27. September 2014
Ist Freihandel prinzipiell gut – wenn nur die Nebenbedingungen stimmen?

Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomisierung, Ökonomismus

Die falsche Meinungsführerschaft des Sigmar Gabriel

 

Sigmar Gabriel hat es geschafft, seine Partei auf ein Ja zum Freihandel (TTIP und CETA) einzuschwören. Es soll ein Ja sein mit einem Aber. Freihandel ist nämlich in jedem Fall eine gute Sache, er schaffe ja prinzipiell «zusätzlichen Wohlstand», wie in der gemeinsamen Erklärung zwischen DGB und SPD festgehalten wird. Darum sei der «Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse» (die tarifären sind ja bereits weitgehend abgebaut) eine «Chance» und könne «grundsätzlich im gegenseitigen Interesse sein», womit offenbar die (legitimen) Interessen aller Bürger der beteiligten Staaten innerhalb der EU und der USA gemeint sein müssen. Es sei möglich, diesen «zusätzlichen Wohlstand», den wir alle offenbar ersehen, «breiten Bevölkerungsschichten zukommen zu lassen». Dies sei aber auch eine Bedingung dafür, den anstehenden Freihandelsabkommen die Zustimmung zu erteilen. Ebenso zählt zu diesen Bedingungen der Erhalt des Schutzniveaus im Bereich bestehender «Arbeitnehmerrechte, Verbraucherschutz-, Sozial- und Umweltstandards». Und auch «Investor-Staat-Schiedsverfahren» sei eine Absage zu erteilen. Unter diesen und vielleicht noch weiteren Bedingungen aber liege TTIP, überhaupt der Freihandel, im «Interesse der europäischen Bürgerinnen und Bürger».

Der Trick mit der «Gestaltung der Globalisierung»

Gabriel definiert dabei den Slogan «Gestaltung der Globalisierung» um. (Ich hatte diesen bislang protektionistisch gedeutet, wobei ich darunter vor allem einen unilateralen Protektionismus meine im Sinne von wettbewerblichen Waffenstillstandsabkommen, so dass sich die Politik nicht länger «unter den Bedingungen» des globalen Standortwettbewerbs vollzieht, sondern sie diesen Wettbewerb selbst gestaltet und begrenzt, so dass er keine vorgegebene «Bedingung» mehr wäre, wodurch allererst politische Freiheit zurückzugewinnen wäre.) Er bedeutet nun: Ja zur «Globalisierung», womit offene Märkte bzw. Freihandel gemeint ist, wenn diese nur «durch demokratische Politik gestaltet» wird. Es bedarf vielleicht anderer «Spielregeln», aber dies sind «Spielregeln für die Globalisierung» (Hvh.U.T.), für mehr «Globalisierung». Das  «Spiel», der globale Wettbewerb, muss weiterhin und es muss intensiver gespielt werden.

Warum will Gabriel TTIP unbedingt – wenn auch unter Bedingungen, die die Kritiker zum Verstummen bringen sollen und die dem Sozialdemokraten Gabriel auch selbst am Herzen liegen dürften? Gabriel versteht sich, wie so ziemlich jeder Politiker, sobald er ein Amt bekleidet, als Arbeitsplatzbeschaffer, als tatkräftiger statt «tatenloser» Standortpolitiker. Hier sieht er seine (nur mehr technische, a-politische) Kompetenz, seine «Wirtschaftskompetenz» nämlich, weshalb er als SPD-Chef offenbar das Amt des Wirtschaftsministers gewählt hat. Und offenbar glaubt er, offene Märkte, d.h. der Abbau von «Handelshemmnissen» aller Art, schafften Arbeitsplätze. Darum seien nicht er, sondern die Vertreter der Opposition, die eigentlichen «Jobkiller», da sie offenbar grundlegende Bedenken gegen TTIP hegten, «ganz egal, was wir aushandeln». Gabriel führt als Beispiel die «Hunderttausenden» an Beschäftigten an, die «in mittelständischen Unternehmen arbeiten» und die ohne TTIP «keine Chance haben, auf den amerikanischen Markt zu kommen». Warum sie dort eindringen wollen sollten, verschweigt Gabriel allerdings. Entweder wollen sie einen «zusätzlichen Wohlstand» oder sie wollen ihren Wohlstand erhalten – weil dieser durch den Wettbewerb gefährdet wird, der doch auch durch TTIP weiter angefeuert würde.

