10. August 2015
Hat die Ethik keinen Platz in der ökonomischen Theorie?

Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus

Ökonomismuskritik - so knapp wie möglich

 

Die Hauszeitschrift der Eidgenössischen Departments für Wirtschaft, Bildung und Forschung «Die Volkswirtschaft» bat mich im Zuge ihres Schwerpunktes zur Frage, was aus der Kritik an «der Ökonomenzunft» im Gefolge der Finanzkrise 2008 geworden ist, zur Frage Stellung zu nehmen: «Hat die Ethik keinen Platz in der ökonomischen Theorie?»

Mir kam die Frage zunächst selbstsam vor. Ja, welche Rolle spielt denn «die Ethik» – gemeint sein dürfte eher: die Moral bzw. Moralität – «in der ökonomischen Theorie», die offenbar als paradigmatisch einheitlich vorgestellt wird? Dies ist vielleicht auch eine interessante Fragestellung, aber grundlegender ist ja doch wohl der Umstand, so jedenfalls die von mir vertretene These, dass «die ökonomische Theorie» im Ganzen eine Ethik repräsentiert, also normativ ausgerichtet ist. Und diese Ethik ist der Ökonomismus.

So bot der Beitrag die Gelegenheit für die wohl knappest mögliche Darlegung des Ökonomismus. Denn es standen nur 7500 Zeichen für den Haupttext plus 950 Zeichen für den Abstract zur Verfügung. Ausgeschöpft wurden 7489 bzw. 948 Zeichen. 

Der Text erschien unter dem Titel «Homo oeconomicus ist das Allerheiligste der Volkswirtschaft» (in: Die Volkswirtschaft, Nr. 8-9, 2015, S. 26-28) und ist hier online verfügbar. Es gab ein paar redaktionelle Änderungen. Hier der ursprünglich eingereichte Text:

Hat die Ethik keinen Platz in der ökonomischen Theorie?

 

Abstract

Seit der Finanzkrise stellt man sich nicht mehr ins Abseits, wenn man grundlegend Kritik an der neo­klassich-neoliberal ausgerichteten ökonomischen Theorie übt, deren Paradigma die heutige Forschungslandschaft nach wie vor beherrscht. Dabei wird häufig kritisiert, diese ökonomische Theorie würde sich jenseits aller Ethik bewegen. Dies verkennt jedoch die besondere Ethik dieses Paradigmas, die sich als Ökonomismus fassen lässt. Dessen normativer Geltungsanspruch, der sich als «die ökonomische Sicht» zu verstehen gibt, gilt es zu erfassen und kritisch auf seine Einlösbarkeit hin zu untersuchen, und zwar sowohl auf der Ebene der Handlungsethik als auch der politischen Ethik. Insofern die Ethik der hegemonial vertretenen und gesellschaftspolitisch ausserordentlich einflussreichen ökonomischen Theorie zumindest fragwürdig ist, ist die Etablierung von paradigmatischer Pluralität eine Aufgabe von höchster wissenschaftspolitischer Priorität.

 

Der Laie könnte meinen, die Ethik hätte keinen Platz in der ökonomischen Theorie. Predigen die Ökonomen nicht «Egoismus»? Und ist der seinen Nutzen maximierende Homo oeconomicus nicht das Allerheiligste der Disziplin? Genau so verhält es sich. Aber gerade darin besteht die besondere Ethik der vorherrschenden ökonomischen Theorie. Diese Ethik lässt sich darin zusammenfassen, dass Nutzenmaximierung als Ausdruck von «Rationalität» gilt und die Interaktionsverhältnisse dem Massstab ihrer «Effizienz» zu genügen haben. Die beiden Begriffe «Rationalität» und «Effizienz», die das Identitätsprinzip der Disziplin markieren, sind normativer Natur. «Rationalität» betrifft die Handlungsethik, «Effizienz» die politische Ethik. Wer von «Effizienz» spricht, meint zumeist, dass diese möglichst zu steigern sei. Und wer die instrumentelle Vernunft des Homo oeconomicus zum Inbegriff von «Rationalität» erklärt, der spricht entgegenstehenden Auffassungen vom richtigen Handeln die Verbindlichkeit ab.

