02. März 2012
Morsche Fundamente

Ulrich Thielemann
Kategorie: Orientierungen, Ökonomismus

Ökonomen in der Orientierungskrise

 

Es gibt sie tatsächlich, die Stimmen innerhalb der etablierten Ökonomik (gemeint sind Lehrstuhlinhaber), die für eine grundlegende, also paradigmatische Neuorientierung plädieren oder sich zumindest für eine echte paradigmatische Vielfalt offen zeigen. Zwar wird hierbei kaum je die besondere Normativität (Ethik) der Mainstream-Ökonomik im Ganzen explizit thematisiert und dabei problematisiert. (Diejenigen, die «Ethik» und «Ökonomik» in einem nicht bloß auf «Anwendung» fokussierten Verständnis in Verbindung bringen, vertreten derzeit ja fast ausnahmslos das streng ökonomistische Programm der Rechtfertigung des Marktprinzips [Quellen hier]; die einzige Ausnahme, die mir einfällt, ist Karl-Heinz Brodbeck, der allerdings schon immer paradigmatisch anderes dachte, weshalb ihm ein Ökonomie-Lehrstuhl an einer Universität verwehrt blieb.) Doch ist diese Kritik am vorherrschenden Paradigma doch offenkundig nicht eine bloß positivistische.

«Der Kaiser ist nackt»

In einem bemerkenswerte Beitrag zur Krise der Ökonomik – «Ökonomische Auslauf-Modelle» – hebt der Autor, Marco Metzler, zwar positivistisch an, in dem er auf den offenkundigen Mangel der Volkswirte verweist, die Weltfinanzkrise vorausgesehen zu haben, obwohl sich nach einem der Überväter der Disziplin, Milton Friedman, die «Qualität» einer Theorie doch «allein an der Qualität der Voraussagen messen solle». (Dieses Versagen im «Praxistest» wiegt im eigenen Selbstverständnis schwer, weshalb «gut 40 Prozent der deutschen Wirtschaftswissenschaftler heute zugeben, dass ihre Zunft in einer Legitimitätskrise steckt.» – Aus einer nicht-positivistischen, also aus einer ethisch-reflexiven Sicht müsste man allerdings fragen: Was ist eigentlich die Krise hier? Krise für wen? Offenbar ist es keine Krise für die 1%. Keine Krise für die Plutonomy. Und prognostiziert Hans-Werner Sinn nicht mal wieder ganz richtig, d.h. schätz er die herrschenden Marktmachtverhältnisse nicht richtig ein, wenn er sagt: jetzt wird es nicht nur in Deutschland und in den USA, sondern in ganz Europa «Rosskuren» zugunsten des Kapitals und der Wettbewerbsfähigen, also einen Abschied von sozialer Marktwirtschaft und breiter Teilhabe geben? Was Colin Crouch auch so sieht – aber im Unterschied zu Sinn nicht billigt.) Doch dann bringt Metzler das pragmatisch-ethische Schlüsselargument gegen die Wertfreiheitsannahme bzw. den Positivismus ins Spiel: «Theorien formen die Realität – spätestens wenn Ökonomen mit ihrer Hilfe Politiker beraten. Dadurch erhalten sie auch eine normative Relevanz.» (Vgl. auch Brodbeck, S. 72)

Sie haben sogar eine geradezu gigantische «Relevanz» oder Macht. Neben dem von mir häufig verwendeten Zitat von Keynes stieß ich kürzlich auf einen Satz von Paul Samuelson (ausgerechnet im Vorwort von Mankiws «Grundzüge der Volkswirtschaftslehre» (4. Aufl., VI): «Solange ich volkswirtschaftliche Lehrbücher schreiben kann, kümmere ich mich nicht sehr darum, wer die Gesetze eines Landes schreibt oder die Staatsverträge ausarbeitet.» Ökonomische Lehren sind vor allem darum so mächtig, weil sie die Marktmachtverhältnisse – die «Marktkräfte», die «Sachzwänge», vor allem die Macht des Kapitals im Wettbewerb – nicht etwa ethisch-kritisch be- und durchleuchten, sondern entweder als eine «Tatsache» abbilden oder undifferenziert als Ausdruck von «Freiheit» oder allgemeinem Wohl darstellen. Oder als dies alles zugleich. Man mag hieran das gesellschaftspolitische Gewicht, das der Kritik am Ökonomismus, am Marktprinzip, an sich zukäme, ermessen. (Natürlich mündet diese Kritik nicht, wie vielleicht einige noch glauben mögen, in eine Abschaffung des Marktes, sondern in seine Entthronung als Prinzip bzw. in seine individual- und ordnungsethische Relativierung und Einbettung in Gesichtspunkte der Fairness und Lebensdienlichkeit.)

