Neoliberale Deutungshoheit in Zeiten der Pandemie
Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus
Ich habe auf Twitter auf diese Stellungnahme von Michale Hüther reagiert:
«Der ständige Hinweis „wir brauchen einen Lockdown“ muss all denen wie Hohn vorkommen, deren Geschäfte, Restaurants, Hotels etc. seit Monaten geschlossen sind. Im politischen Diskurs dominiert die Lockdown-Euphorie ohne angemessene Evidenz über Wirkung & Kollateraleffekte.»
Da es ein relativ langer Thread geworden ist, hier als Fließtext:
Man sollte auf solche Leute einfach nicht mehr hören. Hüther hat sich schon mehrfach disqualifiziert. Etwa indem er einem fiktiven «Recht auf ewiges Leben» eine Absage erteilte und damit offenbar das ewige Recht auf Leben meinte.
Nun stellt er die Dinge erneut auf den Kopf. Der stationäre Einzelhandel, personenbezogene Dienstleistungen und Kulturbetriebe sind ja einzig darum «seit Monaten geschlossen», weil sich die Industrievertreter weigern, einen echten Lockdown zuzulassen (#ZeroCovid). Stattdessen werden die Bürger zu einen ewigen Freizeitlockdown genötigt und die mitbetroffenen Dienstleistungsunternehmen in die Insolvenz geschickt.
Die Macht dieser Konzernlobbyisten – am besten im Gewand eines Professors – zeigt sich etwa darin, dass die Kanzlerin sich dafür entschuldigen musste, einen einzigen echten Lockdown-Tag (in Form eines zusätzlichen Feiertages am Gründonnerstag + Karsamstag) erwogen zu haben – nach offenbar massiven Interventionen von BDA, BDI, DIHK usw., die ihre «Wertschöpfungsketten», d.h. die Ketten, die ihren Shareholder-Value kontinuierlich anschwellen lassen soll, gefährdet sahen.
Ob Merkel sich bei den Bürgern oder bei der Industrie entschuldigte, ist nicht so ganz klar. Vielleicht bei den Bürgern dafür, dass sie für einen Moment die «Standortpolitik» aus den Augen verloren hatte? Jedenfalls meinte ein Industrievertreter nachher: «Der Dialog zwischen Politik und Wirtschaft funktioniert auch unter dem Druck der Corona-Pandemie.»
Es liegt auch an der Deutungshoheit von Figuren wie Hüther, dass die Bundesregierung gar nicht daran gedacht hat, einen Plan für einen Industrielockdown mit der Unterscheidung in systemrelevante und -irrelevante Betriebe auszuarbeiten. Diese Unterlassung ist ein schwerer Fehler bei der politischen Bewältigung der Pandemie. Und dies obwohl die Maßnahme «All non-essential businesses closed» bei weitem wirksamste Eindämmungsmaßnahme ist.
Ein solcher 3-wöchiger Industrielockdown (wir müssen in Zeiten der Pandemie keine Autos für den Export produzieren) würde die Inzidenzen sofort nach unten drücken, und zwar progressiv. Natürlich müsste der zwischenzeitliche Verdienstausfall der Beschäftigten kompensiert werden.
Es ist dieser neoliberalen Deutungshoheit auch zu verdanken, dass #Zero-Covid als eine «linksradikaler Vorschlag» (Die Zeit) und damit als von vorn herein indiskutabel hingestellt wird.
Die Fixierung auf Shareholder-Value vernebelt diesen Lobbyisten die Gedankenwelt so sehr, dass sie den Business Case, der für einmal für Zero-Covid im Kern tatsächlich besteht, verkennen.
Sie müssten das Investieren lernen: Heute Kosten, morgen Gewinne oder geringere Verluste als sonst. Aber sie möchten lieber den Normalbürgern die Kosten aufhalsen. Allerdings sind die viel höher (langer Lockdown, Gefahr von Mutanten). Auch in Form von Menschleben.