18. Dezember 2018
«Die Revolution der Mittelklasse»

Ulrich Thielemann
Kategorie: Regulierung, Nachhaltigkeit, Kapital

Ein aussichtsloses Aufbegehren der Gilet jaunes gegen die Sachzwänge?

 

Der französische Ökonom Elie Cohen, der den französischen Präsidenten Emmanuel Macron berät, sieht in den Protesten der Gilets jaunes eine «Revolution der Mittelklasse». Und zwar nicht primär wegen der Zahl der Demonstranten selbst, sondern wegen ihres Rückhalts in der Bevölkerung. Etwa 70 Prozent der Bürgerinnen und der Bürger Frankreichs unterstützen die Anliegen der Gelbwesten. Andere Revolten gegen das neoliberale Establishment, für das Neoliberale den Begriff «Populismus» gewählt haben, mögen angefügt werden: die Wahl Donald Trumps, der Brexit, die Wahl einer Koalition von Links- und Rechts-«Populisten» in Italien, überhaupt der Aufstieg der «Populisten» – überwiegend rechten Zuschnitts.

Kurz zur zumindest latenten Gleichsetzung von Neoliberalismus-Kritik mit «Populismus»: Wenn «Populismus» mit «Anti-Establishment» gleichgesetzt wird (vgl. Inglehart/Norris, S. 6 f., in Anlehnung an Cas Mudde), dieses «Establishment» aber flächendeckend neoliberal geprägt ist – spätestens seit New Labour (Tony Blair), New Democrats (Bill Clinton) und «Neuer Mitte» (Gerhard Schröder) – dann ist jeder, der den sei es willfährigen oder zielgerichteten «Marktgehorsam» (auf den der Neoliberalismus als politisches Programm hinausläuft) nicht teilt, ein «Populist». Entlarvend ist dabei ein Hinweis von Clemens Fuest, der die griechische Partei Syriza als eine (allerdings «left-wing») «populistische» Partei einordnet, allerdings nur in den ersten sechs Monaten ihrer Regierungszeit, also bis sich die Regierung dem neoliberalen Austeritäts-Diktat der Troika fügte. Danach war sie gemäß Fuest vom Ruch des «Populismus» befreit, und sie handelte somit nicht mehr, wie definitionsgemäß alle «populistischen» Strömungen, «kurzsichtig» (S. 9), und ihre Politik war auch nicht mehr «kontraproduktiv» (S. 61) – sie akzeptierte also die Marktmachtverhältnisse, insbesondere die Macht des Kapitals.

Die Frage ist, ob «Reformen», von denen Macron etwa hier in wie üblich nebulöser Weise sprach, «notwendig» sind. (Auch für Daniel Binswanger steht außer Frage, dass «Frankreich grossen Reformbedarf» hat.) Und zwar «notwendig», damit es den Leuten (Normalbürgern) zumindest nicht noch schlechter geht. (Was sollte sonst mit «Bedarf» in verallgemeinerungsfähiger Weise gemeint sein?) Wobei diese «Reformen» stets in einer «Hofierung des Unternehmerkapitals» (Hans-Werner Sinn) münden, weil ja alles andere «kontraproduktiv» sei.

