16. April 2012
«Marktversagen» als Retter des ökonomistischen Kernparadigmas?

Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus

Ein Kommentar zu Bruno S. Frey

 

Wirtschaftswissenschaftler, die eine marktkritische, eine gegenüber der Marktlogik distanzierte Position einnehmen (was mit Marktablehnung nicht zu verwechseln ist), haben in den Wirtschaftswissenschaften keine Chance. Dies ist eine der Ausgangsthesen, die zum Memorandum «Für eine Erneuerung der Ökonomie» Anlass gab.

Nun vertreten zahlreiche Ökonomen die Ansicht, dass die etablierte Ökonomik weniger marktgläubig sei, als vielfach behauptet werde. Eine solche Voreingenommenheit wäre ja auch mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit einer Disziplin schwer zu vereinen. Die Offenheit der Wirtschaftswissenschaften behauptet etwa Rüdiger Bachmann (vgl. zur Kritik hier) oder Gebhard Kirchgässner (vgl. zur Kritik hier). Und Bruno S. Frey, der für die Ablösung des Nutzen- zugunsten des Glücksparadigmas von Ökonomik steht, mag mit seiner ganzen Person für diese Offenheit stehen. Die Verdienste Freys für die formale Öffnung der Disziplin durch seine Plädoyers für eine deutliche Relativierung bibliometrischer und weiterer vermeintlicher «Qualitäts»-Kriterien für die Bestimmung von Hochschulkarrieren und damit ganzen Forschungslandschaften sind unbestritten.

Dass sich Frey von der Markthuldigung gelöst hat, darauf scheint sehr klar hinzudeuten, dass er für «sinnvolle Alternativen zum Markt» plädiert. Über solche Alternativen nachzudenken sei notwendig, weil «Nutzen nicht nur materielle Güter und Dienstleistungen … umfasst.» Die Frage ist: was bedeutet «sinnvoll»? «Sinnvoll» ist nach Frey eine «Alternative zum Markt» dann, wenn sie hilft, «die Funktionsweise des Marktes … zu verbessern».

Genau dies ist der Gedanke, der hinter dem Konzept eines «Marktversagens» steckt. Hierbei «versagt» der reale Markt normativ mit Blick auf das Prinzip Markt. Dieses selbst kann in dieser Konzeption nicht «versagen», sondern wird im Gegenteil als normativer Referenzpunkt des «Versagens» realer Märkte oder auch anderer Interaktionsverhältnisse gerade ethisch vorausgesetzt. «Die Mängel unzureichend funktionierender Märkte», die «zu überwinden» seien, werden also durchs Marktprinzip definiert; sie bilden Ausnahmen von der Regel und sind überhaupt nur vom Standpunkt der (vermeintlichen) ethischen Gültigkeit des Marktprinzips aus gesehen «Mängel».

Wie intern stimmig dieses Konzept ist, steht hier nicht zur Debatte. (James M. Buchanan jedenfalls, der m.E. innerlich konsequenteste Vertreter des Marktprinzips – dieses paradigmatische Verständnis von Ökonomik findet sich hierzulande in der sog. Wirtschaftsethik Karl Homanns – lehnt das Konzept eines «Marktversagens» ab; vgl. hier, S. 203.) Dass Frey das Marktprinzip voraussetzt, zeigt sich etwa darin, dass diese «Alternativen zum Markt» auf jeden Fall ohne «Staatseingriffe» zu etablieren seien, also je privat. Denn jede politische Regulierung (dies wäre der adäquatere Begriff) führe ja nur zu einer «unerwünschten Gängelung der Bevölkerung durch die staatliche Bürokratie». (Der schlichte Unterschied zwischen Staatswirtschaft und regulatorischer Zähmung und Ordnung der Marktwirtschaft scheint Frey fremd. Vgl. zu letzterem Galbraith: «In der Welt, in der wir wirklich leben, wird jedes, aber auch wirklich jedes individuelle ökonomische Handeln von einem Regelwerk eingerahmt, das staatlichem Handeln entspringt.» Die Zerstörung dieses «Regelwerks», das ist der politische Neoliberalismus.)

Statt also die «Alternativen zum Markt» als eine zumindest auch und wesentlich politische Aufgabe zu begreifen, sollen sich die Bürger selbst etwa mehr «Freizeit» gönnen. Auch sollen «den Bürgern vermehrte Möglichkeiten» gegeben werden, «sich aktiv und wirkungsvoll politisch zu engagieren» – offenbar, weil sie dies glücklicher macht. Insbesondere plädiert Frey für mehr «direkte Demokratie»; dadurch soll sichergestellt werden, dass «Entscheidungen» aller Art «so weit wie möglich auf lokaler Ebene getroffen werden».

Abgesehen davon, dass dieser Vorschlag selbstverständlich eine Form der politisch-institutionellen Regulierung darstellt, die ansonsten als «Staatseingriff» schlecht geredet wird, soll sich alle politisch relevante Gestaltung also «unter den Bedingungen» der globalen Sach- und Wettbewerbszwänge – und damit des Prinzips Markt – abspielen. Was richtig oder «sinnvoll» ist, soll offenbar im Standortwettbewerb zu «entdecken» (Hayek) sein bzw. ist durch das faktisch tatsächlich bestehende Prinzip eines globalen wettbewerblichen Marktes bereits vorentschieden. Hat Frey tatsächlich nicht mitbekommen, dass Politik und Bürger ihre Freiheit – in jeder anderen Dimension als der Marktfreiheit, d.h. der Freiheit, von der eigenen Marktmacht (Zahlungsfähigkeit und Produktivität) in allen Stücken freien Gebrauch zu machen – sehr weitgehend verloren haben. Wer es nicht glaubt, der lese dies für die politische und dies (S. 215 ff.) für die individuelle Dimension der Freiheit.

Muss uns tatsächlich ein Ökonom sagen, dass mehr «Freizeit» unserem «Glück» zuträglich sein mag? Wenn wir sie uns denn leisten können, wäre ja wohl hinzuzufügen. Und dies ist vor allem eine Frage der (schon lange globalen) Wettbewerbsverhältnisse, die Frey aber offenbar der Thematisierung entziehen will. Darum – und übrigens etwa auch, weil Frey vom «Wert [sic] der Freizeit» spricht – ist Frey kein Abweichler vom ökonomischen Kernparadigma und ist Teil des wirtschaftswissenschaftlichen Establishments. Ein offenerer Geist als die allermeisten seiner Peers ist er gleichwohl.