Gabriel versteht den Wettbewerb nicht, weil da niemand ist, der ihm dessen Problematik erläutern könnte. Sicher nicht im Wirtschaftsministerium, voll besetzt mit ausgebildeten oder verbildeten Ökonomen, die wohl alle dem Wirtschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung, Alexander Hagelüken – natürlich seinerseits ein studierter Volkswirt – zustimmen dürften: «Handel schafft Wohlstand. Punkt.» So kenne Gabriel «niemanden, der Zölle sinnvoll findet». Auch wenn es im Falle von TTIP kaum mehr um Zölle geht (sondern um «nicht-tarifäre Handelshemmnisse»), so müsste sich Gabriel doch fragen: Warum gibt es (heute nur noch teilweise) und warum gab es eigentlich diese vollkommen «sinnlosen» Zölle? Besteht da vielleicht ein Zusammenhang zwischen der sehr weitgehend protektionistisch gestalteten Weltwirtschaft vor der neoliberalen Wende, die um das Jahr 1980 einsetzte (man lese Robert Reich zum «Beinahe Goldenen Zeitalter» der Wirtschaft der Nachkriegszeit), und einer damals deutlich breiteren Teilhabe der Beschäftigten am gemeinsam erwirtschafteten Wohlstand, der noch einer «für alle» war, und die dabei auch noch deutlich höhere Wachstumsraten erzeugte? Könnte es sein, dass ein durch Zollschranken (oder anderes) begrenzter (nicht eliminierter!) Wettbewerb für die Beteiligten lebbarer ist und darum nicht zu den «sinnlosen Katastrophen» (in Form von Arbeitslosigkeit nämlich) führt, derer sich Schumpeter noch bewusst war? Und könnte ein begrenzter Wettbewerb nicht auch einen Eigenwert haben, für die Lebensqualität nämlich?

Implizit geht Gabriel von der Trennung von marktinternen und marktexternen Effekten aus. (Marktinterne Effekte sind mit der Ausweitung des Marktes und der damit verbundenen Intensivierung des Wettbewerbs zwischen Beschäftigten untrennbar verknüpft. Marktexterne Effekte hingegen können, im Prinzip jedenfalls, als davon unabhängig vorgestellt werden.) Problematisch könnten allein die (negativen) externen Effekte der anvisierten Freihandelsabkommen sein, nur die «Neben-wirkungen» des Freihandels, also etwa negative Auswirkungen auf Verbraucherschutzstandards, Arbeitnehmerrechte, die öffentliche Daseinsvorsorge, auf kulturelle Vielfalt, demokratische Selbstbestimmung usw. Unproblematisch hingegen sind der Freihandel selbst und seine marktinternen Effekten, die «pekuniären Effekte», die, sollten sie negativ ausfallen, nach verbreiteter Auffassung innerhalb der Zunft der Ökonomen als «irrelevant» zu gelten haben, also niemals falsch sind (vgl. Das Prinzip Markt S. 280 ff.). Die erste Frage, die sich hieran anschließt, ist, ob sich diese Trennung aufrechterhalten lässt. Die zweite Frage ist, ob diese marktinternen Effekte für sich betrachtet als unproblematisch zu begreifen sind.

