Freihandelsabkommen TTIP – Wie die Wettbewerbsverlierer aus den Modellen der Ökonomen herausgerechnet werden
Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus, Regulierung, Kapital
Plädoyer für die Thematisierung nicht nur der externen, sondern auch der marktinternen Effekte des Freihandels
1. Paradigmenwechsel der Politik: Das Ende substantieller Regulierung
Nach allem, was man vom geplanten und bereits – freilich hinter verschlossenen Türen zwischen EU- und US-Bürokraten und Unternehmensvertretern – verhandelten Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA, TTIP genannt, weiß, handelt es sich um ein sattes Geschenk ans Kapital – ans «Kapital des 21. Jahrhunderts» (Thomas Piketty). Nicht, jedenfalls nicht so ohne weiteres an «die Konzerne», wie Kritiker zumeist formulieren, denn deren Management ist nur mehr der «Agent» des Kapitals als dem «Prinzipal» der Unternehmen, der qua Market for Corporate Control dasjenige Management einsetzt, welches die Gewinne tatsächlich maximiert. (Aktuelles Beispiel gefällig? Amazon verzögert die Auslieferung von Büchern derjenigen Verlage, die sich weigern, für E-Books statt bislang 30% von nun ab 50% an Amazon abzuführen. «Hinter Amazons neuer Gangart steht der Druck der Anleger, die höhere Gewinne erwarten,» schreibt die Berliner Zeitung.)
Die Lobbyisten der britischen Finanzindustrie, TheCityUK, halten fest, dass die Position der EU-Kommission zu TTIP «so sehr das Verständnis von TheCityUK widerspiegelt, dass ein externer Beobachter meinen könnte, sie sei geradewegs unser Broschüre zum TTIP entnommen.»
TTIP wäre ein Erdrutschsieg für das Kapital (das allerdings noch mehr in den Anlagenotstand geriete), weil hier offenbar ein Paradigmenwechsel geplant ist: Jede Regulierung des Wirtschaftens stünde unter der Direktive, der Erfüllung der Wünsche solventer Käufer und wettbewerbsfähiger Verkäufer nicht mehr im Wege zu stehen, das «bestmögliche» Angebot zu ergattern und den höchstmöglichen Gewinn einzustreichen. DIES bedeutet «Freihandel» und «offene Märkte», wobei «Freiheit» hier Marktfreiheit meint: die Freiheit, von seiner Marktmacht (Produktivität oder Kaufkraft) in allen Stücken freien Gebrauch zu machen. Von nun ab muss sich der demokratische Rechtsstaat dafür rechtfertigen, dass er reguliert. Und zwar, sozusagen als Ultima Ratio und innerlich konsequent, vor den ultimativ Kaufkräftigen, den Rentiers als den Prinzipalen dieser Welt bzw. ihren Vertretern in den Konzernspitzen. DAS ist der Sinn der Streitschlichtungsverfahren, die sozusagen als Wachhunde der Deregulierung fungieren und das Primat «der Märkte» vor der Politik besiegeln sollen: Von da ab wird jede politische Diskussion unter dem Vorbehalt geführt, ob die anvisierte Regulierung nicht Milliarden schwere Schadensersatzzahlungen nach sich ziehen könnte, da Investoren durch sie ihre erwarteten Gewinnaussichten geschmälert sehen könnten. Dann lässt man es am besten gleich mit der Regulierung.
Der Paradigmenwechsel, der in der Entmachtung der Parlamente und in der Aushöhlung der Demokratie mündet, zeigt sich darin, dass Regulierung – so sie überhaupt noch zulässig ist und das Recht nicht vollständig auf Privatrecht (pacta sunt servanda) zusammenschrumpft (S. 203 -206, 270 f.) – zur Ausnahme von der Regel des Freihandels mutiert. (Vgl. zu diesem Gedanken, mit Blick auf den Kapitalverkehr, auch Markus Henn.) Dies zeigt sich etwa im Bereich des öffentlichen Beschaffungswesens. (Dieses ist natürlich «diskriminierungsfrei» auszugestalten, was bedeutet, dass der politische Souverän, so er «Daseinsvorsorge» betreiben will, ein Angebot öffentlich auszuschreiben und dabei «ohne Ansehen der Person» jenem Leistungsanbieter den Zuschlag zu erteilen hat, der den messbaren Anforderungen der Ausschreibung am besten genügt, woher auch immer diese Leistungsanbieter stammen mag.) Bislang wurden in den Abkommen Positivlisten für diejenigen Bereiche formuliert, die in diesem Sinne «diskriminierungsfrei» auszugestalten sind und sich dem Wettbewerbsmarkt zu öffnen haben. Als Normalfall wurde dabei also eine politisch-autonome Gestaltung der Daseinsvorsorge vorausgesetzt, deren Ausnahmen die Positivliste festhält. Die EU-Kommission will hingegen allein eine Negativliste formulieren, also nur noch Bereiche der Daseinsvorsorge nennen, die vorerst (!) von der «Liberalisierung» ausgenommen sind.