Was dies für Macrons Frankreich bedeutet, hat wiederum Werner Vontobel sehr schön hier aufgezeigt. Zusammengefasst: «Die von der EU-Zentrale vorgegebenen und von Macron umzusetzenden Arbeitsmarktreformen zielen darauf ab, den Standort Frankreich (oder Deutschland, Italien etc.) für die globalen Investoren attraktiv zu machen.» Deutschland, derzeit amtierender Leistungsbilanzüberschussweltmeister im Kampf um die Kaufkraft dieser Welt, hat vorgemacht, wie das geht. Und so nahm Macron sich Schröders Agenda 2010 zum Vorbild (Überblick hier): Die Zumutbarkeitsregeln bei der Annahme einer neuen Beschäftigung wurden verschärft, betriebsbedingte Kündigungen international tätiger Konzerne erleichtert, Tarifverhandlungen auf die Ebene der Betriebe verlagert, zugleich die Vermögenssteuer auf Finanzvermögen abgeschafft, da die alte «Solidaritätssteuer auf das Vermögen» doch bloß Ausdruck von «Neid» gewesen sei, (dass diese Steuer, «Neid» hin oder her, durchaus ergiebig war, zeigt Piketty hier auf), sowie Kapitalertrags- und Gewinnsteuern gesenkt. Und damit das Defizit nicht steigt, wurden Renten, Familien- und Wohnhilfen gekürzt. Zwei Rentnerinnen, die sich über Rentenkürzungen beschwerten, hielt Macron entgegen: Jeder im Land müsse «sich anstrengen». Offenbar meinte er, die Damen im Pensionsalter sollten doch wieder einer Lohnarbeit nachgehen, um ihre Rente aufzubessern – oder sich selbstständig machen? Denn «das Einzige, was man nicht machen darf, ist, sich zu beschweren.» Das einzige, was die «im Konkurrenzkampf Unterliegender» unbedingt (und «eigenverantwortlich») tun müssen, und zwar fortwährend und lebenslang, ist, «sich eine andere Stellung in dem Gefüge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung auszusuchen als die, die sie gerne einnehmen wollten» (Ludwig von Mises, Quelle hier).

Eine zu geringe Einkommenspolarisierung?

 

Macron und seine Unterstützer müssen offenbar annehmen, die Einkommenspolarisierung in Frankreich sei noch nicht weit genug gediehen. In Deutschland sank der Anteil der unteren 50% am BIP (Primäreinkommen) zwischen 2001 und 2013 von 22% auf 17%, in Frankreich liegt er noch bei 21% (World Inequality Report 2018, S. 160, 146). Und auch der Top 10% Anteil am BIP liegt immer noch bei nicht hinnehmbaren 33%, statt wie in Deutschland bei 40% (ebd.). Und auch der Top-1%-Anteil liegt in Frankreich (für 2013) mit 10,8% (Deutschland 13,2%) einfach zu tief, um international wettbewerbsfähig zu sein (vgl. hier). Auch bei der Kapitalquote fällt Frankreich deutlich hinter Deutschland zurück (vgl. hier, S. 722 f.).

Die Kapitalquote, also der Anteil an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung (eine Stromgröße), der an die Firmeninhaber, Aktionäre und Vermieter fließt, ist möglicherweise für die Einschätzung der wachsenden Verfügungsmacht der Inhaber von Nettovermögenspositionen nicht hinreichend aussagekräftig, da diese ihre Gewinne in wachsendem Ausmaß thesaurieren (da sie all die Gewinne gar nicht verkonsumieren können bzw. wollen), also unmittelbar an der Quelle in Vermögen (eine Bestandsgröße) umwandeln, worauf Charlotte Bartels vom DIW (S. 57) hinweist. Die absurde Folge (der «Hofierung des Unternehmerkapitals» im globalen Standortwettbewerb) ist, dass der Unternehmenssektor zwischenzeitlich zum Nettogläubiger geworden ist. Darin erblick Werner Vontobel die «Mutter aller Finanzkrisen» (vgl. jüngst mit Blick auf Italien hier, allgemein hier). Die neoliberalen Macronisten meinen aber offenbar: Die Nettofinanzierungsüberschüsse des Unternehmenssektors sind in Frankreich ja noch negativ. Das muss sich dringend ändern.

Die Strategie Macrons, so verrät uns einer seiner technokratischen Ökonomen-Berater, Elie Cohen, bestand angeblich darin, erst einmal das Kapital zu hofieren, das «in all seinen Formen sehr hoch besteuert» worden sei. «Frankreich befand sich in einem Prozess der schnellen Deindustrialisierung, der Produktionsstandort war nicht attraktiv.» Für das stets abwanderungsbereite Kapital. «Später» sollten dann «soziale Maßnahmen» greifen.

