29. Juni 2013
Die Verteilungsfrage als Fairnessfrage

Ulrich Thielemann
Kategorie: Fairness

Referat an der Delegiertenversammlung der SP Schweiz

SP Schweiz – Delegiertenversammlung, 29. Juni 2013, Fribourg

Die Verteilungsfrage als Fairnessfrage

Ulrich Thielemann


Wenn ich nach drei Jahren «Entwöhnung» immer mal wieder in die Schweiz komme, bin ich immer wieder baff erstaunt, wie teuer hier doch alles ist. Oder sollte ich mich eher darüber wundern, wie billig – wie dreckbillig – viele Dinge, vor allem solche des täglichen Bedarfs, in Deutschland sind? Die Differenz hängt sicher auch mit Währungsbewertungen und Kaufkraftparitäten zusammen. Aber auch damit, dass die Schweiz nicht diesen gravierenden Fehler begangen hat wie Ihre Schwesterpartei in Deutschland, nämlich den, mit der Agenda 2010 den Ausbau eines Niedriglohnsektor aktiv voranzutreiben – und damit übrigens die Kapitaleinkommen explodieren zu lassen: Das gesamte Wachstum Deutschlands und noch einiges mehr der letzten Dekade ging zu den Rentiers. 22,2% der deutschen Arbeitnehmer arbeiten mittlerweile zu Niedriglöhnen, d.h. für weniger als €11 im Westen und €8,3 im Osten.

Dies war ein gravierender Fehler aus zwei Gründen. Und beide Gründe haben mit der Fairness bzw. der Unfairness der Interaktionsverhältnisse im hochkomplexen Nexus des wettbewerblichen Marktes zu tun. Dies betrifft zum einen die unmittelbare und sichtbare Fairness: Die Leute werden für ihren Leistungseinsatz unverschämt schlecht vergütet. Dahinter verbirgt sich aber auch ein zweites, volkswirtschaftliches bzw. makroökonomisches Problem der (Un-)Fairness: Diejenigen, die nun diese Wertschöpfungsanteile bekommen, die anderen vorenthalten wurden, die Rentiers und deren Zudiener, wissen gar nicht wohin mit der ganze Kohle. Und sie erzeugen die große Finanzkrise, die sich heute unter anderem als Euro- und Bankenkrise bemerkbar macht.

Die verteilungsbezogene Datenlage in der Schweiz

Ich möchte diese beiden Problembereiche, die unmittelbare Verteilungsgerechtigkeit und die volkswirtschaftliche Dimension auseinanderdriftender Einkommen, jedoch nicht mit Blick auf Deutschland, sondern natürlich mit Blick auf die Schweiz beleuchten. Die schwer zu überblickende Situation scheint sich wie folgt darzustellen: Es verhält sich in der Schweiz wie überall in der Welt; Growing unequal hat dies die OECD genannt: Die unteren und die Normaleinkommen der Beschäftigten stagnieren oder sinken sogar, die obersten «One-Percent» Einkommen steigen oder explodieren sogar. In der Schweiz ist dies allerdings etwas wenig stark ausgeprägt als in vielen anderen Ländern. Dies darf man ruhig als Fortschritt feiern.

Die One-Percent-Einkommen sind funktional gesehen fast immer Kapitaleinkommen. Um wirklich reich zu werden, reichen ein paar Kunden allein ja nicht aus. Man muss sich schon an die Spitze einer Massenproduktion setzen. Und dies gelingt einem als Investor – oder als Manager, der den Investoren gegenüber unmittelbar verantwortlich ist und durch die Karotte der Boni darauf ausgerichtet wird, fürs Kapital alles herauszuholen, was sich herausholen lässt. Die Managerboni sind funktional gesehen Anteile an den Kapitaleinkommen der Investoren.

Die Schweiz hat auf den ersten Blick eine Anomalie gegenüber anderen Staaten: Die Lohnquote ist nicht gesunken. Zieht man allerdings das oberste Prozent der Lohnbezüger ab, dann sank auch in der Schweiz die Lohnquote, und zwar von 58% im Jahre 1997 auf 55% im Jahre 2007. Bei diesen Toplohnempfängern dürfte es sich vor allem um Manager und Banker handeln, also um Kapitaldienstleister, die dem Kapital unmittelbar zu Diensten stehen.