«Liberalisierung» soll eben zum Prinzip der Politik erhoben werden, und zwar auf dem «höchsten Liberalisierungsniveau, das in bestehenden Freihandelsabkommen erfasst wurde», die «tatsächliche Öffnung der Märkte» (für nach höchstmöglichen Vorteilen strebende Marktakteure, wäre zu ergänzen) also noch «ambitionierter» angegangen werden als bislang. Da noch nicht alle Gesellschaftsbereiche dem Wettbewerb unterworfen sind, ist dies alles als ein Prozess zu verstehen, nämlich als Prozess der «progressiven wechselseitigen Liberalisierung», an dessen Ende offenbar eine Privatrechtsgesellschaft stünde (für die der Ordoliberale Franz Böhm eintrat und die der Marktlibertäre und bekennende Anti-Demokrat Hans-Hermann Hoppe verficht), in der das «freie» Kaufen und Verkaufen von was auch immer unbedingt erlaubt und der «Schutz» dieser Erlaubnis (qua Privatrecht) in «höchstmöglichem Maß» zur letztlich einzig verbleibenden «Pflicht» des Staates erklärt würde. Dies alles wäre «auf allen staatlichen Ebenen bindend» zu machen.
Alle Abweichungen des demokratischen Rechtsstaates vom Prinzip des Freihandels (bzw. einer Privatrechtsordnung) werden nun rechtfertigungsbedürftig, wobei die Frage: gegenüber wem, nicht ganz klar ist (formal: gegenüber den Subjekten des Vertrages, material wohl: gegenüber dem Kapital als dem «Wachhund» des Erhalts bzw. der progressiven Verwirklichung der Gesellschaftsordnung als einer bloßen Privatrechtsordnung): «Ziel des Abkommens ist der Abbau unnötiger Handels- und Investitionshemmnisse…» Natürlich ließe sich sagen, dass damit überhaupt nichts präjudiziert ist, denn welche Regulierung bzw. welches «regulatorische Handelshemmnis» als für die Einrichtung einer gerechten Gesellschaftsordnung «nötig» oder «unnötig» zu gelten hat, ist ja, immer noch, Sache des demokratischen Souveräns. Der Punkt ist allerdings offenbar, dass sich sozusagen die Beweislast umkehrt: Ist es denn tatsächlich «nötig», um ein Beispiel zu wählen, Bildung durch Anstalten öffentlichen Rechts zu organisieren und durchzuführen, anstatt die «Kunden» selbst entscheiden zu lassen, ob ein us-amerikanischer (Humankapital-) «Bildungs»-Profi hier nicht das bessere Angebot macht? Sollte es sich hierbei um «legitime Gemeinwohlziele» handeln, für die «Ausnahmen» zulässig sind, so sind diese ohnehin «in nichtdiskriminierender Weise zu verfolgen», was streng genommen bereits bedeuten müsste, dass internationale Bildungskonzerne gegen die «Privilegierung» öffentlich-rechtlicher Bildungseinrichtungen klagen könnten; denn dass sie nicht mit Steuermitteln bedacht werden, wäre ja eine «Diskriminierung». – Dies gälte für alle nicht «marktkonformen», von der naturalistischen Marktmetaphysik gerne als «künstlich» charaktersierten Zuwendungen bzw. «Subventionen» an kulturelle Institutionen und Kulturschaffende, was dazu führte, dass es keine Kulturpolitik mehr gäbe.
(Die «Nicht-Diskriminierung», die hier gemeint ist, hat mit der Achtung der gleichen Würde von «allem, was Menschenantlitz trägt», nichts gemein. Da Handeln stets Handeln mit konkreten Personen nach einer bestimmten Maßgabe bedeutet, ist «Diskriminierung», äußerlich gesehen, ohnehin unausweichlich. «Diskriminiert» bzw. spiegelbildich «privilegiert» wird also auch hier, nämlich nach Maßgabe der Produktivität bzw. der Wettbewerbsfähigkeit der Anbieter und der Kaufkraft bzw. der Zahlungsfähigkeit der Nachfrager. Vgl. vertieft Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept, S. 405-422.)