Zur Trennbarkeit von internen und externen Effekten

Die Nicht-Unabhängigkeit zwischen den marktexternen und marktinternen Folgen, die die Etablierung von TTIP (oder anderer Freihandelsabkommen) zeitigen würden, ergibt sich bereits daraus, dass ja schon praktisch alles zwischen den USA und der EU «liberalisiert» ist (es gibt kaum mehr Zölle) und eine weitere Liberalisierung tief in das politische Gemeinwesen eingreifen würde. Wenn man also mehr marktinterne Effekte, mehr Freihandel will, geht dies nurmehr durch Verletzung der Standards, deren Erhalt doch gerade zur Bedingung für mehr Freihandel erklärt wird. Daniel Haufler von der Berliner Zeitung formuliert dies so: «Würden die Sozialdemokraten an ihren Forderungen ernsthaft festhalten – keine Investorenschutzklausel (auch nicht beim Freihandelsabkommen mit Kanada), kein Sozial- und Umweltschutzdumping und Schutz der Gewerkschaftsrechte – dann müssten sie die Verhandlungen abbrechen. Denn TTIP soll genau das Gegenteil erreichen. Wie in allen anderen bisher weltweit geschlossenen Freihandelsabkommen.» Gabriel müsste also genau das tun, was er gerade vermeiden will, nämlich CETA (die Blaupause für TTIP) «in den Orkus werfen».

Man darf gespannt sein auf den Kampf zwischen Gabriel und den Kritikern von TTIP (deren – berechtigte und gewichtige – Kritik sich im Kern um die externen Effekte im obigen Sinne dreht). So muss ja erstaunen, dass das 1500-seitige Blaupausen-Abkommen mit Kanada, CETA, offenbar nur wegen der Investitionsschutz-Klauseln auf Gabriels Geheiß hin «korrigiert» werden soll. Und was ist mit dem ganzen Rest, etwa dem Zugriff auf Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge und ihrer «Verwertung»? Hier eine Übersicht der Befürchtungen des Trade Justice Networks. Und auch mit Blick auf die Schiedsverfahren gibt es Anzeichen dafür, dass Gabriel von seiner Erklärung abweicht, nur ohne diese gäbe es die Zustimmung Deutschlands zu TTIP bzw. CETA. Die Argumentationslinie ist nun, dass diese privat-überstaatlichen Investorenschutzverfahren für die Investoren selbst im Vergleich zum ordentlichen Rechtsweg nachteilig seien und damit «entbehrlich» – womit gemeint sein könnte, dass es «entbehrlich» sei, den Verzicht auf diese zur Bedingung dafür zu machen, dass Deutschland den anstehenden Freihandelsabkommen zustimmt. – Es ist zu erwarten, dass es den zivilgesellschaftlichen Kritikern leicht fallen wird, Gabriel Wortbruch zu seinen gemeinsam mit dem DGB verfassten Hürden für TTIP (und CETA) nachzuweisen. Vielleicht hält es Gabriel ja dann mit Jean-Claude Juncker und setzt darauf, dass «die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde» und es dann ohnehin zu spät sein wird, so dass es «kein Zurück mehr gibt».

TTIP als «Jobkiller»

Wie dem auch sei. Stellen wir uns einfach einmal vor, es könnte ein Freihandelsabkommen mit Kanada oder, deutlich gewichtiger, mit den USA geben, und alle Bedingungen seien erfüllbar. (Diese Bedingungen betreffen, bis auf die Partizipation «breiter Bevölkerungsschichten» am behaupteten «zusätzlichen Wohlstand» durch Freihandel, externe Effekte im hier gebrauchten Sinn des Begriffs.) Wer ist dann der «Jobkiller», die Befürworter eines sozusagen von negativen externen Effekten gesäuberten Freihandelsabkommens (so dies nicht nur Wunschdenken ist) oder die prinzipiellen Gegner? Die Antwort fällt eindeutig aus: «Free trade does the reverse [of creating jobs]. It eliminates jobs.” (Mckenzie, R.B.: The American Job Machine, 1988, S. 10; die Hintergründe werden etwa hier erläutert.) Es fragt sich allerdings, in welchem Land die Jobs verloren gehen. Gabriel setzt offenbar darauf, dass die Arbeitsplätze außerhalb Deutschlands zerstört werden, bzw. ob dies der Fall ist, scheint ihn nicht zu kümmern. («Wir sind das exportstärkste Land Europas… Wer, wenn nicht wir, hat eigentlich ein Interesse an Freihandel?») Und so prognostizieren diverse Studien ja auch die Arbeitsplatzverluste vor allem außerhalb der anvisierten EU-USA-Freihandelszone. Kritische Keynesianer nennen dies «Export von Arbeitslosigkeit»* und reichen sofort die Frage nach, wer denn dann all die für den Export produzierten Produkte kaufen können sollte. Aber vielleicht braucht Deutschland ja Mexiko, Niger und Algerien nicht als Absatzmärkte.