Und nach Auffassung der vorherrschender ökonomischen Theorie ja auch zu Diensten stehen sollen. Die Managementtheorie hat die Investoren zu den «Prinzipalen» der Unternehmen erkoren. Ihnen sollen also alle Vorrechte zustehen. Zu hohe Gewinne, das kann es in dieser Logik eigentlich gar nicht geben. Und so werden diese von den Wirtschaftsjournalisten ja auch stets als «Erfolge» gefeiert. Das Management gilt in dieser Logik als der «Agent» des Kapitals. Seine Aufgabe besteht darin, die Gewinne zu maximieren – und die Kosten, also die Einkommen anderer, wenn immer rentabel möglich zu senken. Wie erfolgreich die Manager darin waren, zeigt sich etwa darin, dass sich die an Privathaushalte in der Schweiz ausgeschütteten Gewinne in den letzten 20 Jahren verdreifacht haben.

Verteilungsgerechtigkeit im engeren Sinne

Warum sollte man sich über die auseinanderdriftenden Einkommen eigentlich empören? Die Marktlibertären und Marktgläubigen wollen darin ja immer nur Neid erblicken. Sie geben damit vor allem zu verstehen, dass sie nicht verstanden haben, wie eine Marktwirtschaft funktioniert. Sie glauben nämlich, die Erzielung eines Einkommens sei eine Privatangelegenheit. «Wenn ihr nicht einverstanden seid mit der Einkommens- und Vermögenssituation, dann macht’s doch wie die Abzocker», rufen sie den Kritikern entgegen. Und sprechen natürlich nicht von den «Abzockern», sondern von den «Leistungsträgern.»

Im welchem Maße jemand Leistungsträger ist, dies erkennt man diesem Verständnis nach an dessen Kontostand. Wer also über ein Milliardenvermögen verfügt, der muss über eine «high end ability» verfügen (so der Ökonom Gregory Mankiw).

Hier wird Wertschöpfung mit Abschöpfung verwechselt. Und es wird verkannt, dass, wie es der Soziologe Niklas Luhmann einmal formulierte, «die Privatwirtschaft schon seit langem abgeschafft» ist. Nämlich seitdem es eine Marktwirtschaft gibt. Denn diese beruht auf hochgradig ausdifferenzierter Arbeitsteiligkeit.

Niemand erzielt ein Einkommen allein. Dies ja bereits darum nicht, weil andere gezahlt haben. Haben diese vielleicht zu viel gezahlt? Wurden sie abgezockt? Bei der Pharmaindustrie und bei den Bankern kann man sich des Eindrucks kaum erwehren. Angesichts der Milliarden oder gar Billionen messenden Bail-Outs für die Banker und deren Aktionäre und Gläubiger so oder so.

Mit Blick auf diejenigen am unteren Ende der Einkommensskala ist natürlich zu fragen: Werden die Leute im Gegenteil zu schlecht vergütet?

Einkommen bilden (zweitens) stets Anteile an einem Sozialprodukt. D.h., andere haben mitgearbeitet. Der Vorstand steht dem Unternehmen vor, aber er ist nicht der Herr der Wertschöpfung. – Der ehemalige Chef von Siemens, Heinrich von Pierer, antwortete (2003) auf den Vorwurf, dass das Unternehmen kaum mehr Steuern entrichte: Aber unsere Mitarbeiter zahlen doch fast 2 Milliarden Euro an Steuern. Und «dieses Geld fällt nicht vom Himmel, sondern unsere Mitarbeiter bekommen es vorher von uns.» – Manchmal hätte sich der Chef auch mal ein Jahr Golfferien gönnen können, wie die NZZ einmal suffisant mit Blick auf Marcel Ospel formulierte (2006), und die Gewinne wären genau so gesprudelt. Der Markterfolg eines Unternehmens – ich meine nicht die Gewinne, sondern die Wertschöpfung – ist stets das Ergebnis der Anstrengung Vieler.

Etwas mehr Demut also, liebes Top-Management.

Dieser Gedanke steht ja auch hinter der 1:12-Initiative. Hier geht es um die innerbetriebliche Leistungsgerechtigkeit. (Es gibt darüber hinaus noch eine volks- bzw. letztlich weltwirtschaftliche Arbeitsteiligkeit.) Und der Gedanke ist: Innerhalb eines Unternehmens kann niemals einer in einem Monat mehr zur Wertschöpfung beigetragen haben als ein anderer im ganzen Jahr. Natürlich könnte der Faktor auch 20 oder, wie bei der ABS, 5 sein (von denen sie faktisch nur den Faktor 3,5 ausschöpft). Das ist eine politische Wertungsfrage (es geht dabei um Verhältnismäßigkeiten), zu der ich mich gar nicht äußern möchte.

