Substanz bitte!
Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus, Orientierungen
Economics is a Moral Science – Antwort auf Rüdiger Bachmann
Hier hatte ich die These vertreten, dass die derzeit dominanten Ökonomen, diejenigen also, die die Lehrstühle inne haben und über Ihre Nachfolger bestimmen, in einer Orientierungskrise stecken.
Haben Ökonomen die Begriffsreflexion verlernt?
Dies zeigt, wohl eher unfreiwillig, auch Rüdiger Bachmann (wir erinnern uns), der sich, ähnlich wie «Wirtschaftsphilosoph», zum Memorandum äußert und sich überhaupt recht ausführlich mit meinen Stellungnahmen beschäftigt. (Auch hier ignoriere ich die zahlreichen «Schüsse auf den Mann», also alles Unsachliche ad personam.)
Bachmann scheint tatsächlich nicht in der Lage zu sein, den hier von ihm rezipierten Text zu erschließen. «I just lack the sense for the humanities’ deep reflectiveness”, schreibt er an anderer Stelle.
Das ist sehr bitter und eigentlich ein Armutszeugnis. (Das meine ich gar nicht ad personam, sondern mit Blick auf den Zustand der Disziplin.) Könnte es sein, dass die Mainstream-Ökonomen gar nicht in der Lage sind, begriffskritisch zu arbeiten? Und, liebe Leute, die Welt wird immer noch in Begriffen, nicht in Zahlen, «als etwas» erfasst (Vorsicht, Philosophie: die «Als-Struktur» des Verstehens, vgl. Heidegger). Nicht umsonst hebt das Memorandum ja diese geisteswissenschaftliche Kompetenz als Desideratum hervor.
Wertfreiheitsillusion
Die Mainstream-Ökonomik meint dies alles ignorieren zu dürfen, weil sie einem fatalen Selbstmissverständnis aufsitzt: Sie glaubt, sie betreibe eine «positive», folglich wertfreie Wissenschaft, die nur darüber Auskunft gibt «what is, and how things work».
Wer sich seriös mit meiner Position auseinandersetzt oder auch mit der wirtschaftswissenschaftlichen Position von Karl-Heinz Brodbeck, Peter Ulrich, Gunnar Myrdal oder Reiner Porstmann (man beachtet auch das dortige Vorwort, welches exemplarische Einblicke gibt in den unsachlichen Ausschluss von Positionsentwicklungen, die der Neoklassik entgegenstehen), dem sollte eigentlich nicht entgangen sein, dass ich der Ansicht bin, dass es keine Entscheidung für oder gegen Normativität geben kann, sondern nur für oder gegen die Reflexion der unausweichlichen eigenen Normativität. Eigentlich sollte Bachmann ja über den Text mit dem Untertitel «Die Unmöglichkeit der Wertfreiheit der Ökonomie als Ausgangspunkt der Wirtschaftsethik [besser: einer ethisch-integrierten Ökonomik]», auf den ich mehrmals verweise, gestoßen sein. Warum setzt er sich damit nicht auseinander, wiewohl darin die auch von ihm vertretene «Wertfreiheitsillusion» doch argumentativ zurückwiesen bzw. als solche herausgearbeitet wird? Knapp zusammengefasst: «Die Möglichkeit einer angeblich ‚wertfreien’, ethisch neutralen, sozusagen über jeden ethischen Zweifel erhabenen Thematisierung des Wirtschaftens gleichsam jenseits von Richtig und Falsch ist der Ökonomik als einer Sozialwissenschaft verwehrt.» (Die drei Dimension der Normativität einer sich «wertfrei-positiv» wähnenden Ökonomik werden hier knapp dargestellt.)
Damit erübrigt sich im Kern der mehrmals vorgenommene Versuch der "Entlarvung" meiner Position, jedenfalls in dem Sinne, wie Bachmann ihn intendiert: Ich würde mich ja «in Wahrheit kein bisschen für die Ökonomik interessieren»; vielmehr strebe ich «eine andere Gesellschaft» an. Dann möge ich doch eine Partei gründen, aber bitte «die Ökonomik oder die Universitäten damit nicht behelligen». Denn, so die unausgesprochene Suggestion, die etablierten Wirtschaftswissenschaften würden ja nur «die Welt beschreiben, wie sie ist» (Bachmann) bzw., wie Karsten hier meint, nur «wahre Erkenntnisse über die Gesellschaft» liefern, also darüber, was in der «Gesellschaft» "objektiv der Fall ist", und diese Erkenntnisse dürften nicht davon abhängig gemacht werden, was «einer guten und gerechten Ordnung dient».
