«Shocked disbelieve»
Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus
Hat Alan Greenspan eigentlich der Marktgläubigkeit abgeschworen?
Kürzlich stieß ich – wie viele Male zuvor – auf die Stellungnahme von Alan Greenspan während eines Kongresshearings aus dem Jahre 2008 zur Finanzkrise, kurz nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers. Übrigens in einem ganz vorzüglichen Text von George DeMartino, den ich klar ins integrativ-ethische Paradigma von Ökonomik einordnen würde: «"It’s all Normative" The Value-laden Nature of Scientific Inquiry». In seinem Beitrag Where Positive Meets Normative: Economics, Economists, and the Matter of Harm wählt DeMartino die berühmte Stellungnahme Greenspans («I've found a flaw») aus als Beispiel für einen «Fehler im ökonomischen Urteil» über die «Schäden», die die Empfehlungen von Ökonomen in der realen Welt anrichten, da sie die «widrigen Konsequenzen» dieser Empfehlungen nicht berücksichtigen. Der «Fehler», den Greenspan eingestand, bestand darin, dass er fälschlicher Weise «annahm, dass das Eigeninteresse von Organisationen, insbesondere von Banken, dazu führt, dass sie am besten dafür geeignet sind, ihre eigenen Aktionäre zu schützen».
Hm. Lässt sich daraus folgern, dass Greenspan – der Bewunderer der Marktheologie von Ayn Rand, und einer ihrer Vertrauten – «eine Kehrtwende um 180 Grad» vollzogen hatte, wie etwa Hermann Sautter meint? Sicher, Greenspan eiert herum, ist von Ratlosigkeit geprägt. Er sah sich im Zustand «schockierten Unglaubens» über die Ereignisse. (Die besagte Passage wurde vom Kongressabgeordneten Henry Waxberg zunächst zitiert und Greenspan damit konfrontiert. Dieser selbst hatte sie in seiner «Zeugenaussage» für die Anhörung seinerseits zitiert und dabei auf ein Essay verwiesen, dass er einige Monate zuvor für die Financial Times verfasst hatte. Dort schrieb er: «Those of us who look to the self-interest of lending institutions to protect shareholder equity have to be in a state of shocked disbelief.»)
Greenspan als beinharter Marktlibertärer
Wofür steht (oder stand?) Greenspan? Etwa dafür, es für ein «Glück» zu halten, «dass die politischen Beschlüsse in den USA dank der Globalisierung größtenteils durch die weltweite Marktwirkung ersetzt wurden.» Richtig gelesen: «er-setzt»! Und da «die Welt», nicht nur die USA – «glücklicherweise» – «durch Marktkräfte regiert» werde, spiele es, «kaum eine Rolle, wer der nächste Präsident wird». Greenspan feiert das, was man hierzulande, übrigens zustimmend, «marktkonforme Demokratie» nennt. (Deren Überwindung kann natürlich nur weltinnenpolitisch gelingen – und natürlich nach der Überwindung des expliziten und impliziten Ökonomismus in den Köpfen der politischen Akteure und derjenigen, die sie wählen – und übrigens auch derjenigen, die sie beraten, d.h. der ökonomischen «Experten».)
Oder: Die «gesunde ökonomische Entwicklung», die Greenspan 1997 festzustellen können meinte, sei das Ergebnis einer bislang «atypischen Zurückhaltung bezüglich der Vergütung» – gemeint ist die Lohnzurückhaltung der abhängig Beschäftigten. Aha? Die sich bereits Mitte der 1990er Jahre klar abzeichnende Einkommensumschichtung zugunsten der super rich, die sich entwickelnde Plutonomy, ist also als «gesund» zu bezeichnen? «Gesund» offenbar für die super rich – und für das Recht des Stärkeren des Marktprinzips. Und weiter: Diese Lohnzurückhaltung sei das Ergebnis des «erhöhten Drucks auf Firmen und Arbeiter», insbesondere derjenigen, «die im globalen Wettbewerb stehen». Zu feiern sei darum auch die um sich greifende «Arbeitsplatzunsicherheit». Fürchteten 1991 noch «25 Prozent der Beschäftigten um ihren Job», so stieg dieser Anteil im Jahre 1996 auf 46 Prozent! Und dies sogar trotz einer tieferen Arbeitslosenquote! Hoffen wir, so darf wohl im Geiste Greenspans ergänzt werden, dass es bald 100% sein werden, die in ständiger Angst um ihren Arbeitsplatz leben. Denn je höher der Wettbewerbsdruck, desto höher ja das Wachstum (wie man mit Wachstumsfetichisten wie Richard Mckenzie hoffen darf und mit Schumpeter und den Keynesianern, die zumindest implizit die Kategorie der Überforderung kennen, bezweifeln darf). Oder sind es die Anteile, die den Rentiers aus der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung leistungsfrei zufließen, auf deren Steigerung wir hoffen sollten? – Wie konnte es nur sein, dass einem solchen Mann jahrzehntelang die Leitung der FED überantwortet wurde?