Martin Kolmar, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen, gibt Metzler recht: Ökonomische Theorien «erzeugen in den Köpfen der Bürger [und der Studenten, der beratenen Politiker usw.] eine Grundwahrnehmung von der richtigen Art des Wirtschaftens. Von der offiziellen Lehre abweichendes Denken bildet dazu ein wichtiges Korrektiv.» Die VWL ist also eine normative Wissenschaft («Ökonomie ist Ethik»), ist aber derzeit fehlgeleitet? Meint dies Kolmar tatsächlich? Jedenfalls scheint er der Auffassung zu sein, dass angesichts der Krise «der Kaiser nackt ist, wenn wir [die etablierten Volkswirte] selbst noch die prächtigsten Kleider zu sehen vermeinen», weshalb es zu begrüßen sei, wenn sich die Ökonomik etwa von Studenten (oder Wirtschaftsethikern, Philosophen, Politikwissenschaftlern, Soziologen?) herausfordern lasse, da diese «noch nicht so lange innerhalb eines Paradigmas gedacht» haben. – Martin Kolmar jedenfalls hat ganz schön lange innerhalb des ökonomistischen Paradigmas gedacht. Er ist pikanterweise der Koautor eines Pareto-ökonomisch geprägten Lehrbuchs zu den «Grundlagen der Wirtschaftspolitik» gemeinsam mit Friedrich A. Breyer – der «die Ökonomen» bekanntlich als die «konsequentesten Fürsprecher des Marktes» sieht. Möchte er sich davon nun verabschieden? Oder sich wenigstens redlich mit Kritik am Marktprinzip auseinandersetzen? Fragen über Fragen, und ich habe keine Antwort.

Überforderte Ökonomen

Vielleicht ist die Volkswirtschaftslehre ja auch im Zustand der inneren Verwirrung und Orientierungslosigkeit, bestimmt aber nach wie vor, welche Positionsbezüge (und diese sind immer normativ!) akademisch zugelassen sind, nämlich solche, die die neoklassischen bzw. ökonomistischen Lehrbuchweisheiten akzeptieren. Man muss ja sehen, dass die zumeist jüngeren Volkswirte, die Mathematiker, die sich selbst für «offen» und undogmatisch halten, die sozusagen «wütenden» Volkswirte vom Schlage etwa eines Herbert Giersch weitgehend verdrängt haben. (Giersch trat für Wettbewerb als übergreifendem Gesellschaftsprinzip ein und warb listig – und sehr erfolgreich – für «Steuersenkungen zum Mobilisieren des Diktats der leeren Kassen», um die «Schwächung des Staates durch den Wettbewerb der Staaten» zu vollenden und dem antidemokratischen Marktprinzip zum endgültigen Durchbruch zu verhelfen.) Die Jüngeren beten das (falsche) Orientierung gebende Lehrbuchwissen in den Einführungsveranstaltungen zwar noch herunter, konzentrieren sich aber ansonsten auf die Publikation von Formelfriedhöfen zu exotischen, lebenspraktisch reichlich irrelevanten Spezialfragen, da A-Journals dies verlangen und paradigmatische Erörterungen als unwissenschaftlich gelten (natürlich trifft das genaue Gegenteil zu), «die Publikationsfähigkeit in einem Journal» (gemäß der Handelsblatt Klassifizierung der «renommiertesten» Journale) aber zum «Maß aller Dinge» in Sachen Unikarriere erhoben wurde.

Und nun sind sie, die sich vor allem in Formelwelten bewegen (und dies für «Theorie» halten) mit der paradigmatischen Auseinandersetzung überfordert, wobei sie das Marktprinzip vielleicht tatsächlich nicht mehr ganz so feurig vertreten möchten (oder angesichts der Sachlage: können), wie die Altvorderen. Diese Überforderung wird besonders schlagend deutlich in einem Interview, das die Zeit kürzlich mit dem derzeitigen Vorsitzenden des Vereins für Socialpolitik, Michael Burda, führte. Burda, der der Ansicht ist, dass «grundsätzliche Kritik an der volkswirtschaftlichen Lehre überhaupt keinen Bestand» hat, also selbstverständlich am ökonomistischen Kernparadigma festhalten will, wird vom Redakteur der Zeit, Thomas Fischermann, geradezu vorgeführt. Was in den Kommentar zu zahlreichen bissigen und kopfschüttelnden Reaktionen führt: «Gott ist das arm...» ;«armselige Sicht»; «ich habe selten etwas intellektuell derartig Unbedarftes gelesen, ich muss sagen, ich bin entsetzt»; «habe selten in einem Interview derart Arroganz, Egoismus und Übermut herausgehört.»; «abwegige Ansichten»; «es fällt mir schwer, in Herrn Prof. Burda anhand seiner Äußerungen im Interview einen Wissenschaftler zu erkennen»; «…mit dem Ethos und der Arbeitsweise eines Wissenschaftlers [sind die Ausführungen Burdas] nicht [zu] vereinbaren».