Besonders klar manifestiert sich der Paradigmenwechsel im Bereich der Finanzdienstleistungen, die nicht nur «progressiv», also vollständig erst später, «liberalisiert» werden sollen, sondern hier und jetzt bereits einer «vollständigen Liberalisierung» überantwortet werden sollen. Dies betrifft nicht nur die vollständige Investitionsfreiheit, sondern auch, denn sonst lohnt es sich für den Anleger oder Investor ja nicht, die vollständige Überweisung aller Gewinne an Investoren und Anleger: «Each Party shall permit all transfers relating to an investment.» Zwar soll es hiervon ebenfalls ein paar Ausnahmen geben, Steuern auf Kapitaleinkommen bilden hierbei allerdings keine Ausnahme (S. 7) von den Wünschen der Rentiers, das Maximum für sich herauszuholen. Wie dem auch sei, jedenfalls zeigt sich der politische Paradigmenwechsel hier besonders drastisch darin, dass jede weitere Regulierung, die die Rentiers oder ihre «Agenten» irgendwie als «Hemmnis» ihres schrankenlosen Gewinnstrebens wahrnehmen könnten, untersagt würde, was man «Stillhalteklausel» nennt oder auch «Sperrklinkeneffekt». Vorbild sind die «OECD-Kodizes der Liberalisierung des Kapitalverkehrs», in denen es heißt: «Wird eine Beschränkung [das Kapitalverkehrs] aufgehoben, so kann sie nicht wieder eingeführt werden.» Der demokratische Rechtsstaat würde sich so Fesseln anlegen, die er, jedenfalls der Intention des Abkommens und dem Wunsch aller Freihandelsapostel nach (von den Rentiers ganz zu schweigen), nie mehr ablegen könnte und die auf alle Ewigkeit festgeschrieben würden. «Änderungen sind nur noch in Richtung einer weitergehenden Liberalisierung möglich», wie Fritz Glunk treffend festhält.
2. TTIP – bloß ein Problem negativer externe Effekte?
Die Folgen der Etablierung des Freihandelsabkommens zwischen den beiden größten Wirtschaftsblöcken dieser Welt werden von zivilgesellschaftlichen Vertretern durchwegs kritisch beurteilt. Der von Harald Klimenta u.a. für Attac herausgegebene Sammelband «Die Freihandelsfalle» gibt einen guten Überblick. Neben dem genannten Paradigmenwechsel hin zur Erhebung des Freihandels und der Beseitigung all seiner «Hemmnisse» zum formalen Prinzip der Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, welches vorerst noch einige «Ausnahmen» zulässt, der mit unterschiedlicher Schärfe von Andras Fishan (S. 21 ff.), Fritz Glunk/Harald Klimenta (S. 28 ff.), Markus Henn (S. 78 f.), Uwe Wötzel (S. 87) und Sven Hilbig (S. 87 f.) herausgearbeitet wird, wird von den europäischen und amerikanischen Autoren material vor allem kritisiert bzw. befürchtet:
- ein Abbau von Standards des Umwelt- und Verbraucherschutzes im Allgemeinen (S. 43-63),
- so etwa die Abkehr vom in der EU etablierten Vorsorgeprinzips der Umweltpolitik (S. 43-49),
- der Einzug des Frackings durch Etablierung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung auch der jeweils tieferen umweltpolitisch relevanten Standards (S. 49-51, 119 f.), – denn schließlich ist der Sinn von Handelsabkommen ja, wie US-Finanzminister Jack Lew festhält, der, «tiefere Standards» zu etablieren, da jedem öffentlich-rechtlich gesetzten Standard ein «Handelshemmnis» korrespondiert,
- die Eliminierung des REACh-Programms bzw. das Vertun der Chance, die höheren europäischen Standards im Bereich chemischer Stoffe auch in den USA einzuführen (S. 117),
- die weitere Verdrängung einer «bäuerlichen» zugunsten einer «industrialisierten» Landwirtschaft (S. 51-56),
- die Zulassung gentechnischer Verfahren in der Landwirtschaft (S. 53 f., 116 f.),
- die Aushöhlung des Datenschutzes (S. 57-63),
- und natürlich die Schiedsgerichte, die der demokratischen Willensbildung Fesseln anlegen und die Volkssouveränität untergraben (S. 64-72, 100 f., 122 f.),
- eine «Re-De-Regulierung der Finanzmärkte» (S. 74-80, 118),
- die Schwächung von Gewerkschaften, zumal die USA die ILO-Kernarbeitsnormen in Sachen Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen, man glaubt es kaum, nicht anerkannt haben (S. 82-85),
- die Gefahr einer weitreichenden Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge (S. 21 ff., 87 f.),
- die Etablierung von TIPP als «Paradigma» für die Marktöffnung (inkl. Investitionsschutz) von Entwicklungs- und Schwellenländern (S. 90-97),
- eine Ende des EU-Emissionshandels, überhaupt jeder Regulierung des Wirtschaftens hin auf ökologische Nachhaltigkeit durch «Anreize» (S. 117 f.) im Sinne einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft, wozu etwa auch Umweltkennzeichnungen zählen, die als sogenannte «technische Handelsbarrieren» klassiert werden könnten (S. 121).
Wer sich mit all dem etwas eingehender beschäftigt, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wie kann es sein, dass die maßgeblichen Kräfte der Politik ihre Demokratien, formal und material, an die Kräfte des Marktes «verkaufen», jedenfalls gewichtige Werte der politischen Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens aufs Spiel setzen oder ganz aufgeben?
Natürlich lautet die Antwort: «um Arbeitsplätze zu schaffen». «Ein umfassendes, alle Branchen abdeckendes Abkommen hätte äußerst positive Auswirkungen», schreibt die EU-Kommission, und zwar für «alle Beteiligten». Warum? «Da es den Handel liberalisieren würde», und dies bedeutet stets, dass «auf beiden Seiten … für eine willkommene Belebung des Wirtschaftswachstums und die Schaffung von Arbeitsplätzen» gesorgt würde.
