11. Juni 2015
Subventionen für die Arbeitsplatzvernichter

Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus

Fundstücke

 

Natürlich muss der Oberhauptkommissar bundesdeutscher Standortpflege, Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, an der Start-up-Konferenz der Digitalwirtschaft, die sich «Noah-Konferenz» nennt, teilnehmen. Und natürlich sprach er Englisch – um zu unterstreichen, dass er, als politischer Repräsentant Deutschlands, nicht die «alte Welt», die «lokale» Welt repräsentiert, sondern die «neue globale und digitale» Welt, die ohnehin jene «ersetzen wird». – Offenbar hat sich die Konferenz, die sich rühmt, «Deals» im Umfang vieler Milliarden anzustoßen, nach der biblischen Figur Noah benannt, weil alle, die nicht teilnehmen, in der da kommenden Sintflut (des globalen Wettbewerbs) ertrinken werden und nur die Teilnehmer es sind, die eine Chance haben, oben auf zu schwimmen. Wobei das Bild allerdings insofern schief ist, als der digitale Noah die Sintflut ja selbst zumindest miterzeugt…

Und was verspricht Gabriel? Subventionen via Steuererleichterungen beim Handel mit Start-Up Anteilen! Denn die «Innovationen», die ja doch Arbeitsplätze schaffen, sollen hier stattfinden, nicht immer nur in den USA (vgl. hier S. 3). Es ist die alte Politik im Modus des Muss: «Deutschland hat keine Zeit zu verlieren, es muss einen Gang hoch schalten.» Es muss, muss, muss, weil die Arbeitsplätze ansonsten nicht hierzulande, sondern woanders geschaffen werden. Sie sollen nicht hier, sondern, so wünscht Gabriel offenbar, woanders zerstört werden. Und wenn sie auch hierzulande zerstört werden, dann wenigstens durch deutsches oder jedenfalls europäisches Kapital.

Gabriel möchte den Arbeitsplatzzerstörern noch mehr Geld hinterherwerfen, damit sie das tun, was die Industrie selbst als solches feiert: die «Disruption», die Zerschlagung bestehender Einkommenspositionen durch Umleitung der dort erzielten Einkommensströme auf den «Innovator» (der billiger oder «besser» ist) und seine Finanziers. So haben us-amerikanische Investoren die Kassen von Uber gemäß «Top Disruptor List» mit sagenhaften 5,9 Mrd. Dollar (S. 4) gefüllt – auf dass das Unternehmen die bislang noch regulatorisch geschützten Taxifahrer in die Arbeitslosigkeit treibt; unter anderem durch eine schlagkräftige Rechts- und PR-Abteilung. (Uber hat den Wahlkampf-strategen von Barack Obama abgeworben. Geld regiert – und korrumpiert – die Welt.) Dies alles ist ein Schulbeispiel dafür, wie das Kapital, qua Überweisung von Überbrückungskrediten, als «Peitsche» der Realwirtschaft funktioniert.

Man sollte sich angewöhnen, nicht nur zu fragen, wie viele Arbeitsplätze durch Start-Ups (oder allgemein: «Pioniere») geschaffen werden, sondern auch, wie viele dadurch zerstört werden. So mag etwa Zalando beabsichtigen, in Berlin «1500 Stellen zu schaffen». Doch wie viele Einzelhandelsfachkräfte macht das Unternehmen arbeitslos? Schon allein darum, weil die Leute «wegen Zalando nicht mehr Geld für Kleider und Schuhe ausgeben» (Löpfe/Vontobel 2014, S. 149), ist ja zu fragen: Was machen die, die nun weniger verdienen? Mehr Geld (qua BIP-Wachstum) entsteht ja erst, wenn es den Verlierern gelingt, ihrerseits eine neue Einkommensquelle zu erschließen. (Das ist das Betriebsgeheimnis des Wachstums.) Dazwischen liegt die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse auf Seiten derjenigen, denen sonst der Absturz droht.

Was machen die in die Arbeitslosigkeit gedrängten Taxifahrer und Schuhverkäufer? Sie könnten etwa bei den neu gegründeten Regionalgesellschaften der Post als Paketzusteller anheuern. Dort werden sie auf jeden Fall schlechter vergütet als die noch zum Haustarifvertrag angestellten Postmitarbeiter. Höchstwahrscheinlich (S. IV u. 16) auch schlechter als zuvor in ihrem Job. Der Postvorstand möchte diese Lohnspreizung, die früher oder später auf eine flächendeckende Lohnsenkung im Postzustellbereich hinauslaufen wird, «unter keinen Umständen» rückgängig machen; da kann Verdi noch so lange streiken. Und wer kauft das ganze Zeugs dann, wenn die Einkommen der Normalbürger stagnieren oder sinken? Entweder die Investoren als Konsumenten (Modell Plutonomy), oder das Kapital gerät weiter in den Anlagenotstand.

Aus dem zunehmend dysfunktional gewordenen Hamsterrad des (globalen) Wettbewerbs finden wir nur durch das Gegenteil dessen, was derzeit auf der Agenda praktisch aller politischen Kräfte steht, nämlich durch eine Abkehr von der neoliberalen Hofierung des Kapitals und vom Prinzip (!) des Freihandels, welches TTIP endgültig etablieren soll. Extrem ist nicht diese Alternative, denn diese schützt die Lebenswelten überall vor ihrer vollständigen Ökonomisierung (und ihrer finanziellen Verarmung), sondern das Gegenteil des Weiter-So. Voraussetzung ist die Delegitimation des hegemonialen Neoliberalismus bzw. Ökonomismus, wie sie hier zu betreiben versucht wird. Nicht als Selbstzweck. Sondern weil seine faktische Legitimität unbegründet ist.