Wie man sich das vorstellen soll, ist allerdings ganz und gar rätselhaft, da ja die Soziale Marktwirtschaft nach den Reformen weitgehend Geschichte sein wird. Der ökonomische Technokratismus Cohens, der klar erkennt, dass die untere Mittelschicht angesichts stagnierender Einkommen und steigender Fixkosten «immer weniger zum Leben hat», zeigt sich etwa darin, dass er die Bürgerschaft, die ja mit großer Mehrheit den Protest der Gelbwesten billigt, als eine «Maschine» begreift, deren derzeitiger «revolutionärer» Lauf «uns», den ökonomischen Technokraten, leider sehr viel Geld kosten wird. Natürlich bestünde die paradigmatische Alternative darin, die Berechtigung der Anliegen der Bürger zu würdigen, statt sich allein für die Folgen ihrer Situation (der Protest, der in einer Demokratie nun einmal das Hofieren des Kapitals erschwert) zu interessieren. Ihre Situation ist übrigens durch sog. «Rurbanisation» geprägt: Nachdem der globale Wettbewerb viele Einkommensmöglichkeiten in der Fläche vernichtet hat – der Autor im FAZ Feuilleton erwähnt exemplarisch «die Sägewerke und Schreinereien der einst stolzen Südwestregion, die alle dichtmachen, weil Großkonzerne den Markt mit osteuropäischem Billigholz überschwemmen» –,  drängt es die Leute in die Metropolen, in denen die Winner-takes-it-all-Konzerne und ihre Zulieferer sitzen. Dort allerdings sorgen Lohnwettbewerb und Einkommenspolarisierung für steigende Mieten («Gentrifizierung») (und übrigens für steigende Bodenrenten). Darum geht’s zurück aufs Land, oder man bleibt gleich dort, pendelt aber in die Metropolen. Mit der (ökologisch begründeten) Spritpreiserhöhung, die ja den Anlass des Protests bildete, nimmt man «den in der Province isolierten, abgedrängten Leuten so das Letzte, womit sie noch am beruflichen und sozialen Leben teilnehmen können» (Sébastien Marot).

Das ist genau die (Warte-) «Schlange», von der Klaus Dörre spricht: «Lohnabhängige hatten, das jedenfalls behauptete der dominante Globalisierungsdiskurs, Opfer zu bringen, um die nationale Wirtschaft wettbewerbsfähig zu halten.» Natürlich kann man dieses erzwungene Denken in Investitionskategorien (erst Mühsal und Verzicht bzw. «Vorleistungen», dann Erträge) auch Trickle-down-Theorie nennen. Die Proteste und die Protestwahlen überall (Trump, Brexit, Italien), in der sich in der Tat eine «Revolution der (unteren) Mittelklasse» (Elie Cohen) ausspricht, lassen sich wohl so deuten, dass die Leute nicht länger Schlange stehen, dass sie keine «Opfer» (Dörre) mehr bringen wollen, insbesondere wenn sie sehen, dass andere, wie etwa die Vermögenden und Rentiers Frankreichs, absahnen bzw. Wohlstand abschöpfen (vgl. jüngst Mariana Mazzucato: «The Value of Everything»), oder dass sie (realistischer Weise) den Glauben ans Trickle-down verloren haben. Es wird nie besser, sondern der Druck nimmt nur immer weiter zu.

Alles nur ein Scheinsachzwang?

 

Die Frage ist (jenseits der «protektionistischen» Option wettbewerbspolitischer Waffenstillstandsabkommen zwischen den «Standorten»), ob eine massenhafte Aufkündigung des «sozialen Friedens» die Verwertungsbedingungen des global zirkulierenden Kapitals verändern wird. Seit der neoliberalen Wende verhält es sich ja so, dass «die Reichen nicht mehr damit zu rechnen brauchen, für die Maximierung ihrer Einkommen auf Kosten der Nichtreichen ... einen Preis zahlen zu müssen» (Wolfgang Streeck). Die Verwertungsbedingungen müssten sich allerdings, so scheint es jedenfalls, global, mindestens europäisch, verändern, weil das Kapital sonst abwandern könnte. Die Regierungen gleich welcher Couleur stehen ja im Sandwich zwischen zwei «revolutionären» Kräften: den Normalbürgern und dem stets abwanderungsbereiten «Unternehmerkapital», dem «Staatsvolk» und dem «Marktvolk» (Wolfgang Streeck). Oder ist dies vielleicht alles ein Scheinsachzwang?

