18. April 2016
«Primat der Ökonomie»?

Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus

Standortpolitik als Populismus im Kleide der Wirtschaftskompetenz

 

Erst dachte ich, es sei ein Druckfehler. Der Kommentator Thomas Rogalla, so heißt es im redaktionellen Leadtext in der Printausgabe der Berliner Zeitung (18. April 2016, S. 8), vermisse «das Primat der Ökonomie im Berliner Grünen Programm». (Hier der Kommentar, allerdings ohne den Leadtext.) – «Primat der Ökonomie», also Vorrang von Wettbewerbsfähigkeit und Rentabilität vor allem anderen, auch noch im Programm der Grünen? Nicht etwa, wenn schon Primat, Primat der Ökologie, der Sicherung der ökologischen Tragfähigkeit unseres Planeten? Diese ist doch gerade durch das faktisch etablierte Primat der Ökonomie gefährdet.

Der Autor meint dies tatsächlich so. Und was er schreibt, mutet dabei äußerst plausibel an. Das Programm der (Berliner) Grünen sehe nämlich «jede Menge Ausgaben vor». Doch spiele «der Gedanke, wie man in der immer noch hoch verschuldeten Stadt verlässliche Einnahmen generieren kann, keine zentrale Rolle.» Die Grünen wollten «attraktiv für viele» sein, also mehr Leute nach Berlin locken, weil hier «viel Freiraum» dafür bestünde, «seinen eigenen Lebensentwurf zu verwirklichen». Doch bräuchten Zuzügler «neben einem guten urbanen Lebensgefühl vor allem eines: einen Arbeitsplatz». Wie davon mehr geschaffen würden, davon vernehme man von den Grünen eher wenig.

Der Autor empfiehlt den Berliner Grünen das politische Konzept des derzeit populärsten Politikers Deutschlands zum Vorbild, nämlich Winfried Kretschmanns. Der «Erfolg» des kürzlich klar bestätigten Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, unter dessen Führung die Grünen bekanntlich sogar an der CDU vorbeizogen, beruhe auf der Einsicht, dass «die Basis grüner Politik die Sicherung von Arbeit und Wohlstand durch Industrie und Mittelstand» sei. Nach Ansicht des Autors ist eine solche spendenethische (S. 100 ff.) politische Konzeption offenbar die Basis jeder guten Politik, gleich welcher politischen Couleur. Denn, wie man dies früher formulierte, es muss ja doch wohl erst das erwirtschaftet werden, was nachher umverteilt werden kann.

Ziemlich überzeugend, nicht wahr? Was sollte man gegen dieses «Primat der Ökonomie» eigentlich einwenden können? Nun, zunächst einmal, dass die politischen Ambitionen und Normen gar nicht unabhängig sind von den «der Sicherung von Arbeit und Wohlstand» bzw. davon, was getan werden müsste, damit die Arbeitsplätze hier und nicht woanders entstehen. Man könnte dafür etwa Umweltauflagen senken, überhaupt alle der Gewinnerzielung hinderlichen Regulierungen abbauen, ebenso Steuern auf Kapitaleinkommen verringern. Das neoliberale Programm eben, das sich darum dreht, als «Standort» für das anlagesuchende Kapital attraktiv zu sein, welches (angeblich oder tatsächlich) die gewünschten Arbeitsplätze hier und nicht woanders schafft.

Das Primat der Ökonomie wird vom Referenzpolitiker Winfried Kretschmann regelmäßig mit dem Hinweis auf Bill Clintons Wahlkampfslogan «It’s the economiy, stupid!» ins Spiel gebracht. «Es steht und fällt alles mit der Wirtschaft.» Denn «die Wirtschaft» sorge schließlich «für Prosperität». Und erst aus dieser heraus lassen sich, ganz spendenethisch gedacht, die normativ als wichtig erachteten Aufgaben finanzieren. «Alles» bedeutet: auch eine «grüne» Politik dürfe niemals «Politik gegen die Wirtschaft» – gemeint ist offenbar: das anlagesuchende Kapital und dessen Renditewünsche, die keine Grenze kennen – machen. In Anlehnung an die Formel Hans-Werner Sinns gesprochen: Nicht nur Deutschland, sondern auch Baden-Württemberg und das Land Berlin, überhaupt jede politische Einheit, müsse «das Unternehmerkapital hofieren, weil nur dadurch Innovationen, Wachstum und Arbeitsplätze gewährleistet sind». Die Politik müsse eben – «primär», wäre hinzuzufügen – darauf abzielen, «im globalen Wettbewerb mitzuhalten», so Kretschmann.

Weil dies so überzeugend klingt und als alternativlos erscheint, gerinnt Politik zusehends zur Standortpolitik. Dieser kommt faktisch das Primat zukommen. (Nur eben noch nicht bei den Berliner Grünen.) Alles andere ist Beilage. Und die herausragende Eigenschaft wählbarer Politiker ist die «Wirtschaftskompetenz», d.h. ihre technokratisch verstandene Fähigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes und seiner Bürger zu gewährleisten und möglichst zu steigern. Ganz so, wie Unternehmen «primär» auf Wettbewerbsfähigkeit (letztlich: Rentabilität) und sonst gar nichts ausgerichtet sind. Wie die Eigentümer der Firma sich danach, nach geschlagener Wettbewerbsschlacht, auch schöneren Dingen zuwenden können, wird das eigentliche politische Geschäft zur Appendix.

Das eigentliche Problem einer solchen Politik besteht letztlich nicht darin, dass dadurch die normativen Vorgaben, die durch die Markterfolge doch allererst finanziert werden sollen, selbst konterkariert werden könnten (weil die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit ethisch eben nicht neutral ist, sondern mit anderen Normen in einem in vielerlei Hinsicht konfliktären Verhältnis steht). Das eigentliche Problem hat vielmehr darin seinen Grund, dass Wettbewerbsfähigkeit ein relationales Konzept ist. Dies bedeutet: Wenn denn die Berliner Grünen der Ermahnung des Autors folgen sollten und also dafür sorgten, dass mehr Kaufkraft nach Berlin geschaufelt wird (was angesichts des aktuellen Booms Berlins ohnehin etwas seltsam anmutet), dann fragt sich, von wo diese Kaufkraft zufließen soll. Andere werden die Verlierer sein (und die ländlichen Regionen sind es jetzt schon). Diese sehen sich dann ebenfalls zu einer forcierten Ökonomisierung der Politik, zur Ausbildung von «Wirtschaftskompetenz» und zur Transformation von Politik in Standortpolitik genötigt. So entsteht eine Spirale, die die Welt im Ganzen fortschreitend ökonomisiert.

Was auf den ersten Blick so plausibel und geradezu zwingend – und harmlos – erscheint, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Votum für ein «räuberisches Prinzip» (Stephan Kaufmann).

Weil diejenigen, die sich mit stolzer Brust ihrer «Wirtschaftskompetenz» rühmen, sowohl die Konflikte der Standortpolitik mit den deklarierten normativen politischen Zielen verschweigen, als auch die Schäden, die sie anderswo anrichten, unterschlagen, darf das Votum für Standortpolitik als populistisch klassiert werden. Populismus heißt: «Das einfache Argument schlägt das richtige» (Charles Lewinsky).