Die Verteilungsfrage ist also eine Gerechtigkeitsfrage (und nicht etwa eine Neidfrage). Und zwar ist es eine Fairnessfrage. Was bedeutet das?

Schauen wir zunächst auf das untere Ende der Einkommenspyramide. Es geht dabei nicht bloß um die Sicherung der Existenz, wie hier und da argumentiert wird. Es geht um mehr. Nämlich um die faire Teilhabe an der Wertschöpfung, und zwar um die leistungsgerechte Teilhabe all derjenigen, die an der Erzeugung des allgemeinen Wohlstandes mitgewirkt und zu diesem beigetragen haben.

Diese Leute leisten ja schließlich, und darum ist die Verteilungsfrage nicht bloß eine Frage der Solidarität – womöglich der «Leistungsträger» mit den «Leistungsempfängern», wie das Marktlibertäre gerne sehen.

Ich möchte die Solidarität gar nicht kleinreden. Diese ist notwendig und unverzichtbar in einer humanen Gesellschaft. Auch ist die Fairness nicht etwa solidaritätsfrei. Doch ist der Grad der moralischen Verbindlichkeit der Fairness doch von ganz anderem Kaliber, nämlich deutlich höher als der der reinen Solidarität mit «den Schwachen», den Nicht-Leistenden, den «Unproduktiven» (soweit es diese denn gibt).

Die Fairness, die man auch als Leistungsgerechtigkeit bezeichnen kann, ist sozusagen das Dazwischen zwischen der reiner Solidarität, die zumeist von der der einen, der «linken» Seite in Spiel gebracht wird, der vollständigen Eigenverantwortung, die Marktlibertäre verteidigen. Die Marktlibertären wollen jeden Anspruch auf Verteilungsgerechtigkeit bzw. Fairness mit dem Neidargument zurückweisen. Alles sei in Ordnung, solange sich die Leute nur nicht die Köpfe einzuschlagen.

So etwa in einem Kommentar in der NZZ zur sog. «Bonzensteuer» – einer Vermögenssteuer für Wohlhabende, für die sich bekanntlich immerhin 40% der Zürcherinnen und Zürcher kürzlich ausgesprochen hatten. Wer hohe Einkommen als überrissen kritisiere, sei doch nur «neidisch». (Keine Ahnung, woher der Autor weiß, wie die Leute empfinden. Mit welchem Recht erlauben es sich diese Leute, Sachargumente, Gerechtigkeitsargumente durch den Verweis auf Gefühlslagen zu erledigen?) Außerdem trügen die Superreichen doch «sehr viel zur Finanzierung staatlicher Leistungen bei», findet der Autor.

Tatsächlich? Abgesehen davon, dass die Kapitaleinkommen immer tiefer besteuert werden, bezahlen die Superreichen natürlich ein paar Steuern (abgesehen von den Pauschal-Besteuerten bzw. faktisch Steuerbefreiten). Doch sind SIE es, die diese Leistungen bewirken? Durch das viele Geld, das SIE erwirtschaftet haben? Das SIE, mit ihrem überragenden «Talent», wie eine fette Frucht vom Baum gepflückt haben? Ganz allein?

Bertold Brecht (Fragen eines lesenden Arbeiters, 1928):

Wer baute das siebentorige Theben?

In den Büchern stehen die Namen von Königen.

Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?

Der junge Alexander eroberte Indien.

Er allein?

Cäsar schlug die Gallier.

Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?

Und noch was: Kapitaleinkommen sind definitionsgemäß leistungsfreie Einkommen, eben Einkommen von Rentiers. Die einzige Leistung, die Milliardäre aufbringen müssen, besteht darin, das richtige Family Office auszuwählen. Und dann gilt in einer neoliberalen Welt das Matthäus-Prinzip: Wer hat, dem wird gegeben. Vielleicht hat der Ökonom Günther Moewes Recht, der Kapitaleinkommen generell als «leistungslose Abschöpfung von der gesellschaftsdienlichen Wertschöpfung» klassiert.

Wie dem auch sei. (Ich möchte mich keineswegs gegen Kapitaleinkommen generell aussprechen.) Jedenfalls lässt sich die Fairnessfrage auch als Frage danach fassen, ob die Markterfolge, die einige faktisch erzielen, Ausdruck von Wertschöpfung oder von Abschöpfung sind. Dies ist eine durchaus offene Frage.