Darauf verweist jedenfalls eine Studie, die – man glaubt es kaum – kürzlich vom ifo-Institut veröffentlicht wurde (hier wird berichtet, hier der Text). Die beiden Autoren von der University of Greenwich kommen in ihren Regressionsanalysen zu dem Ergebnis, dass die überall gesunkene Lohnquote «kein unausweichliches Ergebnis der Globalisierung» sei (und auch nicht des technologischen Wandels), sondern auf die Schwächung der Gewerkschaften und die Senkung des Reservationslohnes, also auf die Schwächung sozialer Sicherungssysteme zurückzuführen ist.

In Deutschland vor allem die Verkürzung der Bezugsdauer des «Arbeitslosengeldes» (60-67% der letzten Nettobezüge) von bis zu 32 auf 12-15 Monate sowie die Abschaffung der sog. «Arbeitslosenhilfe», mit der man lebenslang zumindest rund die Hälfte der letzten Nettobezüge erhielt. Je tiefer der Reservationslohn und damit die «fall-back» Option der Beschäftigten, desto schwächer ihre Verhandlungsmacht und desto höher die Bereitschaft bzw. desto stärker der Zwang, auch tiefer vergütete Beschäftigungen anzunehmen. Darum ist das Lohnabstandsgebot, welches die Unabhängigkeit der Primärverteilung von der Sekundärverteilung unterstellt, eine Ideologie.

Entsprechend empfehlen sie zum Zwecke der Erhöhung der Lohnquote (bzw. zur korrespondierenden Senkung der Kapitalquote) eine Stärkung des Systems der Kollektivverhandlungen (man könnte hier wohl an eine Stärkung von Allgemeinverbindlichkeitserklärungen denken), eine Erhöhung des Reservationslohns sowie (offenbar zur Finanzierung) eine verstärkte Besteuerung von Ausschüttungen und Aktienrückkäufen. Auch fordern sie eine Entkopplung der Vergütung des Managements vom Shareholder Value (offenbar um den Rentabilitätsextremismus einzudämmen) sowie eine Art offener Unternehmensverfassung (vgl. zu dieser Peter Ulrich).

Allerdings firmiert die neoliberale Politik, die auf das genaue Gegenteil abzielt, bei den Autoren nicht unter dem Rubrum «Globalisierung», obwohl zu dieser doch wesentlich der globale Standort- bzw. Regulierungswettbewerb zählt. Vielmehr wird «Globalisierung» eingeengt auf die drei Momente «Umfang des Imports von Vorprodukten [intermediate import penetration]», «Ausländische Direktinvestitionen [FDI]» und «Migration». Dass aber der globale (Regulierungs-)Wettbewerb gerade den «institutionelle Rahmen» selbst unter Wettbewerbsdruck gesetzt hat, gerät gar nicht erst in den Blick.

Dass die Sachzwänge – die als «parteiliche» (Peter Ulrich) Zwänge zugunsten der Inhaber von Nettovermögenspositionen wirken – von denjenigen, die von ihnen profitieren und von denjenigen, die sich ihnen, ihre angebliche «Wirtschaftskompetenz» zu demonstrieren wähnend, willfährig unterwerfen, übertrieben dargestellt werden, daran dürfte kein Zweifel bestehen. (Vgl. diesbezüglich die erhellende Studie von Astrid Séville: «There is no alternative», vor allem mit Blick auf den sozialdemokratischen «Exportschlager» New Labour.) So sieht sich etwa der amtierende Finanzminister, der Sozialdemokrat Olaf Scholz (bei Anne Will, 27.08.2017, ab Min. 1:02, erneut ab Min 1:13), damals Erster Bürgermeister von Hamburg, vormals engagierter Agenda-Verfechter, als ausführendes Organ eines vorgestellten Weltmarktgeistes: Ungeachtet der Tatsache, dass die Löhne am unteren Rand erst nach 2003 fielen, und zwar dramatisch (vgl. hier, S. 171), sei «der Niedriglohnsektor nicht politisch eingeführt worden.» Es gäbe da niemanden, «der dies politisch entschieden» hätte. Wer dies anders sehe, sitze einer «Mär» auf und vertrete eine «Verschwörungstheorie». (Dies müsste dann aber auch für Gerhard Schröder höchstselbst gelten, der im Jahre 2005 in Davos bekanntlich davon sprach, seine Regierung hätte «einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt». Es sei ein «funktionierender Niedriglohnsektor» geschaffen worden, und zwar vor allem dadurch, dass man «bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt» habe.) Vielmehr, so Scholz weiter, hätten «technologische Veränderungen» und «die Globalisierung» zum Niedriglohnsektor geführt, also die Agande-Reformen erzwungen (sog. «Alternativlosigkeit»). Die Agenda-Reformer waren folglich nur willfährige Ausführungsorgane überpersönlicher Vorgaben – und dabei sehr kompetente, man schaue doch auf die anderen Staaten. (Wobei Scholz allerdings vergißt zu erwähnen, dass diesen der Leistungsbilanzüberschussweltmeister Deutschland die Kaufkraft abgräbt. Und sie nun zu nämlichen Reformen zwingt. Und diese dann wiederum Deutschland zu noch weitergehenden. Usw. usf.) Olaf Scholz, an dem Friedrich August von Hayek seine wahre Freude gehabt hätte, meint offenbar, die demokratische Freiheit sei durch die globalen Marktkräfte «ersetzt» (Alan Greenspan) worden.