Warum aber ist diese «Schaffung von Arbeitsplätzen» überhaupt nötig? Wodurch wurden denn bestehende Arbeitsplätze zerstört? Doch offenbar durch den nämlichen Prozess, durch den sie nun wieder «geschaffen» werden sollen, nämlich durch den Wettbewerb, der aus dem «freien» Handel (innerhalb eines Landes oder zwischen Ländern), aus geänderten Markttauschprozessen, resultiert. Arbeitslosigkeit ist die direkte oder indirekte Folge davon, dass einige Marktteilnehmer die Exit-Optionen gewählt, also ihren Anbietern die «Kündigung» ausgestellt haben. «Schöpfung» und «Zerstörung» von Arbeitsplätzen gehen Hand in Hand.
Warum eigentlich ist dies so schwer zu verstehen? Würde dieser Zusammenhang verstanden, wäre ja von vorn herein klar, dass die Ausweitung der «Freiheit» zum Kaufen und Verkaufen von was auch immer unausweichlich Gewinner und Verlierer schafft. Und dass es Wachstum erst dann gibt, wenn es den Verlierern gelingt, ihre Verluste «unternehmerisch» und «eigenverantwortlich» wettzumachen. Doch offenkundig werde die Zusammenhänge in der breiteren Öffentlichkeit und der politischen Diskussion nicht verstanden (was mit ihrer «Unsichtbarkeit» und der Komplexität des Marktwettbewerbs zusammenhängen dürfte – und natürlich mit einer ökonomischen Theorie, die diese Zusammenhänge praktisch seit ihren Anfängen verschleiert). Dass der Zusammenhang zwischen «Schöpfung» und «Zerstörung» im allgemeinen Problembewusstsein nicht verankert ist, zeigt sich auch daran, dass die zivilgesellschaftlichen Kritiker sich auf die – zweifelsohne gewichtigen und skandalösen – negativen externen Effekte des anvisierten Freihandelsabkommens konzentrieren, wie sie in obiger Liste, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, zusammengefasst sind. Externe Effekte dabei in einem weiteren Sinne verstanden als Folgen des Freihandelsabkommens für andere gesellschaftliche Teilbereiche als allein die Wirtschaft. Nicht aber thematisieren sie die internen Effekte des Marktwettbewerbs selbst, d.h. die Interaktionsverhältnisse zwischen Marktteilnehmern. Den Folgen für Beschäftigung und Einkommensverteilung wird eher selten kritische Aufmerksamkeit geschenkt. (Eine Ausnahme bildet Sabine Stephan, insbes. S. 18.) Die Werte, die mit der Intensivierung der Marktförmigkeit der Interaktionsverhältnisse unausweichlich verbunden sind und die durch diese ökonomisiert oder eliminiert werden, sind von zivilgesellschaftlicher Seite, soweit ich dies überblicke, nirgends ein Thema.
Um dem zivilgesellschaftlichen Widerstand «der Bürger» die Spitze zu nehmen, votiert Gabriel Felbermayr (der Verfasser sowohl der ifo- als auch der Bertelsmann-Studie) für eine zahmere Version von TTIP – sozusagen für eine Version ohne externe Effekte. Ob dies denkbar ist, ließe sich natürlich hinterfragen. Aber wenn, so könnten die allermeisten der zivilgesellschaftlichen Kritiker gegen ein solches TTIP eigentlich nichts mehr einzuwenden haben. Die vorherrschende Auffassung dürfte der Spiegel (Nr. 22, 2014, S. 22) festgehalten haben: «Die Wahrheit über TTIP ist vielschichtig», doch sei «Handel nicht per se gut oder böse». Der Freihandel «per se» oder «an sich» ist dieser Auffassung nach ethisch neutral und dies bedeutet: seine Ausweitung ist stets unproblematisch, wenn nur die Rahmen- und Nebenbedingungen so gestaltet werden, dass negative externe Effekte vermieden werden.
Von da ist es nur ein kleiner Schritt zu klassisch-ökonomistischen Auffassung, dass «freier Handel, also die internationale Arbeitsteilung, … den Wohlstand aller» steigert und damit «per se» «gut» ist, um an die Formulierung des Spiegels anzuknüpfen.
Doch natürlich schafft die Ausweitung der Erlaubnis zum Eingehen und Auflösen von Tauschvertragsbeziehen («freier Handel») nicht einfach «Wohlstand für alle» bzw. eine «Win-win-Situation». Das weiß auch der Ökonom Felbermayr. Doch er sagt es nicht in Stellungnahmen, die sich an die breitere Öffentlichkeit wenden. (Dort spielt sich der Wettbewerb zwischen «Unternehmen» ab, so dass der Normalbürger denken mag: das sind doch andere als wir.) Dazu muss man vielmehr seine Studien lesen, was in den meisten Fällen ohnehin nur Eingeweihte tun dürften.
