06. Februar 2012
Nachtrag zu: Ethik-Regeln in der VWL?

Sebastian Thieme
Kategorie: Orientierungen, Ökonomismus

 

Ulrich Thielemann hatte kürzlich mit ein paar interessanten Hinweisen auf meinen Beitrag «Ethik-Regeln in der VWL?» verwiesen, zu dem ich hier gerne noch etwas nachtragen möchte.

Wie ich aus einem Interview mit dem US-Volkswirt Gerald Epstein erfuhr, soll der Ethik-Kodex, den sich die American Economic Association ausgedacht hat, nicht nur die finanziellen Interessen in den Blick nehmen. Transparenz wird «auch [von] Gruppen [verlangt], die aus ideologischen Gründen ein Interesse an den Ergebnissen einer Forschungsarbeit haben können», sagte Epstein. Die Frage ist natürlich, welche Gruppen als «ideologisch» eingestuft werden (ich vermute: der ökonomische Mainstream sicher nicht).

Ungeachtet dessen ist es mir aber wichtig zu betonen, dass es nicht allein um Interessenverstrickungen gehen kann. Deshalb habe ich bewusst auf die gute wissenschaftliche Praxis verwiesen. Damit streift der Ethik-Kodex nämlich noch ein anderes Problemfeld, das in den letzten Wochen ziemlich heftig diskutiert wurde: Nämlich die Debatte um die «selbstverliebte» und mathematisierte Volkswirtschaftslehre. Auf diese möchte ich an dieser Stelle nicht im Detail eingehen und stattdessen auf den Artikel von Miriam Oblrisch und Michaela Schießl, die Reaktion von Rüdiger Bachmann sowie die Antworten von Wolfram Elsner und Dirk Löhr (PDF), vom AK Postautistische Ökonomie Heidelberg und Mathias Binswanger verweisen.

Zwei Anmerkungen seien aber dennoch erlaubt: Anders als Rüdiger Bachmann in seiner Reaktion auf die maßgeblich studentische Kritik an der VWL suggeriert, ist in der Volkswirtschaftslehre offenbar nicht alles zum Besten bestellt. Kritik oder gar Selbstkritik wird allenfalls durch ein liebloses Bekenntnis zum kritischen Rationalismus im Munde geführt, ohne dabei jedoch den Eindruck zu erwecken, jemals einen Blick bei Karl Popper oder Hans Albert riskiert zu haben: In der Folge kommt es zu naturalistischen Aussagen, Fehlschlüssen und Immunisierungsversuchen, die wissenschaftstheoretisch ziemlich problematisch sind. Bei Felix Schläpfer findet sich eine Reihe von Beispielen, die heute die Lehrbücher zieren und mit denen die Studierenden konfrontiert werden (wobei anzumerken ist, dass die positivistische Haltung Schläpfers – zum Beispiel bezogen auf die «gute Annäherung [der Theorie] an die Realität» (These 11) – durchaus selbst eine kritische Hinterfragung wert wäre).

Interdisziplinarität scheint im Mainstream auch nur soweit zugelassen zu werden, wie die Harmonie des vorherrschenden Gedankengebäudes nicht gestört wird. Entsprechend können Leute wie Bachmann behaupten, dass die heutige Volkswirtschaftslehre modern und vielseitig sei, ohne dabei den dogmatischen Pfad des Mainstreams verlassen zu müssen. Kritikpunkte wie z. B. von Claus Peter Ortlieb werden einfach ignoriert. Eine Folge ist insgesamt, dass von verschiedener (wirtschafts-) wissenschaftlicher Seite her der mangelnde wissenschaftliche Diskurs beklagt wird (vgl. «Wissensdurst: Wirtschaftswissenschaften in der Krise?», ab Minute 11:32). Ein kritischer Pluralismus sieht anders aus (und ist auch kein «Kuschelkurs»!).

Deshalb wäre a) ein Ethik-Kodex notwendig, der auf die von mir erwähnten strukturellen Veränderungen hinwirkt; und b) der dann auch tatsächlich gelebt wird. Letzteres würde mit der – in einem offenen und partizipativ organisierten Prozess hergestellten – Verpflichtung einhergehen, paradigmatische Vielfalt zu gewährleisten und sich in redlicher Weise mit den eigenen normativen Grundlagen auseinanderzusetzen. Dass es sich dabei um ein schwieriges Unterfangen handeln wird, darauf hat Ulrich in seinem Beitrag hingewiesen. Auch Thomas Dürmeier zeigte sich kürzlich skeptisch, dass sich die VWL so schnell verändern würde («Wissensdurst: Wirtschaftswissenschaften in der Krise?», ab Minute 13:34).

Allerdings gibt es ein paar Lichtblicke, auf die ich an dieser Stelle gerne hinweisen möchte. Ein Beispiel lieferten Studierende aus Heidelberg, die eine Ringvorlesung «Geschichte des ökonomischen Denkens» organisieren und damit Gedanken und Methoden jenseits des Schattens der vorherrschenden Lehre kennenlernen. Damit sind freilich noch nicht alle Mängel in der ökonomischen Lehre behoben, aber es kann als Impuls gelten, der – noch dazu von außerhalb des akademischen Establishments kommend – einzelnen Mängeln entgegentritt. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Beispiele folgen und es den Studierenden gelingt, sich diese Veranstaltung anrechnen zu lassen.

Ein anderes Beispiel, das einen Schritt weiter geht, liefern die Erwägungsseminare, die es seit Wintersemester 2006/ 2007 an der Universität Leipzig gibt. Charakteristisch ist dabei die Selbstorganisation der Seminare und das Aufbrechen der sonst üblichen Hierarchien des Lehr- und Wissenschaftsbetriebes, so dass alle die Teilnehmenden auf Augenhöhe miteinander ins Gespräch kommen können. Inhaltlich haben die Studierenden dann die Gelegenheit, sich verschiedenen (auch aktuellen) Themen auf verschiedenen Diskussionsstufen zu nähern. Die Studierenden werden somit – fast unmerklich – in einen sich kritischen hinterfragenden Forschungsprozess geleitet. Ähnlich – mit Blick auf die wissenschaftliche Kritik und das Hinterfragen – funktionieren die Leipziger Forschungsseminare. So könnte eine – auch im integrativ wirtschaftsethischen Sinne – kritische Lehre und Forschung insgesamt aussehen.

Sicherlich, alle Beispiele sind die berühmten Tropfen auf dem heißen Stein. Sie verdunsten recht schnell in der Masse des akademischen Lehrangebotes. Aber sie können trotzdem als Vorbild dafür dienen, ähnliches auch anderswo umzusetzen.