Das ist, Sachzwänge hin oder her, abwegig. Und man weiß nicht so genau, ob der Versuch, den Gegner zu desavouieren («Verschwörungstheoretiker») verfängt oder angesichts der Unbekümmertheit des Bekenntnisses zum politischen Freiheitsverlust auf den Überbringer der Botschaft zurückfällt. (Die Bürger müssen sich ja fragen: Wofür wählen wir eigentlich noch, wenn es gar keine Freiheitsgrade der Gestaltung mehr gibt und das, was die richtige Politik ist, bereits von «den Märkten» vorentschieden ist?) Zur Abwegigkeit des Zwangs zu genau denjenigen neoliberalen Reformen, die die sog. «Mitte»-Parteien beschlossen und durchgesetzt haben, zählt vor allem, dass Deutschland als der angeblich «kranke Manne» Europas, dessen Genesung die Reformen dienen sollten, gar nicht krank war, sondern mit der Wiedervereinigung zu kämpfen hatte, diese Situation aber für den neoliberalen Angriff auf die Soziale Marktwirtschaft genutzt wurde, worauf vor allem Peter Bofinger hingewiesen hat.

Zu dieser Abwegigkeit zählt im Besonderen, dass überhaupt nicht einsehbar ist, welcher Standortvorteil dem Umstand erwachsen sollte, dass der Niedriglohnsektor doch im Wesentlichen das Dienstleistungsproletariat betrifft, worauf (soweit ich sehe: einzig) Jens Berger hingewiesen hat: «Die Altenpflegerin aus Wuppertal steht ja gerade eben nicht mit ihrer Kollegin aus Sofia im Wettbewerb. Der Wachmann aus Passau kann nicht durch einen kostengünstigen Ersatz aus Thailand ausgetauscht werden, die Raumpflegerin und die Kassiererin nicht nach Mexiko ausgelagert und der Kellner gegen einen effizienteren Chinesen ersetzt werden. Die niedrigen Löhne dieser Menschen haben nichts mit der Globalisierung zu tun!» (Vgl. zu den Lohnsenkungen ausgerechnet und vor allem im Bereich des deutschen Inlandsmarktangebots hier, S. 172.)

Allenfalls ließe sich sagen, dass dadurch die Sozialstaatsquote gesenkt bzw. ihr Ansteigen verhindert werden konnte (was tiefere Steuern aufs Kapital erlaubt) und die Löhne der (zugunsten von Leiharbeit ausgedünnten) Kernbelegschaften in der Exportindustrie weniger stark steigen mussten als sonst (denn die geben ihr Einkommen ja zu guten Teilen – für nun billige – Dienstleistungen aus). In einer Art vorauseilendem Gehorsam (vor der Macht des Kapitals zum Ausspielen der «Standorte») und im Sinne einer Risikominimierungs- bzw. Chancenmaximierungsstrategie (für die Nettowertschöpfung des Standortes) hat man sich dann offenbar entschlossen, so radikal wie möglich zu deregulieren (man denke an die Finanzmarktderegulierungen unter Hans Eichel bzw. seinem Einflüsterer Jörg Asmussen) und den sozialstaatlich bestimmten Reservationslohn so weit zu drücken, bis es quietscht.

