25. Oktober 2012
Die «Gier» – (k)eine Ursache der Großen Finanzkrise?

Ulrich Thielemann
Kategorie: Regulierung, Kapital, Ökonomismus, Ökonomisierung

Eine Auseinandersetzung mit Yanis Varoufakis

 

In der kürzlich ausgestrahlten Arte-Dokumentation zu Goldman Sachs («Eine Bank regiert die Welt») – die einen fragen lässt, warum die Betrügereien nicht justiziabel sind und warum diese Bank überhaupt noch existiert – gab es ein, wie ich meine und sogleich erläutere: saublödes Statement eines offenbar heterodoxen Ökonomen, Yanis Varoufakis, der mir bislang unbekannt war. Er sagte (Min. 47:50): «I don't blame Goldman Sachs for anything. If a farmer leaves the door open and the fox comes and gets the chickens, I don't believe it's the foxes fault.”

Die «Gier» darf es nicht gewesen sein

Da hätten wir es wieder, nämlich das Argument, dass es nicht die «Gier» sei, die man für die Große Finanzkrise verantwortlich machen dürfe. Tatsächlich ist dies die Botschaft von Varoufakis, der dieser These einen ausführlichen Beitrag widmet, wie meine Recherchen ergaben: «Greed and loose ethics caused neither the Crash of 2008 nor the current eurozone crisis.» Wir finden dies auch bei zahlreichen weiteren Autoren, etwa bei Friedhelm Hengsbach, der «das Wort Gier nicht mehr hören kann», oder bei Rainer Elschen, dem «die Galle hochkommt», wenn er «das mit der Gier höre». «Gier» sei eben «Bestandteil des Systems, weshalb man sie kaum den Händlern vorwerfen kann, die sich gemäß den Regeln des Systems verhalten haben», so Hengsbach an anderer Stelle. Hengsbach ist sich zumindest in dieser Frage mit Hans-Werner Sinn einig, der einen «anonymen Systemfehler» am Werke sieht, ebenso mit Ingo Pies, der das Ganze für einen «unabsichtlichen Unfall» hält, weshalb es nicht «falsche Motive sondern falsche Anreize» waren, die diese «Probleme» verursacht hätten. («Motive» können im Transzendentalökonomismus der Homann-Schule, der Pies zuzurechnen ist, bzw. im methodologischen Individualismus ohnehin nie falsch sein. Falsch kann hier nur die Kalkulation darüber sein, wie sich eigene Interessen gegenüber den Widerständen (constraints) anderer tatsächlich durchsetzen lassen.)

Ordnungsethik statt Individualethik?

Wenn wir von der transzendentalökonomischen Position einmal absehen, die überhaupt keine Ethik kennt, die den Namen verdient, nämlich keine Ethik mit Moral, so ist fatal an dieser Sicht nicht nur, dass sie Individual- und Ordnungsethik gegeneinander ausspielt statt beides zusammen zu denken, sondern auch, dass sie Homo oeconomicus einen legitimatorischen Freifahrtschein ausstellt: Die Akteure dürfen also weiterhin handeln, wie sie wollen. Es komme nur darauf an, dass die «Füchse» (Varoufakis) richtig reguliert werden. Dabei wird natürlich stillschweigend vorausgesetzt, dass die Regulierer nicht etwa aus «Gier» handeln, sondern aus ethischer Einsicht. (Dies unterscheidet diese Sicht von der transzendentalökonomischen bzw. streng ökonomistischen Position.) Prägnant findet sich diese Sicht bei dem Philosophen Smail Rapic, der dem Marxismus nahe steht: «Nicht Gier, sondern die Logik des Kapitals, die objektiven Mechanismen dieser Wirtschaftsordnung nötigen die Akteure so zu handeln. Systemimmanent handeln die vollkommen richtig. Es wäre idiotisch, wenn ein Banker moralisch handeln würde. Ich würde ihn nicht einstellen, das ist Unsinn. Der Banker kann nur durch Gesetze, durch externe Kontrollen so kontrolliert werden, dass die Ergebnisse seines Handelns dem Gemeinwohl näher kommen als dem Aktionärswohl», jedenfalls so, dass er im Ergebnis ethisch richtig handelt. Wirtschaftsethik ist Ordnungsethik, so ließe sich diese Sicht zusammenfassen.