3. Von externen zu internen Effekten: Wo bleiben die Wettbewerbsverlierer?
In der Bertelsmann-Studie von Felbermayr (die ob ihrer methodischen Mängel vielfach kritisiert wird, vgl. hier, hier und hier, was uns hier nicht weiter interessiert, ebenso wenig, dass sie wirtschaftstheoretisch weitgehend gehaltlos daherkommt und im Wesentlichen bloße Statistik betreibt) wird man rasch fündig. Ja, es gibt «Verlierer». Doch es handele sich allein um «Länder, die nicht in [sic] dem Abkommen teilnehmen». [Da «Länder» weder freudens- noch leidensfähig sind, müsste es natürlich heißen: «um Bürger aus Ländern…».] Die Überlegung ist einfach: da die «Handelskosten» im Geschäftsverkehr zwischen EU und den USA sinken, werden die Geschäftsbeziehungen zwischen diesen Wirtschaftsräumen ausgeweitet, was immer zu Lasten anderer gehen muss, hier: einiger Beschäftigter in Schwellen- und Entwicklungsländern oder auch in OECD-Staaten außerhalb der anvisierten EU-USA Freihandelszone, nämlich solcher, deren Angebote nun zu teuer werden. «Schöpfung» geht eben nicht ohne «Zerstörung». (Felbermayr expliziert den Mechanismus freilich nicht, worin unter anderen die Theoriearmut seiner empirisch-positivistischen Ausführungen besteht.)
Doch glücklicherweise wächst durch TTIP, so jedenfalls meint Felbermayr errechnen zu können, das Welt-BIP und damit greift eine der Varianten der ökonomische Standardtheorie, das Problem der Wettbewerbsverlierer wegzudefinieren, nämlich das sog. «Kaldor-Hicks-Kompensationskriterium» (S. 303 ff). Felbermayr fasst dies so: «Damit [mit dem prognostizierten BIP-Wachstum] liegt genug Geld auf dem Tisch, um die Verlierer zu kompensieren.» Natürlich müsste man fragen, warum die Gewinner dies tun sollten, schmälerten sie doch so ihren Gewinn. Auch hierauf gibt Felbermayr die ökonomische Standardantwort: Zum einen reicht es aus «ökonomischer» Sicht aus, dass die Gewinner die Verlierer kompensieren «könnten», was Felbermayr durch die Formulierung zum Ausdruck bringt, dass «(im Prinzip) alle Länder von dieser Reduktion [der Handelskosten] profitieren können» (Hvh.U.T.), sie dies aber nicht tun müssen bzw. sollen, denn dies ist keine Voraussetzung dafür, das Ganze «aus ökonomischer Sicht», wie gerne formuliert wird, für legitim zu halten, wobei man statt von Legitimität von «Effizienz» spricht. (Dass die Gewinner die Verlierer nicht kompensieren, darin lässt sich ja gerade die Quelle des Wachstums erblicken, denn nur so sind die Wettbewerbsverlierer gezwungen, «eigenverantwortlich» ihren Einkommensausfall durch Anstrengungen der Mehrproduktion selbst zu kompensieren. Auch davon ist bei Felbermayr nichts zu lesen, wobei eher fraglich ist, ob er diesen Zusammenhang versteht.) Zum anderen können die den Gewinnern zufließenden zusätzlichen Mittel zur Bestechung eingesetzt werden (Ökonomen sprechen stattdessen von «Anreizen»): Die Mittel können nämlich dabei helfen, «die Bereitwilligkeit von Entwicklungs- und Schwellenländern, Kompromisse in der Doha-Entwicklungsrunde zu schließen», zu erhöhen, was offenbar im Interesse der Gewinner liegt. (Und es ist zu vermuten: Da diese selbst, wie das Finanzkapital, nicht dem globalen Wettbewerb unterliegen, sondern diesen vielmehr vorantreiben. Vgl. zur Rolle des Kapitals im Wettbewerb diesen Text, S. 12.)
Doch gibt es denn innerhalb des Wirtschaftsraums EU-USA keine Wettbewerbsverlierer? Schließlich werde «der Wettbewerbsdruck in Deutschland durch die verstärkte Präsenz amerikanischer Unter-nehmen» zunehmen. Gleiches gilt natürlich auch für die USA. Träte das Abkommen in Kraft, ergäbe sich ein «verstärkter Wettbewerb auf dem EU- oder [bzw. und] US-Markt». Warum aber sollte es dann allein auf Seiten der Entwicklungsländer zu «dramatischen» Einkommensverlusten kommen?