Und noch was: Verteilungsgerechtigkeit als Fairness bedeutet nicht, dass die Einkommen «gleich» sein müssten. Das behauptet wohl auch kaum jemand. Aber man legt es nahe, indem man die Verteilungsgerechtigkeit als Sache von «Gleichheit» fasst. Angemessener und politisch stärker ist m.E. wie gesagt die Fairness, die man auch als Leistungsgerechtigkeit fassen kann. Und die moralische Intuition dabei ist: Niemand kann x Mal leistungsfähiger sein als ein anderer. – Was «x» ist, ist eine legitime politische Wertungsfrage der Verhältnismäßigkeit.

Die volkswirtschaftliche Dimension der Fairness

Vor allem mit dem Kapital komme ich zur volks- und weltwirtschaftlichen Dimension der Verteilungsgerechtigkeit als Fairness. Es gibt einen dritten Grund dafür, dass die Einkommenserzielung keine Privatangelegenheit, sondern eine Gerechtigkeitsangelegenheit ist: Einkommen werden im Wettbewerb nicht nur stets arbeitsteilig mit anderen, sonder auch gegen andere erzielt. Wer einen neuen Einkommensstrom generiert, muss andere verdrängt haben. Und die Frage ist: Darf er das so ohne weiteres? Dürfen die Wettbewerbsfähigen und –willigen, im Verein mit dem Kapital, alle übrigen zu einem zunehmend marktkonformen Leben zwingen? Ist das fair?

Der Marktprozess ist ein Wettbewerbsprozess, der sich aus den beiden Momenten «Schöpfung» und «Zerstörung» zusammensetzt. Diese Einsicht Schumpeters ändert alles.

Der Neoliberalismus bestand darin, das Kapital zu «hofieren» (Hans-Werner Sinn), da nur dieses ja die Arbeitsplätze schaffe – die der Wettbewerb vorher zerstört hatte, muss hinzugefügt werden. Um sodann weitere Beschäftigte unter Druck zu setzen, wie weiter zu ergänzen wäre. «Schöpfung» und «Zerstörung» sind zwei Seiten einer Medaille. Erst wenn es den Wettbewerbsverlierern gelingt, ihrerseits eine neue Einkommensquelle zu erschließen, wächst die Wirtschaft. Wenn sie darin überfordert sind, haben wir eine Rezession, eine Krise.

Derzeit haben wir eine lang anhaltende Finanzkrise. Dies ist eine Überakkumulationskrise. Durch die überall betriebene Hofierung des Kapitals, durch Deregulierung und die folgenden Spekulationen gieriger Investoren und ihrer Agenten, durch Steuergeschenke ans Kapital, durch Austeritätspolitik, also Umleitung der Wertschöpfung zum Kapital, durch den Umstieg auf kapitalgedeckte Altersvorsorgesysteme hat sich eine riesige Kapitalblase angesammelt. Betrug der globale Verschuldungsgrad der Beschäftigten dieser Welt gegenüber dem Kapital im Jahre 1980 noch etwa 160% des Welt-BIP, so hat sich dieser, an sich bereits hohe, Verschuldungsgrad heute ziemlich genau verdoppelt, auf 320% des Welt-BIP. – Wer soll dies erwirtschaften?

Die globale Finanzkrise zeigt, dass die Beschäftigten dieser Welt darin überfordert sind, diese Kapitalbestände zu bedienen.

Die derzeitige Politik geht allerdings nicht dahin, diese Kapitalbestände kontrolliert abzubauen – etwa durch eine wieder angemessene Besteuerung des Kapitals. Dies wäre nicht nur leistungsgerecht, denn Kapitaleinkommen sind leistungsfreie Einkommen, sondern auch volkswirtschaftlich vernünftig. – Die Grenz- bzw. Spitzensteuersätze der Nachkriegszeit, die vor allem Kapitaleinkommen betreffen, waren übrigens überall viel höher als heute. Sie lagen selbst in den USA noch Ende der 1970er Jahre bei über 70%. Und dies in Zeiten hohen Wachstums, in denen man doch eigentlich einen hohen Kapitalbedarf vermuten müsste. Das Gegenteil trifft zu: Wegbesteuerung des Kapitals, d.h. dieses dem Produktions-Konsumtionskreislauf zuführen – im Verein mit «Boring Banking» – sind offenbar eine Grundvoraussetzung für eine Wirtschaftsentwicklung, die dem Grundsatz des «Wohlstands für alle» entspricht.

Die derzeitige Politik ist stattdessen eine Fortsetzung der Hofierung des Kapitals, unter anderem durch die Politiken der Zentralbanken, die darauf hinauslaufen, die an sich illusionären Kapitalbestände mit frischem Zentralbankgeld zu unterfüttern, was dazu führt, dass die Verschuldungsgrade nur noch weiter steigen.

