07. Oktober 2011
Scheingeiselhaft

Ulrich Thielemann
Kategorie: Kapital

Wie ich bereits hier vermutet hatte, muss es sich bei der Geiselhaft des Kapitals – «Wenn wir untergehen, ziehen wir Euch mit» – um eine Scheingeiselhaft handeln.

Nun haben zwei Ökonomen gezeigt, wie eine Lösung der Staatsbudgetkrise aussehen könnte, die den Namen verdient. Sie besteht im Grunde in einem fairen Ausgleich zwischen den Beteiligten unter Vermeidung einer gravierenden Krise, die Europa in den «Abgrund» (Peer Steinbrück, ihm zuvor von Josef Ackermann ins Ohr geflüstert) treiben würde.

Hier die wesentlichen Eckpunkte des in der FAZ erschienen Beitrages von Harald Hau und Bernd Lucke. Die Autoren führen damit die Mehrheitspolitik nicht nur des deutschen, sondern praktisch aller EU-Parlament vor und stellen der Politik ein Armutszeugnis aus:

  • Der überwiegende Teil der Staatsschulden der PIIGS-Staaten ist in den Händen der fünf Prozent der reichsten Individuen dieser Welt. Mit den «Rettungsschirmen» würden weniger die Griechen, Portugiesen usw. als vielmehr Milliardäre «gerettet», worauf bereits Max Otte hingewiesen hatte.
  • Mit den tatsächlich beschlossenen, in demokratiefeindlicher Weise als «alternativlos» dargestellten Bürgschaften in Größenordnungen fast ganzer Bundeshaushaltsbudgets – oder wie im Falle der EU, die dem Kapital bislang 4,6 Billionen Euro versprochen hat: von fast 40 Prozent des EU-Bruttoinlandproduktes – hätten sich die Beschäftigten Deutschlands (bzw. der EU) verpflichtet, diesen «super rich», die ohnehin bereits gigantische Wertschöpfungsanteile abgezweigt haben, Kapitaleinkommen buchstäblich unvorstellbaren (und einfach nicht leistbaren) Ausmaßes zuzuschanzen.
  • Dies ist aber gar nicht notwendig. Denn eine geordnete Staatspleite etwa Griechenlands, jedenfalls ein substantieller Gläubigerverzicht («Haircut»), wäre eine Erleichterung für das Land. Es müsste dem Kapital deutlich geringe Anteile seiner volkswirtschaftlichen Wertschöpfung verschaffen, was in der gegenwärtigen Größenordnung nach Ansicht so ziemlich aller Ökonomen ohnehin nicht zu leisten ist, da mag sich Hans-Werner Sinn noch so sehr weitere «Rosskuren» wünschen. Danach kann sich das Land auch wieder billiger verschulden. Was m.E. aber ein Holzweg wäre: Staaten sollen sich nicht zu Unternehmen degradieren. Dies untergräbt die Volkssouveränität. Haushaltsbudgets sind vielmehr durch Steuern und Abgaben zu finanzieren. (Dazu muss das Kapital wieder zur Besteuerung herangezogen werden, was nur gelingt, wenn der internationale Steuernichtleistungswettbewerb beendet wird.)
  • Die Inhaber der Staatsanleihen müssten für ihre «selbstverschuldeten Anlageentscheidung» selbst büßen. Die billigen Staatsanleihen, die den PIIGS Staaten mit der Einführung des Euro gewährt wurden, waren anlegerseitig ohnehin eine Wette auf den Steuerzahler der übrigen EU-Staaten (vor allem Deutschlands). Diese im Grunde zynische Wette wäre damit geplatzt.
  • Das verbleibende Problem sind die europäischen (Groß-)Banken (jedenfalls nicht die Genossenschaftsbanken), die ebenfalls mit ihren Spekulationsgeschäften (auch mit Staatsanleihen) auf den Steuerzahler, vor allem auf den deutschen Steuerzahler, gewettet haben, weil sie eine Art Staatsgarantie besitzen («too-big-to-fail», «too-interconnected-to-fail», «Kettenreaktionen»). Banken dürfen nicht pleitegehen, weil sie sonst die Firmen, denen sie Kredite gewährt haben, mit in den Abgrund reißen. Massenarbeitslosigkeit wäre die Folge.