Die Antwort dürfte in der trickreichen methodologischen Konstellation der Studie zu finden sein. Felbermayer hat nämlich die «messbare Erfahrung mit ähnlichen [Freihandels-]Abkommen» bzw. die «beobachtbaren Daten» mit Blick auf Preise, Einkommen und Beschäftigungsniveaus [aber wohl kaum mit Blick auf «gute Arbeit», da ohnehin kaum messbar] als Datenpool aufgenommen und schließt von dieser Datenlage auf die Folgen der Marktöffnung durch TIPP. Wenn also die durch den verschärften Wettbewerb unter Druck Geratenen bzw. wenn die Arbeitslosen «flexibel» genug sind und es ihnen daher gelungen ist, ziemlich bald eine neue Stelle zu finden, dann zählt der Zwang zum Umschulen, Umziehen und damit der Wechsel des Mittelpunktes der Lebensverhältnisse usw. auch hier nicht als Verlust bzw. der Druck dazu nicht als Zwang. So der Wechsel zu den «effizienteren» (bzw. rentableren) Firmen oder der Gang ist die Selbstständigkeit denn gelingt. – Interessant wäre es zu erfahren, ob in den «beobachtbaren Daten» auch die «netto» eine Million us-amerikanischen Beschäftigten eingeflossen sind, die durch das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA ihren Job verloren haben, ebenso wie die mehr als eine Million mexikanischer Bauern, die in Folge des Abkommen verdrängt wurden.
(Übrigens werden auch im Beispiel David Ricardos zur Illustration so genannter «komparativer Kostenvorteile» zwischen Nationen – nach wie vor DAS Theorem zur Rechtfertigung «offener Märkte» überall und unbedingt – die englischen Weinhersteller ebenso arbeitslos wir die portugiesischen Tuchhersteller; jene müssen sich zu Tuchherstellern, diese zu Weinherstellern umschulen lassen. Alles natürlich kein Problem, jedenfalls aus Sicht der Ökonomen. «The evil [gemeint ist Arbeitslosigkeit], which is always transitory, cures itself promptly,” befand bereits Jean-Baptiste Say. Aus dieser Sicht gibt es eigentlich gar keinen Wettbewerb, jedenfalls keinen, dem Menschen unterliegen. Vgl. kritisch Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept, S. 329 ff.)
Dass das Eindringen neuer Wettbewerber in bestehende Einkommenspositionen Druck erzeugt und Wettbewerbsverlierer schafft (hüben wir drüben), was sich insbesondere in erhöhter Arbeitslosigkeit niederschlägt, wird so umdefiniert in ein Problem sog. «Arbeitsmarktfriktionen». Je tiefer die ja bloß «friktionalen» Kosten (im Vergleich zu den bestehenden Alternativen!) bzw. je größer die Zwänge des Auffindens einer neuen Stelle sind, desto geringer fällt das messbare oder prognostisch errechnete Maß von Arbeitslosigkeit aus. Die Marktöffnung führt eben bloß «vorübergehend» zu Arbeitslosigkeit. Die «Friktionen» hängen insbesondere von den «Lohnersatzleistungen» ab: Je tiefer diese, desto geringer die «Friktionen» dabei, nach dem Verlust der Beschäftigung durch den verstärkten «Freihandel» und den durch ihn verschärften Wettbewerb eine neue Beschäftigung finden zu müssen, womit der ursprüngliche und hier eigentlich interessierende Verlust «methodisch» zum Verschwinden gebracht wird. Denn wenn man bald auf Hartz IV Niveau landet, bleibt einem ja kaum etwas anders übrig, als sich irgendwo im Markt einen neue Stelle zu ergattern, was Ökonomen schönfärberisch «Anreiz zu Aufnahme einer Beschäftigung» nennen. (Dies alles ist ein hübsches Beispiel dafür, wie Verantwortung im Wettbewerb – gemeint ist die kausale Verantwortung der Wettbewerbswilligen und -fähigen, im Verein mit dem Kapital, weniger Wettbewerbsfähige und -willige aus dem Rennen zu werfen – modelltheoretisch in Eigenverantwortung umgemünzt wird.)
4. Unbegrenzter Wettbewerb oder Protektionismus – das ist die Alternative
TTIP ist ein Programm zur weiteren Ökonomisierung der Lebensverhältnisse. Das Stressniveau wird weiter steigen. Und die Einkommensdisparitäten werden weiter zunehmen. Denn der Hinweis auf die «Lohnersatzleistungen» bedeutet selbstverständlich nichts anderes, als dass die Betroffenen sich im neuen Job, so sie einen ergattern konnten, mit einem tieferen Gehalt werden zufrieden geben müssen.
Die 545 EUR, die die EU-Kommission «allen in der EU» verspricht, suggestiv als eine Art jährliches Geschenk (wobei allerdings verschwiegen wird, dass sich dieses erst im Jahre 2027 einstellen wird), kommen eben, so sich so etwas überhaupt auch nur ansatzweise seriös ausrechnen lässt, nicht «allen», sondern nur den «durchschnittlichen Haushalten» zu Gute, wie die Kommission ja dann auch selbst formuliert, ohne dies freilich auszuformulieren. Vereinbar ist damit – und wahrscheinlich ist – dass da einige 545 EUR (oder auch viel mehr) im Jahr weniger und andere dafür 1090 EUR (oder auch viel mehr) mehr verdienen. Das Extra an Gesamtkuchen wird höchstwahrscheinlichen den Aktionären transnationaler Konzerne und ihren Top-Mitarbeitern zufließen.