Natürlich bedürfte dieses Problem einer vertieften Auseinandersetzung, die ich hier nicht leisten kann. Einige Hinweise sollen genügen, und zwar mit Blick darauf, welche Rolle die «Gier», das «unbändige Vorteilsstreben» (Karl Homann), der Homo oeconomicus bei der Entstehung der Krise gespielt hat bzw. weiterhin spielt. Natürlich ist diese Frage normativ: Die «Ursache» für einen Zustand, der als Missstand zu klassieren ist («Krise»), ist abzustellen. Als Verursacher ist er verantwortlich zu machen.

Missverständnisse über Gewinnmaximierung

Zunächst besteht da ein konventionalistisches Missverständnis darüber, was denn «Gier» sei. Als handele es sich um ein «Laster», um ein mehr oder minder zufälliges «Fehlverhalten von Individuen», wobei so etwas ja «immer zu erwarten» sei, so der Politologe Frank Nullmeier. Dabei wird nicht nur verkannt, dass die «Logik des Kapitals», die etwa Rapic zu Recht ins Spiel bringt, gerade darin besteht, dass allein die «Gier», das finanzielle Eigeninteresse, zählt, sondern auch, dass es sich hierbei um eine graduelle Frage handelt. Es kann ja mehr oder weniger davon geben. Und das unüberbietbar höchste und reinste Maß der Eigeninteressenverfolgung, welches der Ökonomismus als «rational» klassiert (alles andere wäre «irrational»), die Nutzen- bzw. Gewinnmaximierung, die ökonomische Radikalisierung, wurde dann ja auch mit den Weihen des Legitimen ausgestattet. Ihr wurde Verbindlichkeit zugesprochen – aber eine ethisch falsche Verbindlichkeit. Dies sieht übrigens auch Varoufakis in seiner differenzierten Stellungnahme so: «Sometime after 1979 Greed did acquire a veneer of moral acceptability.»

Wer nun also sagt, die Krise hätte nichts mit «Gier» zu tun, der gibt der Ökonomisierung des Denkens und damit dem Ökonomismus (der Homo oeconomicus rechtfertigt) entweder Recht (wie sicher Ingo Pies und ziemlich sicher Hans-Werner Sinn), oder er müsste seine Kritik am «Gier»-Argument schon differenzierter formulieren, nämlich so, dass «Gier» allein mit Blick auf diese Krise keine, jedenfalls keine wesentliche Rolle spiele, damit aber nicht stillschweigend «Gier» – und d.h.: alles herausholen, was sich herausholen lässt – als eine legitime Handlungsorientierung gerechtfertigt würde. Keinem der hier herangezogenen Autoren gelingt jedoch diese Differenzierung. Sie dürften keinen Bedarf in einer solche Differenzierung sehen, da ihnen zu wenig klar vor Augen ist, was Eigeninteressen- maximierung  (für die man treffend den eher umgangssprachlichen Begriff der «Gier» verwenden darf) bedeutet und wie radikal diese ist. Homo oeconomicus ist jedes Mittel recht, solange es dem Erfolg dient. Dies ist keine abgeschlossene Sache, sondern lässt sich immer radikaler betreiben. Und wie das geht, das wird den Eleven im Ökonomiestudium beigebracht. Darin besteht die «Gehirnwäsche» als einem Prozess der ökonomischen Radikalisierung.

