«Elternstress ist hausgemacht» – tatsächlich?
Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomisierung
Die unsichtbare Hand in Aktion
Vor wenige Tagen war in den Zeitungen über eine repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag der Zeitschrift Eltern zu lesen. Die Studie gibt’s hier. Die Botschaft war: Ja, die Eltern sehen sich unter einen enormen Druck: 62% sagen, ihr Alltag sei von «Eile, Hetze und Zeitdruck» geprägt. «Elternsein» sei «so anstrengend wie noch nie.» Dabei sei die «Zerrissenheit zwischen Job und Kind… vor allem für Mütter als Stressfaktor Nr. 1.»
Aber: Die Eltern wollen das. Der Stress sei einem freien Entschluss geschuldet. Er sei «hausgemacht». «Der meiste Stress kommt daher offenbar aus uns selbst», wie die Zeitschrift Eltern die Studienergebnisse zusammenfasst – und sich dabei, wie der Zusatz «offenbar» verrät, schon doch auch etwas wundert.
Eigenartig. Wäre die Kindererziehung nicht viel einfacher und praktisch stressfrei, wenn man sich ihr zeitlich deutlich ausgiebiger widmen könnte, ohne gleich finanziell abzustürzen oder vom Berufsleben ausgeklinkt zu sein? 56% der Beschäftigten, so eine andere Studie, sehen sich im Beruf «oft gehetzt», und 61% finden, die Arbeitsintensität habe im letzten Jahr erneut zugenommen. Vermutlich wird eine Änderung hier in den Bereich der Utopie verwiesen.
Dass der Stress «vor allem von innen» komme, schließt die Studie vor allem aus dem Umstand, dass nur 22% der Eltern den Druck auf «die Wirtschaft/den Arbeitgeber» zurückführen. Stattdessen seien es in erster Linie die «eigenen Ansprüche», die nach Ansicht der befragten Eltern den Stress erklärten.
Die allermeisten der berufstätigen Eltern dürften ihren Chef persönlich kennen und mit ihm auch ganz gut auskommen. Von ihm kommt der Druck nicht, jedenfalls nicht systematisch. 78% der erwerbstätigen Eltern haben mit dem Chef «nie oder selten Ärger gehabt» – vermutlich: etwa wenn das Kind plötzlich erkrankt und man es sofort aus der Kita holen muss.
Gemeinsam mit dem Chef stehen die Beschäftigen vielmehr unter Druck. Unter dem Druck des instanzlosen, zunehmend globaler ablaufenden Wettbewerbs nämlich, innerhalb dessen man einen verantwortlichen Verursacher praktisch nicht zu identifizieren vermag. (Wen denn? Die Kundschaft, die man in der Regel kaum persönlich kennt, und die zur Konkurrenz wechselt? Die Investoren, die allein auf die Rendite schauen, und die kommen und gehen? Die Wettbewerber, die ihrerseits unter Druck stehen?) Dies ist der tiefere Sinn der Formel von der «unsichtbaren Hand» des Marktes (Adam Smith), die präziser als «verbergende Hand des Marktes» (Jagdish Bhagwati) zu fassen ist. Und da man niemanden findet, der für den Druck verantwortlich ist, muss er sich einem freien, «privaten» Entschluss derer verdanken, die im unterworfen sind, die also eigentlich Selbstunterworfene sind.
Auch hierzu gibt es ein schlagendes Zitat von Smith, welches ideologiekritisch auszulegen ist. Der Markt sei als das «einsichtige und einfache System der natürlichen Freiheit» zu fassen. Es ist nämlich ganz «einfach» einzusehen und es erscheint dem Einzelnen, hier: den Eltern, ganz «natürlich», dass der Druck, den sie empfinden und unter dem sie leiden, ihrem «freien» Entschluss geschuldet sein muss.
Sollte der Druck jemals systematisch (!) vom «ausbeutenden Fabrikeigentümer» ausgegangen sein, so dass «sowohl die Unterdrückung als auch die Unterdrücker sichtbar» waren, so gibt es jedenfalls heute, so der Philosoph Byung-Chul Han, «kein konkretes Gegenüber mehr, keinen Feind, … gegen den ein Widerstand möglich wäre». Es ist vielmehr «der Neoliberalismus» bzw. das globale Wettbewerbsregime, dem dieser zuarbeitet, es sind also durchaus äußere, und zwar soziale Instanzen, die aus uns allen einen «freien Unternehmer», einen sich frei wähnenden «Unternehmer seiner selbst» machen. «Jeder ist heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmers. Jeder ist Herr und Knecht in einer Person. Auch der Klassenkampf [so der Begriff den jemals für die kapitalistische Entwicklung adäquat war] verwandelt sich in einen inneren Kampf mit sich selbst. Wer heute scheitert, beschuldigt sich selbst und schämt sich. Man problematisiert sich selbst statt die Gesellschaft.»
Man sieht, es ginge darum, und zwar für alle Lebensbereiche, auch für solche, die auf den ersten Blick mit «der Wirtschaft» nicht allzu viel zu tun haben, wie etwa die Kindererziehung, politischer zu denken und systemtheoretische (S. 80 ff.), politisch-ökonomisch konfiguierte Aufklärungsarbeit zu leisten (da geht es um «verborgen» ablaufende Konflikte) und entsprechende wirtschaftsethisch-kritische Kompetenzen auszubilden. Und so ist es ja auch aus Sicht der Eltern schon nicht allein eine Privatentscheidung, dass der Druck zunimmt. Vielmehr ist es in einem freilich reichlich diffusen Sinne «unsere Gesellschaft», die durch ihre «hohen Leistungsanforderungen» «Druck» erzeugt (62% Zustimmung) – den man zugleich allerdings vielfach in einen Druck aus sich selbst bzw. aus den «hohen Ansprüchen an sich selbst» umzumünzen scheint (65% Zustimmung).
Eine privatistische Umdeutung politischer Fragen dürfte übrigens auch auf der Erziehungsseite im Konfliktfeld von «Job und Kind» anzutreffen sein. Haben die Ansprüche nach «Perfektion» nicht auch mit den Anstrengungen der Eltern zu tun, dafür zu sorgen, dass das Kind im schulischen Wettbewerb mithalten kann, damit es später nicht auf der Verliererstraße endet?
Fast zeitgleich zur Eltern-Studie, nämlich gestern, hielt der Präsident des Deutschen Kinderhilfswerkes, Thomas Krüger, eine Rede auf einer Fachtagung zum Thema «Spielen ist Kinderrecht» (epd vom 15.1.2015, online nicht verfügbar). Es sei ein «tiefgreifender Wandel in den Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern» nötig, um das für die Kindesentwicklung so wichtige Recht auf freies Spielen zu gewährleisten. Den Kindern würde einfach zu wenig Zeit für das freie (das zweckfreie) Spiel gewährt. Zurückgeführt wird diese Fehlentwicklung «vor allem auf immer größere Leistungsanforderungen, Lernstress und die wachsende Ökonomisierung der Bildung».
Könnte TTIP – bzw. seine Verhinderung – etwas mit Stressreduktion und der Gewinnung von außerökonomischen Freiräumen zu tun haben?