Erfolgsrationalität als Inbegriff richtigen Handelns?

Gegen den Vorwurf, «Egoismus» zu predigen, wenden viele Ökonomen ein, der Homo oeconomicus könne doch auch «moralische Präferenzen» hegen. Manch einer fühle sich besser und steigere also seinen Nutzen, wenn er «moralische Zielsetzungen» verwirklicht sehe. Deren kosteneffiziente Durchsetzung gegen Widerstände («constraints») ist dann wieder Sache der «Rationalität». Beim Homo oeconomicus handle es sich daher um ein ethisch neutrales Konzept, welches über jeden ethischen Zweifel erhaben sei und überdies mehr «Rationalität» in die Welt bringe.

Doch bleibt das Handeln auch des «moralischen» Homo oeconomicus anderen gegenüber eigeninteressiert. Er nimmt sie allein in ihrer Widerständigkeit wahr und versucht sie durch Anreize oder Entlassungen zum gewünschten Verhalten zu bewegen. Dass sie vielleicht berechtigte Einwände gegenüber den angeblich «moralischen Zielsetzungen» haben, wird hier ausgeschlossen. Diese Einwände ernst zu nehmen, widerspräche dem Rationalitätsverständnis des Homo oeconomicus.

Im Ergebnis wird hier einem Gesellschaftsmodell das Wort geredet, in dem sich alle Akteure wechselseitig an- oder abreizen und jeder auf nichts als auf die Steigerung seines privat definierten Erfolgs ausgerichtet ist. Sie interessieren sich nur mehr in ihren nützlichen oder schädlichen Wirkungseigenschaften, mit Kant gesprochen: «bloss als Mittel», nicht «als Zweck», nicht als Wesen gleicher Würde. Rechtfertigungsfähig ist dieses Konzept praktischer Vernunft schlechterdings nicht. Die Rechtfertigung würde ja die Anerkennung unserer Interaktionspartner als Individuen, die uns gegenüber möglicherweise berechtigte Einwände vorbringen könnten, voraussetzen.

Dies könnte einer der Gründe für den Siegeszug der Verhaltensökonomik sein. Diese soll das Kunststück vollbringen, die Kritik am ökonomistischen Kernparadigma zu entkräften, ohne es zu überwinden. Nicht nur erlaubt die Hinwendung zum Empirismus, sich als eine «positive», für «wertfrei» gehaltende Theorie zu präsentieren und damit den Eindruck zu zerstreuen, beim paradigmatischen Kern der Disziplin handele es sich um eine fragwürdige Ethik, ja um eine Ideologie, nämlich um die Marktideologie. Auch kann man sich gerade dadurch vom Ruch, einem allgemeinen Egoismus das Wort zu reden, befreien. Denn die experimentelle Ökonomik findet heraus, dass die Leute in der Regel gar nicht so «rational» handeln, wie man sich bislang anzunehmen genötigt sah, um die Allgemeinheit und damit die Legitimität des Homo oeconomicus zu rechtfertigen, wobei man nach dem Motto verfuhr: Wenn alle so handeln, dann muss es damit ja doch seine Richtigkeit haben.

Dass die Verhaltensökonomik das ökonomistische Kernparadigma nicht aufgibt, zeigt sich bereits daran, dass ihr Nutzenmaximierung nach wie vor als Inbegriff «rationalen», also richtigen Handelns gilt. Dass etwa Eltern das Kindergeld in der Regel seiner Intention gemäss zum Wohle der Kinder ausgeben, statt damit ihre eigenen Konsumbedürfnisse zu befriedigen, gilt ihr als Ausdruck von «Verzerrungen». Wenn aber der Homo oeconomicus nicht, jedenfalls nicht zwingend, auf Seiten der Empirie zu verorten ist, wo dann? Nun, er wandert vom Gegenstand, von «den Menschen», zum Adressaten der Theorie – als ihrem Kunden. Die Einsicht in empirisch vorfindliche «Entscheidungsschwächen» ist nämlich der Ausgangspunkt für die effiziente Steuerung des Verhaltens «der Menschen» und die Ausnutzung ihrer Schwächen. Dies ist der Grund, warum sich diese empiristische Forschungsrichtung als Verhaltensökonomik bezeichnet.