  • Doch auch dafür gibt es selbstverständlich eine Lösung. Deren Motto lautet: Gebt die nicht einforderbaren Titel, gebt den „Finanzschrott» den Bankeigentümern, den «Altaktionären». So etwas hatte im Kern bereits George Soros für die 2008er Bankenkrise vorgeschlagen, ebenso Peter Bofinger (S. 45). Durch eine «obligatorische», also rechtsstaatlich erzwungene „Rekapitalisierung gefährdeter Banken» nämlich würden zunächst die Bankaktionäre in Haft genommen. Schließlich haben diese die Bankenpolitik – etwa die Boni – gebilligt. Und sie hätten dies abstellen können. «Der gesamte Bankensektor der Europäischen Union verfügt etwa über eine Billion Euro an Eigenkapital, das naturgemäß die vorrangige Haftungsquelle bildet.»
  • Dadurch ergäbe sich eine deutliche Reduzierung des gigantisch angewachsenen globalen (oder jedenfalls des europäischen) Kapitaltopfes, dessen Renditen ohnehin realwirtschaftlich nicht zu decken sind bzw. nicht gedeckt werden sollten. Die sozialen und ökologischen Kosten wären einfach zu hoch. (Davon ist im Beitrag der beiden Ökonomen freilich nicht die Rede. Aber dies wäre eine Konsequenz ihres Plans.)
  • Für diejenigen Anteile der Staatsverschuldung, deren Zins- und Tilgungslasten die betroffenen Staaten (etwa Griechenland) nicht tragen können (und letztlich: nicht tragen sollen), die dann jedoch gleichwohl noch in den Büchern der Banken stehen, und um eine genügende Eigenkapitalbasis zu sichern, sollen dem Vorschlag von Hau und Lucke zufolge die europäischen Staaten Bankaktien erwerben, und zwar zu  Marktpreisen der Bankaktien (die während dieses Prozesses wohl deutlich sinken dürften). Die Autoren stellen dazu Berechnungen an. Wichtig ist: Die Beträge sind viel tiefer als die versprochenen Bürgschaften. Und die Staaten erwerben damit geldwerte Ansprüche. Es handelt sich also nicht wie im Falle der «Rettungsschirme» um «erpresste» Geschenke ans Kapital.

Abgesehen davon, dass es nun darum gehen muss, diese sensationelle Lösungsstrategie in die Politik zu bringen, verbleibt die Frage, wie es sein kann, dass die europäische Politik auf die Mär vom «Abgrund» hereingefallen ist, der nur durch das Glattstellen der an sich wertlosen (Staats-)Papiere zugunsten wohlhabender Vermögensrentiers und ihrer «Agenten» abgewendet werden könne. Hau deutet in einem Beitrag im Handelsblatt eine Erklärung an: «Bankökonomen (aus Eigeninteresse) und viele Journalisten (aus Unkenntnis) haben die Sozialisierung privater Schulden gepredigt.» Hinzu kommen dürften Kapital- und Wachstumsgläubigkeit: Wenn wir das Kapital wie bislang und noch viel weitergehender hofieren – so dürften die Politiker so ziemlich aller Parteien denken, die sich darin in weltmännischer «Wirtschaftskompetenz» wähnen,  – dann wird dieses wunderbare Perpetuum mobile Wirtschaft angeworfen, Wachstum produziert und alles wird gut. Es dürfte noch viel Aufklärungsarbeit erforderlich sein, um diesen ökonomistischen Irrglauben (S. 61-64, S. 188-233) zu überwinden.