Was sagt Burda, um solche Reaktionen hervorzurufen? Nun, Burda meint etwa, «wir» Ökonomen längen schließlich «nicht immer daneben», was sich etwa daran zeige, dass «die Hartz-Reformen», die, was Burda hier ganz selbstverständlich voraussetzt, auf Empfehlungen der eigentlich doch rein «positiv» (wertfrei) arbeitenden Ökonomen zurückgehen, «ja auch einen positiven Effekt gehabt» hätten, was «in der Presse» viel zu wenig «wahrgenommen» werde. Hat der Volkswirt Burda tatsächlich die sich aus der deutschen Niedriglohnpolitik resultierenden Ungleichgewicht nicht verstanden, die einen bedeutenden Teil der gegenwärtigen sog. «Eurokrise» bilden, weshalb die Steuerzahler, derer man noch habhaft werden kann, für die Schulden, die die Griechen, Italiener, Spanier usw. nicht begleichen können, bzw. für die Gewinne der Unternehmen, nun zahlen oder jedenfalls bürgen müssen? Und sind die Verschiebungen in den Einkommen weg von Arbeit, hin zum Kapital, als «positiv» zu beurteilen? Nach Ansicht Burdas offenbar. Überhaupt hätten «die Modelle der Gesamtvolkswirtschaft 20 Jahre lang gut funktioniert», nun brauche man angesichts der Finanzkrise aber «noch mehr Forschung dazu». Treffend hakt der erfrischend respektlose Zeit Redakteur nach: «Weil die Ökonomen so wenig Ahnung vom Finanzmarkt hatten, haben sie die Krise nicht kommen sehen?» Und weiter: Könne dies vielleicht daran liegen, dass «der Mainstream der Ökonomie andere Meinungen unterbuttert»

«Völliger Käse»

Ansatzweise muss ihm Burda recht geben. Zwar meint er genau zu wissen, dass «sehr viele unorthodoxe Theorien … völliger Käse» seien. – Wo bitte wird dies diskutiert? Was sind die Kriterien? –  Doch mag es «vielleicht darunter ein paar Theorien» geben, «die wirklich fehlen oder tauglich sind», wobei Burda selbstverständlich weiß, was die Kriterien einer solchen «Tauglichkeit» wären (vermutlich: Tauglichkeit zur Prognose der tatsächlichen und als solche zu akzeptierenden Marktmachtverhältnisse). Wie dem auch sei, jedenfalls fällt es ihm «sehr schwer, das auseinander zu halten». Und auch wenn es, man höre und staune, «sicher unfair, vielleicht sogar unredlich» sei, alles Heterodoxe zu verwerfen, müsse ein «Turm zu Babel», also paradigmatische Vielfalt, offenbar vermieden werden. Denn nach Burda ist es ein Zeichen einer «gesunden Wissenschaft», wenn sie von einem «führenden Paradigma» bestimmt werde. – Auch so lässt sich Dogmatismus verbrämen.

Erneut schlagkräftig wirft der Redakteur der Zeit ein: «Seit der Finanzkrise stehen manche orthodoxe Ökonomen als diejenigen da, deren Theorien Käse waren.» Daher stelle sich die Frage, «welche Veränderungen der Lehre» denn anstünden, «damit wir bei künftigen Krisen einen "besseren" Mainstream bekommen». Worauf Burda antwortet, Publikationen zur Finanzkrise würden «wissenschaftlich keine Rendite» erbringen, was beim Zeitredakteur – und den Kommentatoren – ungläubiges Staunen hervorruft.

