Eine Kultur der Gier
Ulrich Thielemann
Kategorie: Kapital
Zehn Jahre nach der Lehman-Pleite
Interview, geführt von Henry Valentin, Hessische Niedersächsische Allgemeine, 11. September 2018, S. 9.
Herr Thielemann, hat sich das Finanz- und Bankensystem seit 2008 grundlegend geändert? Welche Lehren wurden aus der Lehman-Pleite gezogen?
Ulrich Thielemann: In den Krisenjahren nach 2008 haben die Regierungen praktisch aller Länder sich gegen eine grundlegende Reform des Finanzsektors entschieden. Stattdessen haben sie die Banken und ihre Nettogläubiger, die Vermögenden also, herausgehauen, und zwar auf Kosten der Normalbürger, sei es als Steuerzahler oder Nutznießer öffentlicher Leistungen.
Was würde passieren, wenn es erneut zu solch einer schweren Krise kommen würde?
Thielemann: Niemand weiß das. Das Finanzsystem hat Vermögenspositionen in einem Umfang absorbiert und aufgebaut, die realwirtschaftlich als uneinbringlich gelten müssten. Lag der Verschuldungsgrad der Realwirtschaft beziehungsweise der Bestand an Finanzvermögen im Jahre 1980 noch bei etwa 100 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung, so beläuft er sich heute auf rund 300 Prozent. Es ist absehbar, dass große Teile dieser Bestände sich früher oder später als illusionär erweisen werden. In dieser Uneinbringlichkeit bestehen die eigentlichen „Risiken“ des Finanzsektors im Ganzen.
Was hätte das für Folgen?
Thielemann: Die Banken würden erneut den Zahlungsverkehr, also den Blutkreislauf der Marktwirtschaft, in Geiselhaft nehmen und die Regierungen zwingen, die Ausfälle durch Steuermittel, Austerität oder das Drucken weiterer Geldmittel durch Zentralbanken zu kompensieren. Dies wird aber nicht nur großes Leid und Ungerechtigkeiten mit sich bringen, sondern dürfte auch just die realwirtschaftlichen Quellen der Schuldenbedienung zum Erliegen bringen.
Seit Ausbruch der Krise ist die Rede davon, dass man die Finanzmärkte regulieren will. Ist dies ausreichend geschehen?
Thielemann: Nein. Bankerboni wurden stärker an den langfristigen Geschäftserfolg gebunden, was nichts daran ändert, eine Kultur der Gier, ja der Kriminalität zu befördern, wie ehemalige Top-Banker selbst sagen. Der Bonuspool etwa der britischen Banker übersteigt mit knapp 17. Mrd. Euro den von 2007. Es gab keine substanzielle Erhöhung der Eigenkapitalforderungen, welche deutlich dämpfend gewirkt hätte.
Das heißt, es geht einfach weiter wie bisher?
Thielemann: Die gesetzlichen Regeln wurden komplexer, was für durch Boni angereizte Banker bloß einen Anreiz für Umgehungsstrategien bietet. Etwa durch die Verlagerung auf unregulierte Schattenbanken, deren Kapitalbestände auf den Umfang der Weltwirtschaftsleistung von zwei Jahren angeschwollen sind. Die Akteure, Banker und die sehr wohlhabenden Halter von Nettovermögenspositionen, werden ihre Schäfchen schon im Trockenen haben, wenn der nächste Zusammenbruch naht.
Also läuft die Politik den Märkten hinterher?
Thielemann: Hans-Werner Sinn, ehemaliger Chef des IFO Instituts für Wirtschaftsforschung, brachte noch kurz vor der Finanzkrise das Credo des Neoliberalismus auf den Punkt: Die Politik jedes Landes müsse darin bestehen, das Unternehmerkapital zu „hofieren“. Denn allein dies schaffe und sichere Arbeitsplätze. Auch die Finanzkrise hat dieses Credo bei den dominanten politischen Kräften nicht erschüttert.
Welche Position vertritt denn die aktuelle Regierung?
Thielemann: Bundesfinanzminister Olaf Scholz und sein Staatssekretär, der ehemalige Goldman Sachs Banker Jörg Kukies, möchte in Deutschland größere Banken, also höhere Bankbilanzsummen etwa durch laxere Eigenkapitalvorschriften. Dies nutze im globalen Wettbewerb „unserem Wirtschaftsstandort“. Es würde vor allem die realwirtschaftliche Extraktionsmacht der Inhaber von Nettovermögenspositionen weiter stärken. Im Inland etwa durch bankenbegleitete Public-private-Partnerships zum Beispiel im Bereich öffentlicher Infrastruktur, gegenüber dem Ausland durch weiter wachsende Leistungsbilanzüberschüsse und damit Verschuldungsgrade.
Was müsste sich Ihrer Meinung nach auf dem Finanz- und Bankensektor ändern?
Thielemann: Das Problem sind überbordende Finanzvermögensbestände. Die entstehen vor allem dadurch, dass die Überschüsse, die den im Wettbewerb besonders Erfolgreichen zufallen, nicht mehr konsumtiv in den Wirtschaftskreislauf zurückgespeist werden beziehungsweise gar nicht erst in dem Umfang entstehen wie heute. Diese mäßigenden Momente, die eine Soziale Marktwirtschaft ausmachen und die dazu beitragen, dass eine übermäßige Einkommenspolarisierung vermieden wird, sind uns mit der derzeitigen Hyperglobalisierung und ihrem neoliberalem Zeitgeist abhandengekommen. Solange sich die Staaten im Standortwettbewerb darin zu übertreffen versuchen, wer den für das global anlagensuchende Kapital attraktivsten Standort zu bieten hat, werden die finanziellen „Risiken“ ebenso wie die Einkommenspolarisierung weiterhin zunehmen.