Nun, abgesehen von der Frage, wer hier denn eine «andere Gesellschaft» will – eine «andere» im Vergleich wozu eigentlich? – trägt dies bereits intuitiv nicht. Der «ökonomische Imperialismus», den nun bekanntlich auch Straubhaar zurückweist, besteht ja gerade darin, eine bestimmtes Rationalitäts-verständnis ganz praktisch zu etablieren, d.h. der Ökonomisierung der Welt zuzuarbeiten. Dies ist selbstverständlich normativ.
Die Normativität, für die das Programm einer ökonomistischen Ökonomik («Neoklassik») steht, vollzieht sich dabei über zwei, häufig miteinander verwobene, Kanäle: den positivistischen, mittelbar ökonomistischen, und den unmittelbar ökonomistischen Kanal.
Die Normativität des Positivismus
Muss ich diese tatsächlich noch einmal erläutern? Nun gut. Fangen wir mit dem positivistischen Kanal an. (Übrigens: «Dass wir Reflexion verleugnen, ist der Positivismus.» Jürgen Habermas) Wenn Bachmann etwa eine "positiv-wertfreie" Aufgabe der Ökonomik in der Feststellung von «Steuermultiplikatoren» erblicken will, also darin, ob es "der Fall" ist, ob ein vorgegebenes Ziel (in der Regel: BIP-Wachstum) durch eine Steuererhöhung oder -senkung erfüllt oder verfehlt wird, die in Frage stehende Steuerpolitik also ggf. "kontraproduktiv" ist, dann werden die gegebenen Marktmachtverhältnisse im Ganzen – der Wettbewerbsprozess als «Prozess schöpferischer Zerstörung», über den innerhalb der Zunft der Ökonomen weitgehende Ahnungslosigkeit (S. 160 ff.) herrscht, eingeschlossen – einfach hingenommen und damit stillschweigend legitimiert. Ich sage nicht, dass man so etwas nicht tun dürfe. Aber ohne Relativierung ist dies doch mindestens fragwürdig und läuft in der letzten Konsequenz auf eine Beratertheorie hinaus. (Überdies wird mit dem Fokus auf reine Erklärung, da deren Sinn die Gestaltung, das Verfügen-Wollen, ist, das Verständnis von Rationalität als Durchsetzungsrationalität stillschweigend als verbindlich transportiert.)
Pikant ist dies vor allem, da den Akteuren ja zuvor die Durchsetzungsrationalität als einzig gültige Fassung praktischer Vernunft nahe gebracht wurde (Ökonomisierung des Denkens). Diese pragmatische (im philosophischen Sinne) Widerlegung des Wertfreiheitsanspruchs findet sich etwa bei Gerald Gutenschwager oder Karl-Heinz Brockbeck («Ökonomie als Wissenschaft ist implizite Ethik, … sie dient faktisch der Programmierung von Handlungen») und ansatzweise bei Joseph Vogl (S. 8: «Das ökonomische Wissen hat die wirtschaftlichen Tatsachen geschaffen, mit deren Entzifferung es sich selbst konfrontiert.») oder Wolfgang Streeck (S. 21). [Meine Kritik am Anspruch der «Wertfreiheit» setzt demgegenüber kognitiv-ethisch an ihrem Geltungsanspruch an. Die Gültigkeit der Kritik ist also nicht davon abhängig, ob Ökonomen das Denken und Handeln der Akteure faktisch bestimmen oder nicht. Ich erachte das pragmatische Argument als eine – wichtige – Ergänzung zum kognitiv-ethischen.] Aber auch bei einem der Begründer der Neoklassik, Leon Walras (Elements of Pure Economics, S. 71), selbst wird man fündig [ich verdanke den Hinweis Silja Graupe]: Wie die Mathematiker sollen die Ökonomien zunächst «a priori ein System von Theoremen und Beweisen im Ganzen konstruieren. Danach kehren Sie in die Welt der Erfahrungen zurück, nicht, um ihren Schlussfolgerungen bestätigt zu sehen, sondern um sie anzuwenden.» [Die "Bestätigung" erfolgt dann später.]