Eine Publikation zu den morschen Fundamenten der Ökonomik – etwa über die Rolle des Kapitals im Wettbewerb als eines Prozesses «schöpferischer Zerstörung», um die Interaktionsverhältnisse ethisch beurteilbar zu machen, in die wir uns dadurch setzen – ist derzeit in Organen, die in Berufungsverfahren zählen, tatsächlich vollkommen chancenlos. Ob etablierte Ökonomen daran etwas ändern möchten, ist zweifelhaft. Immerhin gibt es ermunternde Positionsbezüge hierzu, etwa von Thomas Straubhaar sowie von Bruno S. Frey und Margit Osterloh.

Festhalten am Marktparadigma

Die buchstäblich entscheidende Frage allerdings ist, ob die zarten Versuche eine paradigmatischen Öffnung der VWL innerhalb des Positivismus verbleiben – und dies heißt ausbuchstabiert: innerhalb des Reflexionsstopps vor den eigenen normativen Grundlagen – oder ob auch ethisch-explizite und durchaus auch ethisch-kritische Positionsbezüge zugelassen werden. Eine rein positivistische Öffnung, soweit von Öffnung hier überhaupt die Rede sein kann, schlägt etwa Robin Wells vor. In ihrer Reaktion auf den demonstrativen «walkout» von Studenten aus einer Mankiw Vorlesung, die den gesellschaftlichen Druck spüren lässt, dem Ökonomen derzeit – ganz zu Recht – ausgesetzt sind, will die Autorin des Lehrbuchs «Economics» (gemeinsam mit Paul Krugman) normativ am Marktprinzip bzw. an der «conceptual importance of free markets» festhalten. (Natürlich spricht sie nicht von «normativ», weil sie, wie der gesamte Mainstream, völlig ahnungslos darüber ist, dass die Ökonomik eine Idealtheorie markiert, die uns Beurteilungsmaßstäbe über richtiges Wirtschaften an die Hand zu geben beansprucht.) Allerdings sei die VWL einem «Realitätstest» zu unterziehen. Ja, es gebe «Grenzen freier Märkte», aber nur, weil die «reale Welt» dem Ideal «freier Märkte» nicht immer entspräche. Alles, was am gegenwärtigen Wirtschaften problematisch sein könnte, müsse auf solche «real world limitations» des Ideals «freier», «wettbewerblicher» Märkte zurückzuführen sein. (Natürlich müsste es dann letztlich darum gehen, die «realen», aber noch nicht idealen Wirtschaftsbeziehungen dem «wettbewerblichen» Ideal anzunähern; und an dieser Ökonomisierung der Lebensverhältnisse haben Ökonomen ja auch bislang kräftig «konzeptionell» mitgearbeitet; und sie sollen es weiter tun, indem «die Ökonomik auf die reale Welt angewandt» wird.)

Ähnlich wie ihr Schweizer Kollege Reiner Eichenberger ist Wells offenbar der Ansicht, dass die Kritik an der Ökonomik paradigmatisch völlig unbegründet ist und es nur darum ginge, die ökonomische bzw. ökonomistische Botschaft besser zu kommunizieren bzw. die Art zu ändern, «wie Ökonomik», so wie sie sich derzeit darstellt, «in Einführungsveranstaltungen gelehrt wird».

Ideologieplanung

Ganz ohne »Ethik» gerät die etablierte Volkswirtschaftslehre allerdings in eine Akzeptanzkrise. Ethische Reflexionen fordern so dann auch viele Kommentatoren der blamablen Stellungnahme Burdas ein: «Was fehlt, ist die Ethik»; «Ökonomie ohne Ethik gibt es nicht»; Ohne Ethik «fehlen einfach die Maßstäbe zum Entscheiden»; «Die Ökonomie als Wissenschaft, sollte sich soweit mal eingestehen, dass sie eben auch eine normative Komponente beinhaltet …, und dass sie eine normative Komponente besitzt, zeigt in meinen Augen der Begriff des "vollkommenen Marktes"».