Diese Differenzierung gelingt auch Varoufakis nicht, obwohl er ansonsten ein Kritiker der «instrumentellen Rationalität» ist, wie sie die Standardökonomik als Inbegriff der praktischen Vernunft vertritt, weshalb er im Ökonomiestudium eine «Indoktrination» erblickt. Offenbar ist ihm die Botschaft, dass die makroökonomische Natur der Krise eine politische Antwort, dass sie «politischen Mut» erfordert – wer würde daran zweifeln? – wichtiger. Aber er bekommt beides nicht zusammen: die Kritik an der «Gier» nicht mit der ordnungspolitischen Botschaft. Heraus kommt eine Billigung, wenn nicht gar eine Rechtfertigung, der ruchlosen Praktiken von Finanzmarktakteuren wie Goldman Sachs. «Expecting them [Bankers] to do otherwise [making money work for them] is like expecting a bird not to fly or a crocodile not to ambush.»

Makro- und mikroökonomischer Ökonomismus

Festzuhalten ist zunächst, dass die Kritik an der «Gier» der Finanzmarktakteure nicht auf eine bloße Individualethik in einem schlichten, singularistischen Sinne hinausläuft, jedenfalls nicht hinauslaufen muss. Dies schon darum nicht, weil die übergreifende, sozusagen politische Verbindlichkeit, die bis zur Eruption 2008 beinahe monolithisch galt, der Ökonomismus verbuchen konnte: Die Finanzmarkt- akteure, Banker ebenso wie Investoren bzw. Rentiers, sollten und durften alles tun, um Kapital zu produzieren bzw. abzuschöpfen (natürlich sprach man nicht von abschöpfen), weil ja viel Pril viel hilft, weil das Mantra galt: Je mehr Kapital im Spiel ist, desto besser für alle. Denn das Kapital schafft ja die ersehnten Arbeitsplätze. Zwischen dem makroökonomisch unterstellten, tumb kapitalmarktgläubigen Zusammenhang und der mikroökonomisch befeuerten Handlungsorientierung der Akteure besteht also durchaus ein Zusammenhang.

Die Kapitalblase fällt nicht vom Himmel

Und so fällt der «tsunami of capital», in dem Varoufakis den Kern der Krise zu erblicken scheint (ja, scheint, ich hoffe, darauf in einem späteren Blog-Beitrag zurückzukommen), auch nicht vom Himmel, sondern wurde von einem zunehmend radikaler agierenden Management im Auftrag seiner «Prinzipale» geschaffen oder je nachdem abgeschöpft, angetrieben nicht nur durch diverse «Anreize» in Form von Boni, sondern auch angefeuert und legitimiert von der ökonomistischen Ideologie, die praktisch flächendeckend das Sagen hatte. Nicht nur in den Banken, sondern auch in den realwirtschaftlichen Unternehmen grassierte und grassiert weiterhin die neue ökonomische Radikalität. (Immer noch aktuell, exemplarisch wie systematisch erhellend: System Error, Einleitung sowie Abschnitt 3). Das Ergebnis lässt sich etwa in dieser Grafik bewundern. Es ist das Anwachsen des globalen Verschuldungsgrades der Schuldner – und das sind letztlich immer die Beschäftigten, die real Wirtschaftenden – gegenüber den Gläubigern, den Rentiers, dem Kapital, der von rund 100% des Welt-BIP im Jahre 1980 auf 356% im Jahre 2010 gestiegen ist (Quellen hier). Bewundern lässt sich der «Erfolg» des Kapitals und seiner «Agenten» auch in den Vermögensbeständen der europäischen Banken, die von 270% des EU-BIP im Jahre 2001 auf 360% im Jahre 2011 angewachsen sind (vgl. hier, S. 12, Chart 2.3.1).

Die Kritiker des «Gier»-Arguments müssen annehmen, dass die Handlungsorientierungen der betrachteten Akteure (etwa: Banker) unverändert blieben und sich nur äußere Umstände, constraints, «Rahmenbedingungen» oder Konstellationen verändert haben, und in diesen ist die Ursache der Krise zu erblicken. (Man könnte natürlich fragen, wer für die Veränderung dieser Umstände wiederum verantwortlich ist und welche Rolle «Gier» dabei spielte.) Es muss also vorausgesetzt werden, dass die betrachteten Akteure immer schon «gierig» waren und dass es da keine Steigerung geben kann. Dass sie immer schon Gewinnmaximierung betrieben, nicht etwa bloß Gewinne, neben anderem, erzielen wollten. (Vgl. zum Unterschied hier, S. 6 f.)