Die Lehrbücher der Ökonomik sind ja dann auch nicht etwa eine Sammlung leerer Seiten oder vielleicht noch von Hypothesen darüber, wie die (Markt-)Wirtschaft "wirklich" funktioniert – was übrigens stets «erkenntnisleitende Gesichtspunkte» (Max Weber) voraussetzt, die angeben, in welcher normativ relevanten Hinsicht (oder für welche Interessen?) denn ein irgendwie "gutes" Funktionieren des Wirtschaftens überhaupt interessant sein könnte. Vielmehr wird hier eine Idealtheorie richtigen Wirtschaftens vermittelt. Und die Schlüsselkategorien hierfür sind «Rationalität» (verstanden als instrumentelle Vernunft bzw. Erfolgsrationalität) für das individuelle Handeln, «Effizienz» für die Beurteilung der Interaktionsverhältnisse.
Die Fragwürdigkeit des Beurteilungsmaßstabs der «Effizienz»
Nachdem mir Bachmann vorgeworfen hat, ich würde ja noch nicht einmal die in jeder volkswirtschaftlichen Einführungsveranstaltung dargelegten Fundamentals («ECON 101») kapieren (übrigens ein beliebter Versuch, den Kritiker der ökonomistischen Ökonomik kaltzustellen; als seien die in den Lehrbüchern festgehaltenen ideologischen Gehalte nicht gerade das Problem!), da ich «Wachstum» mit «[effizienter] Allokation» konfundiere – ich hab keine Ahnung, was Bachmann meint; er jedenfalls sprach von «Allokation» als «der gesellschaftlich erwünschten Güterverteilungen»; vielleicht wollen die Leute Bachmann zufolge ja weniger Güter? –, hab ich mal in den Mankiw geschaut (4. Aufl., S. 170 ff.). Und fand da ganz Erstaunliches, um nicht zu sagen Haarsträubendes.
Es geht dabei um die Frage, ob «die Allokation der Ressourcen, so wie sie durch freie Märkte geschieht, letztlich wünschenswert» sei. Und «wünschenswert» (für wen? – für alle?) ist sie, wenn «Markteffizienz» herrsche. Und diese herrsche, wenn «die Gesamtrenten der Gesellschaft steigen» bzw. wenn «der Kuchen so groß wie möglich ist». Mehr Güter und Dienste also. Von wem, für wen? Dies alles spielt hier keine Rolle. Mir nichts, dir nichts wird hier die utilitaristische Aufrechnungslogik präsentiert, der zufolge der vergleichsweise kleinere Schaden des einen durch den vergleichsweise größeren Vorteil des anderen ausgeglichen werden könne. Beispiel gefällig? «Effizient» ist die «Allokation» dann, «wenn ein Gut zu den geringstmöglichen Kosten produziert wird». Also etwa wenn die Löhne gedrückt werden konnten. (Des einen Kosten sind des anderen Einkommen.) Die «Summe aller Renten» wird etwa auch dann «maximiert», wenn jene Käufer nicht [mehr] «zum Zug kommen», die den Preis eines Gutes «im Marktgleichgewicht» «mit weniger als dem [aktuellen] Preis bewerten». Ein schöner Euphemismus dafür, dass die Kaufkräftigen den weniger Kaufkräftigen das Gut vor der Nase weggeschnappt haben. (Vgl. exemplarisch für die Nahrungsmittelkrise hier, S. 229 ff.) Oder auch dafür, dass die Leute zum Billiganbieter wechseln mussten, weil sie in den Niedriglohnsenktor gedrängt wurden und ihnen nun die Kaufkraft fehlt.
Dies alles ist aber nach Ansicht Mankiws nun nicht etwa eine normative Rechtfertigungstheorie «freier Märkte»; vielmehr werde hier ein «objektives Ziel» formuliert, also ein über jeden ethischen Zweifel erhabener Maßstab angelegt. «Gerechtigkeit» könne man vielleicht «zusätzlich zur Effizienz» ins Spiel bringen. «Effizienz» selbst berühre aber keine Gerechtigkeitsfragen (obwohl hier doch Interaktionsverhältnisse beurteilt werden). Die Feststellung der «Effizienz» der Marktverhältnisse sei frei von «normativen Wertungen» und rein «positiver Analyse» zugänglich, also ein "wertfreies" Unterfangen.