Warum nur wurde die ganz Übung nicht bereits abgebrochen, als EU-Handelskommissar Karel de Gucht ins Stottern geriet, als er von Monitor mit den Ergebnissen der von ihm selbst in Auftrag gegebenen Studie konfrontiert wurde, die pro Jahr eine BIP-Steigerung von 0,05% prognostiziert? Und dafür sollen wir die Demokratie in substantieller Weise (weiter) schwächen, fragt sich der verdutzte Bürger? Doch halten die Freihandelsapostel – im Verein mit mächtigen Kapitalverwertungsinteressenten – an TTIP fest. Ist hier Korruption im Spiel? Für die politische Landschaft Europas ist dies weitgehend auszuschließen; etwas anders sieht es in den USA aus, und zwar wegen des Wahlkampfspendenwahnsinns, der die Demokratie der USA «überwältigt» hat (Reich: Superkapitalismus, S. 174 ff.). Die Obergrenze für Wahlkampspenden hat der Supreme Court kürzlich ganz aufgehoben.
Selbst wenn dies eine gewisse Rolle spielen sollte, vollzieht sich der öffentliche Diskurs ja immer noch über Argumente und Ansichten – bzw.: das Ganze ist schließlich immer noch eine Sache des öffentlichen Diskurses (was de Gucht allerdings juristisch anficht). Und die bei praktisch allen, die ökonomisch und wirtschaftspolitisch Entscheidungen treffen, verbreitete und tief verwurzelte Ansicht ist die: Jede Regulierung, die ein Moment des Schutzes vor Wettbewerbsdruck enthält, ist schmutzig. Sie ist freiheitsfeindlich, und der Fortschritt besteht darin, diesen «Dreck» beiseite zu räumen und «progressiv» damit Schluss zu machen. (Aus dieser Sicht darf der Begriff des Schutzes, der Protektion, jedenfalls innerhalb der Welt marktinterner Effekte, nur noch mit Blick aufs Kapital verwendet werden; nur diesem gebührt Schutz, weshalb sich die Kapitalverwertungsinteressenten ungeniert «Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz» nennen, wo doch «Schutz» bzw. Protektion ansonsten ein verfemter Begriff ist. Das Ziel von TTIP besteht in Sachen «Schutz» darin «auf der Grundlage des höchsten Liberalisierungsniveaus und der höchsten Schutzstandards, die die beiden Vertragsparteien bis dato ausgehandelt haben, Bestimmungen über die Liberalisierung und den Schutz von Investitionen … auszuhandeln.» Alle anderen Schutzmaßnahmen sind vorerst noch zugestandene Restriktionen, die zu überwinden – angesichts des zu erwartenden gesellschaftlichen Widerstandes – derzeit noch zu kostspielig wäre.)
Und auch die andere Seite, die Seite der zivilgesellschaftlichen Kritiker, überlässt diese Sache den Freihandelsaposteln weitgehend kampflos und sieht das Problem allein in den externen Effekten, nicht aber im Felde marktinterner Effekte, obwohl diese es doch sind, um deren willen die ganze Übung überhaupt erst in Gang gesetzt wurde (freilich ohne marktexterne Werte, die gerade dadurch aufs Spiel gesetzt werden, zu berücksichtigen). So hat etwa Andreas Fisahn im besagten Attac-Sammelband «gegen einen Abbau tarifärer Handelshemmnisse (Zölle) zwischen Industriestaaten … nichts einzuwenden», jedenfalls solange hiergegen keine «ökologischen Einwände» sprächen (S. 20). Und dies, obwohl er zwei Seiten vorher davon berichtet, dass einige Beschäftigte in den USA oder der EU nach wie vor durch erstaunlich hohe Zölle geschützt sind – ja, es gibt tatsächlich noch auch solch «schmutzige» Zölle, im Landwirtschaftsbereich teilweise bis zu 205%, auch noch bei einigen Textilien (42%) oder im Bereich Leder und Schuhwerk (56%) – und dabei festhält, dass deren Abbau diese Beschäftigten «hart treffen» würde. Aber dies sind offenbar a priori illegitime Interessen, denn «die Bürger haben oft ein Interesse daran, Waren aus dem Ausland … zu erwerben,» und dieses Interesse ist offenbar stets legitim. Übersehen wird dabei, dass «die Bürger» auch ein Interesse daran haben, ihre Einkommensposition zu behalten. Doch bleibt dieser Konflikt, der sich hinter der «verbergenden Hand des Marktes» (Jagdish Bhagwati) abspielt und der inter- und intrapersonaler Natur ist, unthematisiert.