Dass es sich nicht so verhält, darauf deuten zahlreiche Hinweise von Insidern hin. So zeigen etwa die Libor-Manipulationen nach Ansicht des Chefs der britischen Finanzaufsichtsbehörde, Lord Turner, dass sich im Banking «ein Ausmaß von Zynismus und Gier» breit gemacht habe, das «schockierend» sei. In die gleiche Richtung geht die Beobachtung des ehemaligen Historikers der UBS, Robert U. Vogler, der innerhalb der Bank einen Kulturwandel ausmacht: «Mit der fortschreitenden Amerikanisierung der Bank hatte man keinerlei Skrupel mehr… Mit den hohen Wachstums- und Renditevorgaben hielt die Gier Einzug. Es gab kein Halten mehr.»

Natürlich kann man sich fragen, auf wessen Seiten die «Gier» am stärksten ausgeprägt war, auf Seiten der Manager, der «Agenten», oder auf Seiten des Kapitals, der «Prinzipale». Wer etwa hat die Boni-Systeme installiert? Brady Dogan jedenfalls, millionenschwerer CEO der Credit Suisse, meint, ihm seien die «Anreizpläne» von den Aktionären «geradezu aufgezwungen» worden. (Vgl. auch den Hinweis von ex-UBS Präsident Kaspar Villiger hier.) Jedenfalls lässt sich m.E. nach wie vor festhalten: «Ohne Boni hätten die Bankmitarbeiter kaum eine Veranlassung gehabt, die nominellen Kapitalbestände durch Kettenverbriefungen in immer neue Höhe zu schrauben.» Ohne Boni hätten die Rentiers schon selbst ihr toxisches «private money» kreieren müssen, mit dem sie den Rest der Gesellschaft dann in Geiselhaft nehmen und zu gigantischen Bails-Outs nötigen durften.

Ein System der Gier

Es ist nicht einfach «Gier» als eine mehr oder minder zufällig hier und dort aufflammende «menschliche Schwäche», die man für die Krise verantwortlich machen kann. Die Krise ist vielmehr Folge und Ausdruck eines Systems der Gier. Das Systematische besteht dabei im Ökonomismus als der «vorerst letzten und vielleicht wirkungsmächtigsten Grossideologie aller Zeiten» (Peter Ulrich). Und deren Kernbotschaft lautet: «Vernünftig ist, was rentiert.» (Max Frisch) Eine der Folgen davon war etwa die Bankenderegulierung. Diese setzt ja voraus, dass die «Privaten» ihre eigenen Interessen wahrnehmen sollen, worin eingeschlossen ist, dass ihnen erlaubt ist, dabei keine Rendite zu kennen, die zu hoch ausfallen könnte.

Es ist doch einfach so: Hätten die Banken alle wie die Alternative Bank Schweiz (ABS) gehandelt, die Unternehmen überhaupt wie Sozialunternehmen, dann hätten sich Kapitalbestände im gegenwärtigen Ausmaßes niemals aufgetürmt. Zwar ist es im Prinzip denkbar, dass auch in einer sozialunter- nehmerisch geprägten, sozial-ökologisch gemäßigten und in wohlerwogene Werte der Legitimität, Verantwortbarkeit und Sinnhaftigkeit eingebetteten Marktwirtschaft Kapitalbestände angehäuft werden könnten, die zu bedienen die Beschäftigten überfordert. (Das Problem entsteht ja nicht in der Sphäre der unmittelbaren Interaktion, nicht individual- oder unternehmensethisch, sondern makroökonomisch auf der Ebene des Zusammenspiels aller Marktakteure im globalen Wettbewerb.) Was sich dazu, jedenfalls im Moment, sagen lässt: Das ist nicht die Welt, in der wir gegenwärtig leben.