So sieht Dogmatismus aus
Es ist atemberaubend, dass der wirtschaftswissenschaftliche Nachwuchs mit Ideologien diesen Kalibers konfrontiert wird, die ihm als der offizielle, «wissenschaftlich» abgesicherte Stand der Dinge präsentiert werden. Die (auch noch massenhafte) Verbreitung solcher Lehrbücher darf als Indoktrination bezeichnet werden (auch schon, weil ja nicht einmal im Ansatz alternative und durchaus entgegenstehende Sichtweisen präsentiert werden, was wohl kaum mehr auffällt, weil deren Entwicklung ja unterdrückt wurde) oder, in den Worten Wolfgang Streecks und anderer, als «Gehirnwäsche». Die Immunisierungsstrategie ist zwar billig (indem einfach erklärt wird, die Feststellung «effizienter Marktgleichgewichte» sei eine "objektive", ethisch unbezweifelbare, also der ethischen Reflexion nicht bedürftige Angelegenheit, weshalb sich die Ökonomen ja über jeden Zweifel erhaben wähnen und ebenso gerieren). Doch gerade darum, weil der Feststellung des «richtigen» (S. 175) Funktionierens des Marktes der Heiligenschein einer rein «positiven» Wissenschaft beigegeben wird, die sich gegen alle ihr widerstreitenden Ansichten doktrinär abgeschottet hat, ist sie faktisch auch so erfolgreich. Bislang jedenfalls.
Nun, lieber Herr Bachmann, muss ich nun eine Partei gründen, wenn ich diesen Dogmatismus und den ethischen Reflexionsstopp der Standardökonomik, die a priori, also voreingenommen, fürs Marktprinzip eintritt, zurückweise? Oder sind Sie es nicht, der längst Partei ergriffen hat? Nämlich eben für das Marktprinzip? (Sie bemühen übrigens in Ihrem Votum, in dem es um «fancy cars, iPads» usw. geht, das digitale Verständnis des Markts: Als könne es nur den unbeschränkten, «freien», wettbewerbsdynamischen und daher die Lebensverhältnisse ökonomisierenden Markt geben oder gar keinen Markt; darin erblicke ich den Sündenfall der Ökonomik.) Und entsprechend stehen ja «die Ökonomen» in der Regel für eine bestimmte politische Strömung, was etwa dieser Beitrag mit Blick auf die Besteuerung aufzeigt. (Ob es sich faktisch so oder anders verhält, ändert nichts an meinen Einwand der unlauteren Marktapologetik der Standardökonomik.)
Wenn Ökonomik unausweichlich normativ ist, dann stellt sich natürlich die Frage des Verhältnisses von (Wirtschafts-)Wissenschaft und Politik. Dieser Frage bin ich im mehrfach bereits zitierten Beitrag zur Wertfreiheitsfrage nachgegangen. Und dort vertrete ich die Ansicht, dass die Aufgabe einer ethisch-integrierten Ökonomik die der «Werterhellung» ist und man sich der «Wertentscheidung» zu enthalten habe. (Mir ist bewusst, dass diese Programm auszuarbeiten wäre.) Bevor man also solche Thesen in den Raum wirft, mich als politisch-parteilich hinzustellen und sich selbst als politisch-neutral darzustellen, sollte man sich erst einmal kundig machen.
Substanz bitte!
Also bitte nicht weiter ablenken. Die wissenschaftspolitischen Fragen, auf die sich das Memorandum aus benannten Gründen konzentriert, sind ja schon wichtig. Doch hat der Bedarf nach paradigmatischer Öffnung doch nicht nur formale, sondern letztlich vor allem substantielle Gründe. Darum fordere ich die bloggenden Ökonomen auf, sich erst einmal kundig zu machen, bevor man unsubstantiierte Behauptungen über die von mir vertretene Position in den Raum wirft. Neben dem besagten Wertfreiheitstext empfehle ich dringend den Text zum normativen Status von «Effizienz» (mit dem an zentraler Stelle die spezifische Normativität der ökonomistischen Ökonomik angesprochen ist). Ob es dazu eine redliche, von unsachlicher Polemik freie Auseinandersetzung geben wird? Ich bin gespannt. Eigentlich müsste Ökonomen diese Diskussion, die den Kern des vorherrschenden Paradigmas in seinen verschiedenen Erscheinungsformen kritisch-systematisch beleuchtet, ja brennend interessieren. Ich befürchte allerdings, es wird beim Abwiegeln bleiben.