Wenn die weitestgehend von außen von reflektierten Köpfen an die etablierte Ökonomik herangetragene Forderung nach einer ethischen Grundlagenreflexion allerdings nur in Begriffen der Akzeptanzsicherung wahrgenommen wird, dann wird der Ökonomismus ökonomistisch (!) selbstreflexiv. So etwa wenn Dominique Ernste, Leiter des «Kompetenzfeldes» «Institutionenökonomik / Wirtschaftsethik» im Institut der deutschen Wirtschaft, der zuvor beim Übervater aller Transzendentalökonomen, James M. Buchanan, in die Lehre ging, und Ko-Autoren im «Laiendenken» – «Laien» sind alle, die die ökonomistische Gehirnwäsche nicht durchlaufen haben – zahlreiche «irrationale Biases» auszumachen können meinen, die zwar im Prinzip «durch eine bessere ökonomische Bildung der Bevölkerung [zu] überwinden» seien, was aber nicht zum gewünschten Erfolg führen dürfte, da «der Verweis auf die größere Effizienz einer Maßnahme … bei Laien kaum zur Akzeptanz» führe, wohingegen «eine höhere wahrgenommene [sic] Gerechtigkeit die Zustimmungswahrscheinlichkeit [für das Marktprinzip] deutlich erhöht». [Ich kann immer noch nicht glauben, dass dieses postdemokratische Pamphlet, das in übelster Weise Ideologieplanung betreibt, Unterschlumpf in einem sich als «wissenschaftlich» klassierenden Journal gefunden hat.] Und so wird der als «Wirtschaftsethik» verbrämte Ökonomismus ja auch von den kapitalkräftigen Interessenten des Marktprinzips nach Kräften unterstützt.

«Ethik» als Feigenblatt der ewigen «Wahrheiten der Ökonomie»?

Wenn auch nicht in dieser Radikalität, so gewinnt man doch den Eindruck, dass auch die «ethischen» Vorstöße der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich eher der Akzeptanzsicherungen denn einer echten ethischen Reflexion, die auch vor den Grundlagen nicht halt machen dürfte, geschuldet sind. Deren Dekan, Josef Falkinger, berichtet, dass seit kurzem «alle Dozierenden transparent machen müssen, ob und wie sie CSR-Themen in ihren Lehrveranstaltungen berücksichtigen». «Müssen»? Ist dies nicht ein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit? Und warum «müssen» die Volks- und Betriebswirte nun «CSR-Themen» aufgreifen (als sei Ethik ein «Thema»)? Offenbar, weil Studenten dies einfordern und übrigens auch, weil die (privaten) Zertifizierungsagenturen dies heute verlangen. Von einer inneren wissenschaftlichen Notwendigkeit der ethischen Reflexion der Ökonomik als einer «moral science» (Keynes) ist hier wenig zu spüren.

Bemerkenswerter Weise «wehrt» sich Falkinger dagegen, «die Ethik in separate Vorlesungen oder Seminare auszulagern». Dies klingt zunächst wie eine Zurückweisung des Separatismus zugunsten eines integrativ-ethischen Verständnisses. Andererseits fragt man sich, was mit den ökonomistischen Grundlagen der Lehrbuchökonomik passiert. Müsste diese nicht umgeschrieben werden? Dies allerdings lehnt Falkinger, ganz ähnlich wie Burda, dezidiert ab: «Ich denke nicht, dass uns die Finanzkrise zwingt, die grundlegenden ökonomischen Lehrbücher umzuschreiben.» Und auch innere Einsichten in die Unhaltbarkeit des durch Homo oeconomicus als Inbegriff von «Rationalität» und utilitaristisch oder paretianisch bestimmte «Effizienz» (S. 290 ff.) als gesellschaftlichem Ordnungsprinzip geprägten Kernparadigmas (wovon im Interview natürlich nicht die Rede ist) halten den Volkswirten nicht davon ab, am «Methodenkanon» der Wirtschaftswissenschaften, «den man kennen [und anerkennen] muss», festzuhalten – schon allein, weil er diese Grundlagenreflexionen gar nicht erst zur Kenntnis nehmen dürfte. Darum ist «CSR» und «Ethik» ja auch nicht bloß eine Zugabe bzw. ein «Thema», das man neben den ewigen «Wahrheiten» der orthodoxen Volkswirtschaftslehre auch noch hier und da einfließen lassen müsste. Vielmehr seien diese ökonomischen «Wahrheiten», die «immer gegolten haben und auch nach der Krise gelten», identisch mit der Erfüllung einer gerechten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung: Das «Wirtschaftssystem», das «die Volkswirtschaftslehre» zu ihren «Programm» erhoben hat, sei «sowohl effizient wie gerecht». Daher muss auch nicht etwa vom Gewinnprinzip abgerückt werden, denn «Renditen zu Lasten der Systemstabilität» – was immer dies genau sei – seien «kein nachhaltiges Geschäftsmodell». Offenbar glaubt Falkinger, das alles, was als ethisch falsch zu beurteilen sein könnte, für den Handelnden selbst «kurzsichtig und dumm» wäre, was exakt dem Business case for ethics entspricht. Dies ist der tiefere Grund dafür, warum auf eine ausdrückliche, dem ökonomistischen Mainstream gegenüber kritische Veranstaltung «Wirtschaftsethik» nach Falkinger verzichtet werden kann und soll. Denn nur so, wenn «Ethik» oder was dafür gehalten wird, mal eben so, en passant, von den Volks- und Betriebswirten ins Spiel gebracht wird, statt dies methodisch-diszipliniert zu tun, ist das ökonomistische Paradigma zu retten.