Warum ist das so? Ersten wegen der überall grassierenden Kapitalgläubigkeit, die darin besteht, dass man den Zusammenhang von «Schöpfung» und «Zerstörung» nicht versteht und nicht die Rolle, die das Kapital in diesem spielt. Zweitens, weil das Kapital nicht nur der Prinzipal der Unternehmen, sondern letztlich der Welt im Ganzen faktisch ist.

Als Alan Greenspan, damals noch Chef der FED, 2007, übrigens vom Tagi, danach gefragt würde, wen er den gerne als Präsidenten der USA sehen würde, Obama oder McCain, antwortet er: «Vielleicht zunächst einmal das. Wir haben das Glück, dass die politischen Beschlüsse in den USA dank der Globalisierung größtenteils durch die weltweite Marktwirkung ersetzt wurden. Mit Ausnahme des Themas der nationalen Sicherheit spielt es kaum eine Rolle, wer der nächste Präsident wird. Die Welt wird durch Marktkräfte regiert.”

Wir haben die (kapital-) «marktkonforme Demokratie» nicht erst, seitdem Angela Merkel sie 2011 ausgerufen hat, sondern seitdem Politik zu Standortpolitik geworden ist. Standortpolitik ist im Wesentlichen Hofierung des Kapitals – damit die Arbeitsplätze im eigenen Land und nicht im Ausland geschaffen werden, womit sie dort vernichtet werden.

Wir finden dieses Denken etwa auch dann, wenn gegen eine Politik der Umverteilung eingewandt wird, diese sei doch eigentlich «kontraproduktiv» – weil das Kapital ja dann, wenn ihm nicht das gegeben wird, was es verlangt, abwandert. Das ist übrigens so ziemlich das einzige Argument, welches gegen Umverteilung ins Feld geführt wird. Es ist der Rekurs auf die Gegenmacht marktmächtiger Akteure – und nicht etwa deren möglicherweise ja legitimen Rechte.

Das Abwanderungsargument, die Standortlogik, darf niemals ein valables Argument sein. Es ist nicht verallgemeinerungsfähig. Es beruht darauf, dass andere, nämlich das abwanderungswillige Kapital und die Staaten, die es anlocken, aus dem Diskursuniversum ausgeschlossen werden bzw. sich nicht angesprochen fühlen dürfen. Sie zählen nur in ihrer Wirkungsmacht. Man kommt so noch nicht mal in den Vorhof der Beantwortung der Frage, ob sie dies dürfen.

In einer globalisierten Wirtschaft muss Politik, so sie sich nicht technokratisch auf die Vorgabe der Standattraktivität fürs Kapital reduziert sehen möchte, so Demokratie und Volkssouveränität denn noch einen Sinn haben und nicht bloße Fassade sein sollen, zur Weltinnenpolitik werden.

Ich finde im Initiativtext für die Initiative «Für eine gerechte Unternehmensbesteuerung in der ganzen Schweiz» einen Satz, der genau diesem Geist entspricht: «Der Bund setzt sich auf internationaler Ebene für die Bekämpfung des Steuerdumpings im Bereich der Unternehmensbesteuerung ein.»

Ganz richtig. Es müsste allgemeiner um die Besteuerung des Kapitals überhaupt gehen. Damit schlüge man zwei Fliegen mit einer Klappe: Auf der Ebene der unmittelbaren Fairness die Wegbesteuerung stoßend hoher, ja nun leistungslos erworbenen Kapitaleinkommen. Auf der mittelbaren, der volkswirtschaftlichen Ebene des globalen Wettbewerbs die Verringerung des – weitgehend unsichtbaren – Drucks, welcher das Kapital gerade dadurch erzeugt, dass es am einen Ort Arbeitsplätze schafft und dadurch unvermeidlich Arbeitsplätze an anderen Orten zerstören muss.

In Freiheit muss sich die Weltgemeinschaft die Frage stellen, ob sie mehr von diesem Druck will. Ein einzelnes Land kann diese Frage nicht mehr für sich allein beantworten. Es gefährdet sonst seinen Wohlstand.

Eine global koordinierte Steuerpolitik könnte ein Anfang sein für eine allgemeine Entspannung – und auch dafür, dass die Spitzeneinkommen nicht immer weiter den Normaleinkommen davonlaufen. Sie wäre der Anfang vom Ende der Plutonomie, also einer Ökonomie, die auf die offenbar unstillbaren Renditewünsche der One-Percent-Rentiers zugeschnitten ist.