*(«Export von Arbeitslosigkeit» bedeutet: Man senkt die Kosten und damit die Löhne und Gehälter oder setzt die heimischen Arbeitnehmer gegeneinander in Wettbewerb, so dass die Arbeitslosigkeit steigt und sie somit als Käufer all der Produkte ausfallen bzw. nur noch in geringerem Maße als benötigt zur Verfügung stehen. Die ausgefallene Nachfrage findet man sodann im Ausland, in das man preisgünstig die Produkte absetzt, was als «Exporterfolg» gefeiert wird und Arbeitslosigkeit und Lohnausfälle im Inland teilweise zu kompensieren können vermag. Die neue Nachfrage bzw. Kaufkraft im Ausland findet man aber nur dadurch, dass die ausländischen Konsumenten nun in geringerem Maße bei «ihren» Mitbürgern kaufen, so dass nun diese arbeitslos werden.)

Arbeitsplatzverluste würden aber selbstverständlich auch und wohl vor allem innerhalb der EU-USA Zone anfallen und damit auch in Deutschland. Nur werden diese aus den Modellen herausgerechnet, wobei der Trick darin besteht, den Zwang, nach dem Arbeitsplatzverlust eine neue Anstellung zu finden, zu negieren und die Arbeitslosigkeit erst nach dieser «Anpassung» zu schätzen. Schließlich ist Arbeitslosigkeit, wie Ökonomen seit Say gerne betonen, ein «vorübergehendes Phänomen», womit der Zwang zur Anpassung an Wettbewerbszwänge einfach wegdefiniert wird (vgl. vertieft hier, S. 329 ff.) Dabei hilft ein tiefer Reservationslohn (Hartz IV) übrigens weiter, weil dann niemand «in der Hängematte» liegen kann, sondern jeder gezwungen ist, rasch den nächstbesten Job anzunehmen. Der ist dann allerdings in der Regel tiefer vergütet, wie die wohl einzige kritische ökonomische Studie zu TTIP, durchgeführt von der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE), übrigens unter Berufung auf einen OECD-Report, festhält: «Most displaced workers will earn lower wages in their new jobs.»

Es gibt keine Ausweitung marktökonomischer Tauschvertragsbeziehungen, kein mehr an «Freihandel», keine zusätzliche Schaffung von Arbeitsplätzen, keine «Schöpfung» ohne eine «Zerstörung» von Arbeitsplätzen bzw. allgemeiner: ohne marktökonomischen Druck auf andere Beschäftigte.

Dies hat mehrere Dimensionen. Naheliegend ist natürlich eine erhöhte Arbeitslosigkeit (vgl. ÖFSE, S. 26 f.). Für NAFTA einschlägig sind vor allem die Daten eines us-amerikanischen Programms mit dem Namen «Trade Adjustment Assistance», welches eigens dafür geschaffen wurde, um den globalen Wettbewerbsdruck durch wachsende Importe auf us-amerikanische Beschäftigte abzumildern. Nach der offiziellen Statistik verloren 845 000 Beschäftigte innerhalb der USA durch NAFTA ihren Job. Die wie üblich bestens finanzierten ökonomentrischen und gerne als «wissenschaftlich» apostrophierten Studien hatten ein Jobplus von «netto» (sic) 200 000 versprochen. («Netto» bedeutet etwa: Eine Millionen verlieren ihren Job, aber nach ein paar Jahren, die diese mit Umschulung, Humankapitalbildung, Wohnortwechsel und weiteren «Anpassungen» verbringen, gibt es 1,2 Millionen Jobs. Vielleicht übrigens darum, weil die eine Million Beschäftigte nun weniger verdienen und daher weitere Haushaltsmitglieder zusätzlich eine Beschäftigung aufnehmen müssen, um das Haushaltseinkommen einigermaßen zu halten.) In Mexiko wurden übrigens mehr als eine Million Maisbauern durch NAFTA arbeitslos.