Wie weiter?

 

Eigentlich herrscht Ratlosigkeit. Auch auf der Seite der Neoliberalen (also fast aller «Experten»), da der Aufstand der «Wutbürger», die sich um die Feinheiten einer nur technokratisch zu bewältigenden Politik «unter den Bedingungen» der Sachzwänge nicht scheren, ihre «Reform»-Vorhaben untergräbt.

Umverteilen lautet die Botschaft der einen. Aus der Sicht der Neoliberalen Umverteiler allerdings nur, bis die Revolte erstickt ist, bis wieder «sozialer Frieden» herrscht, in den Worten Christine Lagards: bis das «soziale Vertrauen [also die Akzeptanz] wiederhergestellt» ist und «die öffentliche Unterstützung für [neoliberale] Reformen» wieder besteht (vgl. auch IMF, S. 87). (Wer will, kann hierin eine Aufforderung an die Verlierer bzw. die «Opfer» der neoliberalen Reformen zur Revolte erblicken. Denn je mehr sie randalieren, desto eher besteht Aussicht, dass sich ihr Los verbessert.)

In allein umverteilungspolitischer Hinsicht sind dann wohl auch die Hoffnungen, die Jürgen Habermas – an sich ja um der «Zivilisierung und Zähmung der kapitalistischen Dynamik» willen – auf Macron richtet, zu verstehen. Denn dieser möchte ja ein Eurozonenbudget und einen Eurozonen-Finanzminister installieren, und zwar um eine erneute Eurokrise zu verhindern (die das in Euro denominierte Finanzkapital vernichten könnte). Eine solche Krise könne kein Staat «allein durchstehen, wenn er [wie in der EU] nicht mehr über seine Währungspolitik entscheidet». Ohne hier auf die Komplexitäten des Vorschlags Macrons, der «reichlich im Ungefähren» verbleibt, im Einzelnen einzugehen, so scheint sein Sinn doch darin zu bestehen, durch alle vorgeschlagenen Maßnahmen hindurch die sog. «externe Wettbewerbsfähigkeit» der EU zu stärken, d.h., so Macron in eigenen Worten, «aus dieser Zone eine Wirtschaftsmacht zu machen, die mit China und den USA konkurrieren kann». Damit wäre die Forderung Christine Laggards, dass ein solches Eurozonenbudget selbstverständlich der «Konditionalität» zu unterliegen hätte («Geld gegen [neoliberale] Reformen»), ohnehin zumindest latent angelegt.

Natürlich ließe sich auch ein echtes Umverteilungsregime denken, eines, welches nicht in den Grenzen des «Win-Win» (auch für die Inhaber von Nettovermögenspositionen) verbleibt. (Davon scheint allerdings selbst Habermas nichts mehr wissen zu wollen: Wer die (von Macron) anvisierten Reformen mit der «Wortkeule ‘Transferunion’» abwehre, befeuere doch bloß die «weiterschmorende Finanzkrise» – was offenbar nicht in seinem Interesse läge. Und überdies sei «Solidarität» ohnehin KEIN «moralischer», SONDERN ein «politischer Begriff», definiere er doch nur das «langfristige Eigeninteresse» des (bloß vermeintlichen) Nettozahlers.)

Allerdings ist äußerst fraglich, ob ein politisches Konzept, welches nur auf die eine (der drei) Dimensionen einer Sozialen Marktwirtschaft, die Umverteilung bzw. Sozialpolitik, setzt, tragfähig ist. So bezweifelt der an der ETH Zürich lehrende Philosoph Lutz Wingert, dass die (auf Umverteilung reduzierten) «politischen Steuerungsmittel mit der Entgrenzung des Kapitalismus beliebig weit nachwachsen» können. Man müsse da schon tiefer ansetzen. Denn die Institutionen der Währungsunion (und auch der Binnenmarkt mit seinem Dogma der vier «Grundfreiheiten») sind ja von einem «Geist» beseelt, der darauf abzielt, «die Transaktionskosten ökonomischer Akteure zu senken [statt sie zu erhöhen], sowie Menschen und Gesellschaften rücksichtslos den Vorgaben einer Wettbewerbsordnung für Marktvölker ideologisch und organisatorisch anzupassen». Konkret: Eine höhere (EU-weite) Besteuerung des Kapitals würde sofort zu Fluchtversuchen (aus der EU hinaus) führen. Wenn möglicherweise – und wahrscheinlicher Weise – die Spielräume auch weitaus größer sind, als die Politiker des vorauseilenden Gehorsams (vgl. oben) glauben machen wollen. (So sprachen sich angesichts der Steuerreform der USA alle drei Bewerber für den CDU-Vorsitz für eine (weitere) Senkung der Unternehmenssteuern hierzulande aus, damit «wir wieder wettbewerbsfähiger werden» (Friedrich Merz). Dies, obwohl selbst nach Inkrafttreten der US-Steuerreform der effektive Unternehmenssteuersatz in Deutschland, so jedenfalls Lorenz Jarass, nach wie vor tiefer liegt als in den USA.)