Erst Anfänge des Abschieds vom Ökonomismus

Von einem ganz anderen Kaliber sind da die Ausführungen von Marc Chesney, Professor für Finance und Vizedirektor des Instituts für Banking und Finance der Universität Zürich. Im Doppelinterview äußert er sich nie kritisch zu den Ausführungen Falkingers. Doch wird ziemlich rasch klar, dass er die Dinge ziemlich anders sieht. (Womit ich – endlich – am Punkt angelangt bin, mit dem dieses Essay hier anhebt.) Dies zeigt sich etwa daran, dass es nach Chesney gelte, «die finanzwirtschaftlichen und ethischen Dimensionen im Fachgebiet zu verbinden». Dass dies nicht ökonomistisch-harmonistisch, sondern integrativ-kritisch gemeint ist, zeigt sich daran, dass Chesney dem derzeit vorherrschenden Paradigma der Chicago School, das «an den Universitäten dominiert», kritisch gegenübersteht. Es zeigt sich vor allem in dem Aufruf «Sustainable and Responsible Finance» sowie dem «Basler Manifest für ökonomische Aufklärung»; beides hat Chesney mitinitiert. Dort wird, ganz ähnlich, wie die integrative Wirtschaftsethik schon lange die «Metaphysik des Marktes» zurückweist, vor der «quasireligiösen Überhöhungen des Marktes» gewarnt, wie sie «die neoliberale Glaubenslehre und die an sie anknüpfende Wirtschaftspolitik kultisch pflegen», was «die Möglichkeiten, das Marktgeschehen vernünftig zu gestalten», unterlaufe.

Solche marktrelativierenden Sichtweisen stellen bislang unter etablierten Fachökonomen die absolute Ausnahme dar. Zementiert wird der «absolute Geltungsanspruch» des Marktparadigmas, an den uns die «ökonomischen [Mainstram-] Theorien … gewöhnen» möchten, dadurch, dass die Gutachter der besagten A-Journals jede Marktkritik von vorn herein zurückweisen und ökonomismuskritische Bekenntnisse karriereschädlich sind. Chesney berichtet von einem «jungen Kollegen», der zwar hinter dem Aufruf zu einer «Nachhaltigen und Verantwortungsvollen Finanzwirtschaft» stehe, diesen aber nur anonym unterzeichnen wolle, da er ansonsten befürchte, dass seine Universitäts-Karriere ins Stocken gerate.

Dies sind unhaltbare Zustände, die einer Wissenschaft unwürdig sind. Denn eine «Ökonomik, die mit der Reflexion ihrer eigenen (normativen) Grundlagen abgeschlossen hat, ist als Wissenschaft am Ende» (Vorsicht: Eigenzitat!). Darum bedarf es der Unterstützung solcher Initiativen von außen – durch Bürger, Journalisten, Akteure der Zivilgesellschaft, die Politik, Unternehmer und Manager – und vor allem durch Studenten, deren Macht nicht zu unterschätzen ist. Zwar ist es bedauerlich, wenn die dringend nötige paradigmatische Öffnung der Ökonomik nur unter Druck passiert. Und eine Einsicht, die von außen erzwungen ist, dies ist ein Widerspruch in sich. Doch immerhin muss man sehen, dass mit einer ökonomismuskritischen, ethisch-reflexiven Ökonomik, die neben dem Standardparadigma eine Rolle spielte, schon einiges gewonnen wäre. (Jetzt mag der eine oder andere denke: die Ökonomen streiten sich doch ständig. Gibt es denn «das Standardparadigma»? Ja. Die Ökonomen sprechen nicht nur selbst davon; auch sind die Auseinandersetzungen innerhalb der etablierten Ökonomik weitestgehend allein solche darüber, wie das Marktprinzip innerlich konsequent auszulegen ist.) Ebenso muss man sehen, dass die wenigen Ökonomen, die dem vorherrschenden Paradigma kritisch gegenüberstehen (viele dürfen sich nicht wie Chesney outen wollen), dadurch eine deutliche Unterstützung erhalten. Wohl an!