Eine weitere Dimension marktinterner Effekte betrifft Einkommensverteilungsfragen. Wie gesagt: Wer seinen Job unfreiwillig verliert, verdient im neuen Job, so er einen findet, in der Regel weniger. Insgesamt steht zu befürchten, dass sich die seit etwa dreißig Jahren wachsenden Einkommens- und Vermögensdisparitäten weiter verschärfen. Und zwar zugunsten des Kapitals und seiner «Agenten» (Manager, Banker, Berater), wobei das Kapital dadurch allerdings weiter in den Anlagenotstand gerät. Es sei denn, es verprasst den Geldsegen im Konsum, was dem Modell Plutonomy entspricht.

Eine dritte Dimension marktinterner Effekte wird in keiner mir bekannten Studie thematisiert: die weitere Ökonomisierung der Lebensverhältnisse. »TTIP would lead to potential "losers and winners"», formuliert die ÖFSE, und dies lässt sich aus jeder Studie zum Freihandel herauslesen (wenn die Verliererseite auch mehr oder minder trickreich wieder herausdefiniert wird). Doch fallen die «Verluste» eben auch in nicht-marktlichen Werten an, insbesondere im Wert, ein nicht mit jeder Faser marktkonformes Leben führen zu müssen, wozu man jedoch gezwungen ist, um nicht aus dem Markt geworfen zu werden.

TTIP als Markstein im Weltwirtschaftskrieg

Dies alles interessiert den Standortpolitiker Sigmar Gabriel nicht, wobei hinzuzufügen ist, dass er darin mit Angela Merkel einig ist – mit welchem amtierenden Politiker denn eigentlich nicht? Das oberste Gebot der zur Sozialtechnik erstarrten Politik ist die Schaffung von Arbeitsplätzen und das sich «Fit»-Machen des Standortes, d.h. der Bürger, für den globalen Wettbewerb – ohne zu erkennen, dass dadurch der Wettbewerb weiter verschärft wird, wodurch erneut «liberalisiert» werden «muss», usw. usf.

Wissen Gabriel und seine ökonomischen Sherpas im Wirtschaftsministerium tatsächlich nicht, dass TTIP auch hier in Deutschland Arbeitsplätze zerstören wird? Einem Politiker müsste man eigentlich sagen, dass er die mit dem Freihandel unausweichlich verbundenen Konflikte abwägen und seine hoffentlich differenzierte Position hierzu in redlicher statt beschönigender Weise öffentlich zur Diskussion stellen müsste. Aber die Zeiten einer solchen substantiellen Politik scheinen seit ihrer Entmachtung durch den globalen Wettbewerb vorbei. Von nun an befinden wir uns in der Tretmühle des globalen Wettbewerbs. Und hier scheint der eigentlich Grund für den Drang hin zu TTIP zu liegen. Die Möglichkeiten des unilateralen Neoliberalismus sind weitgehend ausgeschöpft, nun gehen wir zur zwischenstaatlichen Vermarktlichung der Welt über. Dabei gilt es, China zuvorkommen und zu verhindern, dass sich die USA mit dieser Weltmacht zu einer Freihandelszone zusammenschließt, so dass Europa und damit auch Deutschland im globalen Weltwirtschaftskrieg um Marktanteile «ins Hintertreffen» geriete, was Bundeskanzlerin Angela Merkel unter allen Umständen verhindern möchte. Allerdings möchte man den freihändlerischen Zusammenschluss sozusagen des Westens gegen den Osten (und Süden) mit dem Argument verkaufen, dass mit TTIP, so Gabriel, «wir», also der Westen, «Richtung und Tempo der Globalisierung bestimmen» könnten, indem wir nämlich «weltweite Standards» setzen. Natürlich für den Freihandel. Ansonsten täten dies «die großen Wirtschaftsräume Asiens – allen voran China.»