Unthematisiert bzw. unverstanden bleiben die internen Effekte des Wettbewerbs auch dann, wenn für ein «besseres Handelssystem» geworben wird, ein solches, bei dem «die sozialen und ökologischen Rechte der Menschen in aller Welt Vorrang vor Handelsfragen haben». (Berit Thomson, S. 56). Mehr «gehandelt», mehr «Freiheit» zur Wahl von Entry- und Exit-Option im Marktverkehr soll es offenbar geben; dies jedenfalls gilt, an und für sich, als mindestens unproblematisch. Übersehen wird dabei, dass jedenfalls die allermeisten der «sozialen Rechte» von «Handelsfragen» gar nicht unabhängig sind. Es würde eben weniger «Handel» getrieben werden müssen, wenn man vermeiden möchte, dass die «bäuerlichen Betriebe» durch TTIP «in ihrer Existenz gefährdet und verdrängt» werden. Dies ist nicht nur eine Frage der «Voraussetzungen» oder der «Nebenbedingungen» des «freien» Verkehrs von Gütern, Diensten und Kapital, wie gemeinhin angenommen wird, sondern eine Frage dieses Verkehrs selbst, nämlich eine Frage danach, wie viel davon noch «gut» ist. Es ist auch und es ist letztlich eine Frage danach, wie viel Wettbewerbsdruck auf andere auszuüben den treibenden Kräften erlaubt sein soll.
Würde der Wettbewerb bzw. dessen Intensivierung in seinen beiden unvermeidlich verbundenen Dimension «Schöpfung» und «Zerstörung» breit verstanden, könnten Aussagen wie die, dass durch die Verabschiedung von TTIP «für alle Beteiligten» eine «Win-win-Situation» geschaffen würde, «und zwar deshalb, weil Waren und Dienstleistungen billiger werden», von vorn herein nicht mehr legitimatorisch verfangen. Denn sofort wäre klar, dass nachzufragen wäre: Wer ist es denn, der nun weniger verdient? Schließlich sind des einen Kosten des anderen Einkommen. Wenn weniger gezahlt wird, wird auch weniger bezahlt.
Vielleicht ist es ja gut und gerecht, wenn das Marktspiel noch etwas weiter getrieben und der Wettbewerb noch weiter verschärft wird. Die Begründung müsste dabei lauten: Weil wir eben noch mehr konsumieren wollen, und dabei nehmen wir eine weitere Ökonomisierung der Lebensverhältnisse in Kauf. Und wir lassen uns auch gerne von den treibenden Kräften der ökonomischen Intensivierung (in freilich weitgehend «unsichtbarer» Weise) unter Druck setzen. Ja, die dürfen das. Und wir akzeptieren auch, dass Wettbewerb hierbei als Problem (welches Arbeitslosigkeit erzeugt) und Lösung (die Arbeitslosigkeit beseitigt) zugleich fungiert (vgl. Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept, S. 51 f.) Nur sollten wir diese Zusammenhänge verstanden haben, um darüber in Freiheit und bei klarem Verstand zu urteilen.
Vielleicht aber stehen wir am Ende einer Epoche, der Epoche des Wachstums, der ökonomischen Beschleunigung und der Ökonomisierung of everything. Dann ginge es heute um das genaue Gegenteil, was mit TTIP beabsichtigt wird, nämlich um den Schutz bestehender Einkommenspositionen vor ihrer Zerstörung durch die Kräfte des Wettbewerbs. Das ginge natürlich nur weltinnenpolitisch und wäre durch so etwas wie globale wettbewerbliche Waffenstillstandsabkommen zu bewerkstelligen. Nicht nur überschießende Kapitalbestände, sondern auch ökologische Verwüstungen und soziale Verwerfungen deuten an, dass die wettbewerbliche Wachstumsmaschinerie, die jedenfalls in den reifen (OECD-) Volkswirtschaften ohnehin weitgehend erlahmt ist, an ein Ende gelangt und die Zitrone ausgequetscht ist. Ist es eigentlich ein Zufall, dass die Wirtschaft im «Beinahe Goldenen Zeitalter» (Robert Reich) der Nachkriegszeit nicht nur mit einer breiten und fairen Teilhabe am gemeinsam erzeugten Wohlstand einherging, sondern diese Volkswirtschaften zugleich durch ein hohes Maß an «protektionistischen» Hürden geschützt waren und sich also wechselseitig ihre Kaufkraft nicht in maximal möglichem Maße abgruben? Natürlich ist dies kein Zufall. Wenn diese Zeit in irgendeiner Weise als ein Modell für die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft dienen sollte, dann muss der Begriff der Protektion bzw. des Protektionismus von seinen despektierlichen Konnotationen, die ihm heute nach wie vor anhaften, befreit werden, um dem Schutz vor den gierigen Kräften, die auch die letzten noch verbleibenden Winkel leidlich eingebetteter Märkte ihren unstillbaren Renditewünschen öffnen möchten, die Legitimität zurückzuerteilen. Natürlich müsste der neue Protektionismus ein verallgemeinerungsfähiger und ein «aufgeklärter Protektionismus» sein.
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