Dieser zutiefst marktgläubige Alan Greenspan soll also im besagten Hearing seiner Marktgläubigkeit abgeschworen haben? Ziemlich unwahrscheinlich.
Das Kapital als «Prinzipal»
Niemandem – soweit ich dies überblicke – ist aufgefallen, dass Greenspan das Problem, den normativen Kern dessen, der uns von einer «Krise» sprechen lässt, kurzerhand umdefiniert. Als müsse und dürfe es von vorn herein lediglich darum gehen, ob die Banken – d.h. deren Beschäftigte und deren Management, die im unhinterfragten Managementjargon «Agenten» genannt werden – ihren Aktionären, dem «Prinzipal» einer Bank, dem folglich alle Vorrechte zuzugestehen seien, höchstmögliche Renditen verschafft haben oder darin versagten. Die Krise bestünde also im Kern darin, dass die Banker das ihnen "anvertraute" Kapital veruntreut hätten, statt deren Renditen zu maximieren. Und nicht etwa darin, dass sie, und zwar für ihre «Prinzipale», die Steuerzahler erpresst und den größten Bankraub der Geschichte orchestriert zu haben. Und waren sie darin nicht etwa extrem erfolgreich – für sich und für ihre Prinzipale? Man schaue nur in die aktuellen Reichenlisten, hierzulande und global, wie diverse «Wealth Reports» belegen; der Trend hin zur «Plutonomy» hält nicht «trotz», sondern wegen der Wirtschaftskrise weiter an. Und man bedenke nur die vielen Billionen an Euro, die die EU-Staaten «dem Finanzsektor … zur Verfügung gestellt» haben. Well done, Mr. Greenspan.
Worin besteht das Marktprinzip?
Nun ließe sich fragen, liegt darin eine Verteidigung des Marktprinzips durch Greenspan? Worin dieses innerlich konsequent besteht, darüber, und nur darüber, ist, so meine These, innerhalb der Zunft der Ökonomen (zu der ich Greenspan rechne) ein Streit zugelassen. Ich will hier nicht alle Varianten durchspielen. Stichworte unterschiedlicher Auslegungen des Marktprinzips sollen genügen: Laissez-faire Kapitalismus bzw. Marktlibertarismus, Constitutional Economics, Neoliberalismus, sowohl im wettbewerbsapologetischen Sinne als auch im populären Sinne der Entbettung des Marktverkehrs und der Wettbewerbsdynamik aus bislang etablierten sozialstaatlichen Zähmungen und Korrekturen.
Der gemeinsame Nenner ist die Rechtfertigung des Eigeninteressestrebens, für das der Name Homo oeconomicus steht. (Dies gilt für den wettbewerbsethischen Neoliberalismus nur mit Einschränkung.) Das Eingeständnis Greenspans lässt sich wohl so fassen, dass die Rentiers – als homines oeconomici – darin versagt haben, ihre «Agenten», «die Banken», ihren (Rendite-)Interessen gefügig zu machen. Selbst schuld, müsste man in dieser Logik wohl sagen. (Wobei sich dies ja, angesichts all der milliardenschweren Bail-Outs, als eine ganz und gar unnötige Sorge herausstellte...) Was daraus praktisch folgt, ist jedenfalls völlig unklar. Nach Greenspan jedenfalls keine – nennenswerte – Finanzmarktregulierung, wie er im besagten Essay festhält, in dem er seiner «Hoffung» Ausdruck verleiht, dass aus dem «Fehler», der da irgendwie passiert sei, nicht etwa gefolgert werde, dass das «Vertrauen» in die «Selbstregulierung des Finanzsektors» zu «opfern» sei.
Greenspan kam es vor allem darauf an, die Gültigkeit und Verbindlichkeit des Marktprinzips – das er sehr eng «kapitalistisch» und libertär fasst – hochzuhalten. Entsprechend wollte er in diesem nur einen «Makel [flaw]» erblickt sehen. Waxman hatte ihn zuvor mit einem weiteren Zitat aus seiner Feder konfrontiert: «I do have an ideology. My judgment is that free, competitive markets are by far the unrivaled way to organize economies. We've tried regulation. None meaningfully worked.»