Damit zeigt die Regierung nicht nur, dass sie den Zusammenhang zwischen marktinternen und marktexternen Effekten («Standards») nicht verstanden hat, was Christoph Süß vom satirischen Politikmagazins quer zu der sarkastischen und treffenden Bemerkung veranlasst hat: «Lasst uns unsere Gesundheitsstandards vorsorglich jetzt schon aufweichen, bevor es die Chinesen tun.» Auch negiert sie so die Problematik der negativen marktinternen Effekte hüben wie drüben (Arbeitslosigkeit, Einkommensdisparitäten, Ökonomisierung der Lebensverhältnisse). Und dabei liegt die Alternative zu TTIP, zur weiteren Intensivierung des globalen Wettbewerbs, doch auf der Hand, konzeptionell jedenfalls.

Wir brauchen, jedenfalls wir im Westen, nicht mehr Wohlstand. Wir sind vielmehr zum Wachstum nur «unter den Bedingungen» (Karl Homann) des globalen Wettbewerbs um Marktanteile verdammt, um unseren Wohlstand nur schon zu halten. Darin besteht doch, neben der ökologischen Nachhaltigkeitsfrage, der wohlverstandene Kern der zunehmenden Wachstumskritik. An die Stelle von TTIP träte nicht «Tatenlosigkeit», wie Gabriel unterstellt, sondern ein Hinwirken auf globale wettbewerbliche Waffenstillstandsabkommen. Dies ist zweifelsfrei der ursachengerechte Weg, den Verlust von Arbeitsplätzen zu vermeiden. Er erforderte allerdings einen politischen Paradigmenwechsel. Und dieser wiederum einen Paradigmenwechsel oder jedenfalls paradigmatische Offenheit innerhalb der Wirtschaftswissenschaften. Um die Deutungshoheit der Ökonomen zu brechen, die stets für, niemals gegen «offene Märkte» votieren.

Und dann müssen wir vielleicht auch nicht mehr Kommentare von Journalisten erdulden, die sich als Kenner der ökonomischen Sachlage wähnen und doch bloß nacherzählen, was ihnen der ökonomistische Mainstream als gesicherte Erkenntnis vorgaukelt. Bei der Kritik an TTIP und CETA handele es sich um eine «hoch emotionalisierte Debatte», lesen wir in der Frankfurter Rundschau (bei der FAZ würde man sich ja nicht wundern), was natürlich stets bedeutet: die Gegner haben die besseren Argumente nicht auf ihrer Seite. Ja sie haben noch nicht einmal Argumente, sondern nur «dumpfe Gefühle», jedenfalls soweit sie nicht die «Standards» meinen (die externen Effekte des Freihandels), sondern den «Kern» des «freien Handels» selbst (die internen Effekte also), gegen den «wenig einzuwenden» sei. «Rein ökonomisch», meint der ahnungslose Autor, «stünde unter dem Strich ein Plus für den Freihandel». Schließlich sei es immer gut, wenn «das Einkaufen billiger» und der «internationale Handel erleichtert» würde [also Einkommensströme unmittelbar oder mittelbar zerstört werden, wäre hier auszubuchstabieren]. Wenn dies wenigstens von einem ideologisch im Marktlibertarismus gefestigten Autor stammte, der seinen Hayek, Mises oder Friedman gelesen hat. Die Unbedarftheit der Markthuldigung schmerzt. Vermutlich spricht sich hier auch nur die Befürchtung aus, sich sonst ins Abseits des Meinungsspektrums zu begeben. Denn eine kritische Haltung zu offenen Märkten an und für sich findet man im professionellen, als seriös geltenden Spektrum der Expertenmeinungen ja in der Tat derzeit praktisch nicht. Dies muss sich dringend ändern.

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Resonanzen

 

Zeit-Online: Kommentare 25, 26

Die Presse: Kommentar vom 14.04.2015, 13:48