Effizienz als Prinzip politischer Ethik?

Die klassische materiale Rechtfertigung der Vorteilsmaximierung ist bekanntermassen die, dass seine Verfolgung dem Gemeinwohl bzw. «der Effizienz» dient, womit konkret Wachstum gemeint ist. Dabei muss eine überpersönliche Macht vorausgesetzt werden, die berühmte «unsichtbare Hand» des Marktes. Dass dieser metaphysische Glaube nach wie vor vorherrscht, zeigt nicht nur ein Blick in so ziemlich jedes ökonomische Lehrbuch, sondern auch der Umstand, dass verbreiteter Vorstellung zufolge die Finanzkrise auf utilitäre Irrationalität zurückzuführen ist, da die Finanzmarktakteure, statt ihr wahres, langfristiges Gewinnmaximierungsinteresse zu verfolgen, von «animal spirits» beseelt waren – wie plausibel dies auch immer angesichts der Bail-Outs und des Blicks in die Reichenstatistiken sein mag.

Dass Interaktionsverhältnisse letztlich nicht etwa «effizient», sondern vorrangig gerecht zu sein haben, kümmert die Effizienzapostel wenig. Ausweichen können sie der Gerechtigkeitsfrage allerdings nicht, denn es lässt sich ja stets die Frage stellen: Effizient für wen, und für wen nicht? Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass der ideologische Sinn des Effizienzkriteriums darin besteht, die Wettbewerbsverlierer aus den Modellen herauszurechnen.

In der utilitaristischen Variante wird der geringere Verlust der einen durch den grösseren Gewinn der anderen gerechtfertigt, so dass sich die Verlierer der Steigerung eines vermeintlichen Gesamtnutzens zu opfern haben. Die paretianische Variante, bei der niemand verlieren soll, ist entweder auf den Wettbewerb nicht anwendbar, oder Verluste werden als Investitionen uminterpretiert, die sich morgen wieder auszahlen. So gilt Arbeitslosigkeit als «vorübergehendes» Problem, welches die Betroffenen «eigenverantwortlich» durch entsprechende Investitionen in ihr Humankapital zu bewältigen haben. Die Folge ist eine allgemeine Ökonomisierung der Lebensverhältnisse, da denjenigen, welche ihr Leben nicht vollständig auf die Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit ausrichten, der Absturz droht.

Paradigmatische Pluralität tut not

Der vorherrschenden Ökonomik fehlen konzeptionell Mass und Mitte. Allein darin besteht das Problem. Sie votiert stets für Ökonomisierung, niemals dagegen oder für deren Relativierung. Dies findet seinen theoretischen Niederschlag in «ökonomischen Theorien» für praktisch jeden Lebensbereich –die Bildung, die Politik, das Recht, die Umwelt, die Moral usw. Die ökonomische Theorie ist eine «imperialistische» Wissenschaft, wie sie selbst bekennt. Darin besteht ihr Argumentieren «aus ökonomischer Sicht». Dies allerdings ist eine verfehlte, jedenfalls hinterfragungswürdige wirtschaftsethische Position. Daher bedarf es dringend einer pluralistischen Öffnung der Wirtschaftswissenschaften, so dass der argumentative Streit über die ethisch richtige Auslegung der markt-wettbewerblichen Interaktionsverhältnisse und den Status der Marktlogik wieder zu einem normalen Bestandteil des wirtschaftswissenschaftlichen Diskurses wird.