Entfaltung der Marktlogik bzw. «der Wirtschaft an sich» und ohne «externe Effekte» lautet offenbar: Es besteht kein Handlungsbedarf! Der Purifizierung der Entfaltung reinen Marktlogik muss kein Einhalt geboten werden, weil sie ja nicht «böse», weil sie ja «neutral» ist. Also muss sie «gut» sein. Es gibt kein Jenseits von Richtig und Falsch, weil wir nicht umhin können (politisch oder privat) zu handeln oder auch zu unterlassen (was ebenfalls dem Handeln zuzurechnen ist). Ethik ist praktische Philosophie. Und Praxis ist die Welt des Handelns. Wir können nicht nicht-handeln.

Redlich ist diese Argumentationsstrategie der Entthematisierung freilich nicht. Redlich wäre es vielmehr, wenn schonungslos gefragt würde: Wollen wir, dass der Wettbewerbsdruck zunimmt und damit die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse, weil unser Lebensstandard noch nicht hoch genug ist? Und dürfen die Wettbewerbsfähigen im Verein mit dem Kapital, dem TTIP ein Fest bereitet und zu weiteren Abschöpfungserfolgen verhelfen will, den Rest zu einem immer weiteren marktkonformen Leben nötigen?

Die Freihandelsbefürworter dürften schlechte Karten haben, wenn diese Fragen mit aller wünschenswerten Klarheit auf die Bühne gebracht werden. Es wäre wohl ein ziemlich schlechte Werbung für die Zunahme des Freihandels, wenn klar herausgestellt würde, dass «mancher Produzent [sprich: Arbeitnehmer] … dabei auf der Strecke bleiben» wird, worin gerade der «Sinn des Freihandels» zu erblicken sei, da dieser ja den Weltnutzen erhöhe bzw. «insgesamt Vorteile für alle Freihandelsländer» (aber nicht für jeden einzelnen) bringe, wobei allerdings vorauszusetzen sei, dass es, pars pro toto, jedem «Bergmann» gelingt, sich «zum IT-Techniker umzuschulen». Solche utilitaristischen Argumente, die hier Ulrich van Suntum, Volkswirt an der Uni Münster und Botschafter der INSM, vorträgt, mögen im System der Wirtschaftswissenschaften gegenwärtiger Prägung verfangen, nicht aber im realen Leben. Die Bereitschaft, sich zu opfern für ein irgendwie höheres, überpersönliches Wohl, dürfte beschränkt sein.