Wenn wir das Problem mit Werner Vontobel an den «riesigen Netto-Überschüssen des Unternehmenssektors und der reichen Privathaushalte» festmachen, dann ist die Forderung nach dem Abbau dieser Überschüsse, so dass die Unternehmen sich, wenn sie investieren wollen (sollen sie?), «verschulden müssen», «leichter gesagt als getan». Denn unter den Bedingungen des «Standortwettbewerbs» geht das nicht. Selbst wenn dieser, jedenfalls mit Blick auf die Kapitalbesteuerung innerhalb der EU, stillgestellt oder jedenfalls reduziert wäre (immerhin spricht sich Macron für eine breitere Bemessungsgrundlage für Finanztransaktionen und eine Digitalsteuer innerhalb der EU aus), so bestünde ja noch der Steuer(senkungs)wettbewerb zum Rest der Welt.

Die Kernfrage ist an sich, ob und inwieweit ein Ende der Herrschaft des neoliberalen Regimes, ein Ende der «Hyperglobalisierung» (Dani Rodrik) – nicht des globalen Austausches und damit des globalen Wettbewerbs überhaupt – auf unilateralem Wege oder allein multilateral möglich ist. Und möglich heißt: ohne dass ein Land sich und seine Bevölkerung ökonomisch in den Abgrund risse. 

Für die multilaterale Option bedürfte es einer anderen Ökonomik (denn die bildet die Experten aus, die letztlich das Sagen haben und bestimmen, was als «seriöse» Handlungsoptionen in Frage kommt; vgl. zur Macht der Ökonomik andeutungsweise hier). Mir scheint allerdings, die starken Volkswirtschaften, die mit den Leistungsbilanzüberschüssen, könnten vorangehen (womit die unilaterale Option angesprochen ist). Auch bei ihnen, jedenfalls bei großen Teilen ihrer Bevölkerung, stellt sich ja die Frage, die Keynes (sinngemäß) bereits in seinem Grandchildren-Essay im Jahre 1930 aufwarf: Wir brauchen doch eigentlich gar nicht noch mehr. Der Wettbewerb ist nur mehr bloßer Statuswettbewerb, kaum mehr Wettbewerb zur Steigerung einer benötigten Güterfülle. Das Wachstum von heute ist nur mehr ein «blindlaufendes», also sinnloses Wachstum (vgl. Rosa, S. 678)

Und überdies können wir, die Weltgemeinschaft, uns ein echtes, also industrielles Wachstum (zu dem uns der Wettbewerb zwingt) ohnehin ökologisch nicht mehr leisten. So wird sich, OECD Prognosen zufolge, der globale Rohstoffverbrauch bis 2060 verdoppeln und der CO2-Ausstoß um 46 Prozent zunehmen. Das bei einem Weltwirtschaftswachstum von 400%, was zwar einer gewissen «Entkopplung» entspricht. Diese Entwicklung ist aber für die Erde und ihre Bewohner ganz sicher nicht tragfähig, sondern würde in Katastrophen münden (Stichwort «Heißzeit»), die die Menschheit möglicherweise auslöschen würde. Die brutalen Konflikte um die Maschinerie des globalen Wettbewerbs dürften erst noch vor uns liegen. Die Gelbwesten-Proteste sind da nur ein vergleichsweise milder Vorgeschmack.