Die Substanz der Normativität liegt hier im «unrivaled». «Konkurrenzlos», «unübertroffen» mit Blick worauf, wäre ja zu fragen. Offenbar mit Blick auf die bestmögliche Erfüllung der Interessen der «Shareholder». Das Kapital hat dieser Sicht zufolge sozusagen immer Recht, weshalb es ja zum «Prinzipalen» erhoben wird. (Vielleicht, weil es ja "Arbeitsplätze schafft"? Oder weil es der gesellschaftliche Akteur ist, der am unzweideutigsten eine rein "ökonomische", instrumentelle Eigeninteressenorientierung verfolgt?) Der «Schock» besteht dann darin, dass dem Kapital nicht alles gegeben wurde, was ihm zusteht, nämlich so viel wie möglich.
Dass Greenspan am Marktprinzip – in seiner kapitalistisch-libertären Auslegung – als Orientierungsmaßgabe festhält, zeigt sich auch darin, dass er den «Makel», den er erblickt und eingesteht, als einen solchen über «Tatsachen» verstanden wissen will. Über diese sei er «betrübt». Worauf Waxman treffend bemerkt: «You found a flaw in the reality», was wohl als Frage zu verstehen ist. Darauf Greenspan: «Flaw in the model that I perceived is the critical functioning structure that defines how the world works, so to speak.» Zutreffender Weise hatte Greenspan bereits vorher bemerket, dass wir ohne eine «Ideologie», ohne eine Theorie, nicht auskommen. Die Realität erschließt sich uns nicht unmittelbar, sondern wir müssen sie begrifflich (theoretisch) erschließen bzw. beurteilen. Alles andere wäre naiver Empirismus. Greenspan gelingt es sodann, Waxman mit dem Hinweis «work» (deutsch wohl: «funktioniert») über den Tisch zu ziehen, denn dieser fährt fort: «In other words, you found that your view of the world, your ideology, was not right, it was not working?» (Das Hearing wird hier zwar nicht in voller Länge, die interessierende Passage aber in ihrem spontanen Wortlaut präziser wiedergegeben.) Greenspan setzt sodann an mit «That is –», beendet den Satz, der offenbar eine Erläuterung werden sollte, aber nicht, sondern hebt neu an – und gibt Waxman einfach recht: «Precisely.» Die Verwirrung hält an, indem der folgende Satz mit «Nein» beginnt, dann aber: «That's precisely the reason I was shocked, because I had been going for 40 years or more with very considerable evidence that it was working exceptionally well.»
Greenspan gibt Waxman recht bzw. zieht diesen über den Tisch, indem er suggeriert, sie beide seien ja wohl der Ansicht, dass es um das (irgendwie "gute") «Funktionieren» des Marktes gehen müsse, wobei die "Güte" des «Funktionierens» letztlich daran zu bemessen sei, dass die Renditewünsche der «Shareholder», die stets legitim seien, maximal erfüllt würden. Was aber ist das «it» in der Aussage «It was not working»? Ist damit die «Ideologie», die Theorie, das Denken, oder ist «die Welt», der Gegenstand der Theorie, hier natürlich "die Wirtschaft" gemeint? Letztlich die Wirtschaft, und zwar die Realwirtschaft, die Beschäftigten. Denn von seiner «Ideologie», dass «die Welt», die Realwirtschaft, die Beschäftigten, dem Kapital zu dienen haben – nur dann «funktioniert» sie –, möchte sich Greenspan nicht lösen. (Und er unterstellt Waxman, auch er setze dies ja als Maßstab voraus.) Und so gibt er dann auch den realwirtschaftlichen Akteuren, den Schuldnern (letztlich: den Beschäftigten) die Schuld für die «schockierenden» Ereignisse. Der Fehler habe letztlich in den «Risiken» bestanden, «die in den Leuten stecken, denen sie [die Banken] Geld geliehen hatten». Den schuldigen Schuldner mangelte es eben an «Kreditwürdigkeit [credit quality]» (Greenspan verkennt vollkommen, dass viele Amerikaner «auf Pump konsumieren» mussten, da ihre Löhne, aufgrund des globalen Wettbewerbs bzw. der Öffnung der Märkte und der neuen Radikalität im Management, sanken und ihre Einkommen wegbrachen. Vgl. hier, hier und hier.)
Constitutional Economics als der konsequentere Ökonomismus
Dass es also richtig ist, dass das Kapital höchstmögliche Renditen einfährt und höchstmöglichen Druck (den sichtbaren, unmittelbaren, ebenso wie den unsichtbaren, wettbewerbsinduzierten) ausübt, daran jedenfalls soll nach Greenspan keinerlei Zweifel bestehen. Ob daraus ein Festhalten am Laissez-faire folgt, dies könnte mit Hilfe der Constitutional Economics James M. Buchanans (oder Karl Homanns) bezweifelt werden. Denn wenn man das Lobbying ausschließt, dann blieben ja noch diverse «gains from trade» unausgeschöpft, die «profit-seeking arbitrageurs», sozusagen "politische Unternehmer", für sich herausschlagen könnten. Dabei wird die »Wertschöpfungslogik, die auf wechselseitige Vorteilsgewährung abzielt, … durch Unternehmen [bzw. durchs Kapital und seine ‚Agenten‘, oder auch durch andere als Homines oeconomici auftretende Akteure] … von der wirtschaftlichen auch in die politische Arena übertragen, … um immer neue Wertschöpfungspotentiale auszureizen”, so der Homann-Schüler Ingo Pies. [«Wechselseitig» muss der Vorteil sein, weil der definitive eigene Vorteil nicht erreichbar und daher nicht denkbar ist ohne den Vorteil des anderen, letztlich aller anderen (S. 201 ff.) – wobei deren Vorteil zu messen ist von einem Ausgangspunkt, den der Akteur selbst herbeigeführt haben mag. So hatte der damalige US-Finanzminister Henry Paulson die Milliarden messenden Bail-Outs damit begründet, dass «dieser mutige Ansatz die amerikanischen Familien weniger kosten wird als die Alternative: Eine fortgesetzte Konkursserie von Finanzinstituten.» Ähnlich formulierte Angela Merkel bei ihrem Besuch in Griechenland, dass sich die Austeritätspolitik auch «für Griechenland lohnen wird», dabei vollkommen verkennend, dass es vor allem die Wettbewerbsstärke Deutschlands war, die die griechische Wirtschaft zuvor in die Krise gestürzt hat, was offenbar ihrer Ansicht nicht etwa dem deutschen Finanzkapital, sondern den Schuldnern anzulasten und darum nicht zu hinterfragen sei. – Natürlich würde sich ein Kapitalschnitt viel mehr «für Griechenland lohnen», aber nicht für das Finanzkapital.]
Weil also das Vorteilsstreben bzw. das «Effizienzmarktdenken [the efficient markets way of thinking]» vom Markt als dem Ort geldvermittelten Tausches – Buchanan spricht vom Markt für «separate goods and services», an anderer Stelle vom «ordinary market exchange» – auf die Politik, aufs Recht, auf die «Institutionen» zu «übertragen» sei (Buchanan), weil ja der Homo oeconomicus definitionsgemäß unersättlich ist, sonst er nicht «rational» handelte, ist die (dem naiven Laissez-Faire zuzurechnende) Aussage, «dass "die Märkte [gut] funktionieren"», aus einer innerlich konsequenten ökonomistischen Sicht als «unqualifiziert» einzustufen. (Sie könnten ja stets noch "besser" «funktionieren».) Daraus folge also selbstverständlich nicht, dass «der Kapitalismus versagt» habe, wie Buchanan festhält. Denn dieser, bzw. das Marktprinzip, sei ja bereits als («erfahrungsvorgängiges» [Homann]) Prinzip der Beurteilung anzuerkennen. Nur müsse man «Kapitalismus» weiter verstehen, als es die Naiven unter den Markthuldigern tun. Auch die Möglichkeit (und die innerökonomistische Notwendigkeit), dass «Unternehmen» sich »in der politischen Arena als ordnende Potenzen betätigen» und dadurch «Recht schaffen» (sic) [welches natürlich ihnen bzw. dem Kapital nützt], sei einzubeziehen, so Pies. Und so haben wir ja auch eine «[kapital-]marktkonforme Demokratie» (Angela Merkel) – mit «Bankenunion» (die aufs Absichern der Bankenbilanzen, nicht auf die Verkürzung ihrer Bilanzen hinausläuft), mit «Strukturprogrammen» (Austeritätspolitik) und mit einer EZB-Politik, die dem Kapital immer weitere und gigantische Hebel in die Hand gibt, um die Beschäftigten weiter unter (Wettbewerbs-)Druck zu setzen.
Vielleicht hätte Greenspan diese «verfassungsökonomische» bzw. transzendentalökonomistische Sicht geholfen. Allerdings hätte er diese Sicht wohl kaum öffentlich vertreten können.