Der unbedarfte Brachial-Ökonomismus des Marc Beise
Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus, Orientierungen
Um den Wirtschaftsjournalismus ist es schlecht bestellt – sicher nicht nur in Deutschland. Wer nämlich über das Wirtschaften etwas zu sagen haben will, das den anerkannten Standards professioneller Stellungnahme genügen soll, der muss Ökonomiestudiums durchlaufen haben – und wird dort einer ökonomistischen «Gehirnwäsche» unterzogen. Heraus kommt die Huldigung des Marktprinzips (das auf eine Ethik des Rechts des Stärkeren hinausläuft), auch wenn diese heute in der Regel weniger direkt und häufig reichlich naiv und eher en passant auftritt, etwa wenn Redakteure des Ressorts Politik übers Wirtschaften schreiben dürfen, welche den Ökonomismus in der Regel eher vom Hören-Sagen kennen (vgl. exemplarisch dies.) Ökonomismus-Kritisches, jede Relativierung des Marktprinzips, hat zumindest in den Wirtschaftsredaktionen keinen Platz (was ich etwa beim Versuch, diesem Beitrag unterzubringen, mal wieder feststellen musste).
Marc Beise ist der vielleicht grobschlächtigste und zugleich unbedarfteste Vertreter der ökonomistischen Denkungsart in Deutschland. Wenn die Kanzlerin die «marktkonforme Demokratie» ausruft, dann könnte man mit einigem Wohlwollen noch meinen, da schwinge noch etwas Bedauern mit über den Verlust der politischen Freiheit – aber, so die eiserne Kanzlerin, es müsse eben sein. Bei Marc Beise ist die Marktkonformität der Politik und des Lebens im Ganzen bereits a priori festgezurrt. Das hört sich dann etwa so an: «Die Märkte müssen sozusagen mit der Peitsche in der Hand hinter den Politikern stehen und diese weiter zu Reformen treiben.» (Vgl. hier, ab Minute 2:50) Welche «Reformen» dies dann sind, ist ja ohnehin klar, nämlich solche, die das Kapital hofieren.
Der atemberaubende, durch nichts getrübte «Neoliberalismus» Beises (vgl. dazu etwa dies, dies und dies; hübsch auch diese Satire) sollte uns nicht weiter bekümmern, wenn Beise, der «Mann fürs Grobe», auf irgendeiner durchgeknallten marktlibertären Plattform schreiben würde, die ohnehin nur Marktgläubige frequentieren (hier eine Übersicht). Doch der studierte Volkswirt (und Jurist) Beise ist (gemeinsam mit Hans-Jürgen Jakobs) der Leiter der Wirtschaftsredaktion der wohl gewichtigsten Tageszeitung Deutschlands, der Süddeutschen Zeitung. Diese wird von etwa einer halben Millionen Leser täglich gelesen und ist eine Art Leitmedium auch für andere Redaktionen. Wie man also über das Wirtschaften in Deutschland zu denken hat, darüber gibt Beise wie kaum ein anderer verbindliche Auskunft (natürlich dem Anspruch und der Konstellation, nicht der Gültigkeit nach). Wird die SZ eigentlich trotz oder wegen Beise gekauft?
Da Weihnachten die Zeit sei, zu der «eifrig Mitmenschlichkeit gepredigt» werde, dachte sich Beise: da schreibe ich doch eine Kolumne, um zu zeigen, dass «die Ökonomie und das wirtschaftliche Denken» überall walten – und überall mit jeder inneren Konsequenz walten sollen. «Jesus als Marke», so nannte Beise seinen provozierenden Text. Und natürlich sollte er provozieren. (Dass ihm dies gelang, zeigen die weitestgehend ablehnenden und empörten Kommentare.)
Reiner Ökonomismus
«Jesus als Marke» ist natürlich eine Chiffre dafür, dass auch noch die Kirchen erfolgsorientiert zu handeln haben, und zwar durch und durch. Wir kennen dies bereits – etwa in Entwürfen für ein «Unternehmen Kirche». Die Gläubigen werden zu «Kunden», und das heißt: sie haben nur mehr in ihren Wirkungseigenschaften zu interessieren, vor allem als Zahlende oder auch in anderer Hinsicht nützliche Dienste Leistende. Dies ist darum über alle Maßen zynisch, weil die Religionsgemeinschaften nichts anderes sind als eine Vergewisserung, Stärkung und eine je spezifische Auslegung ihrer Humanität. Sie sind keine Zweckverbände, deren Mitglieder sich wechselseitig als Mittel gebrauchen, um etwas außerhalb ihrer Selbstvergewisserung und Sozialität zu bezwecken. (Und wenn sie dies auch tun, man denke an die Caritas, und auch Priester brauchen ein Einkommen, so ist dies in ihrer Gemeinschaftlichkeit eingebettet und, Hegelianisch gesprochen, aufgehoben, jedenfalls wohlverstandener Weise – natürlich gibt es Missbrauch; Scientology dürfte einer sein.) Sich selbst – als «Marke» – genau so aufzustellen, um etwas anderes "bestmöglich" zu erreichen (etwa Folgebereitschaft), widerspricht der moralischen Idee der Kirche (und übrigens auch anderer Gemeinschaften) und ist auch nicht verallgemeinerungsfähig. Kirche und Kirchgänger könnten nicht die Plätze tauschen: Die einen wollen Vergewisserung und kommen nur, weil sie glauben, dass die andere Seite diese ebenfalls will; die anderer Seite will ihr Einkommen steigern. Da dieser Opportunismus, so er erkennbar würde, selbstdestruktiv wäre – die Gläubigen würden sich enttäuscht abwenden –, müsste man ihn natürlich verbergen.
Beise dürfte die hiermit angesprochene Differenz zwischen kommunikativer und strategischer Rationalität (Habermas; vgl. zur Erläuterung und zu den gleichwohl bestehenden Unschärfen diesen Text, S. 2-7), zwischen dem Gebrauch anderer «als Mittel» oder ihrer Anerkennung «als Zweck» bzw. als Person in ihrer «Würde» (Kant, S. 75, 84) nicht verstehen – und mit ihm so gut wie alle akademisch etablierten Ökonomen, da in der Gleichsetzung von Rationalität mit instrumenteller Vernunft das Identitätsprinzip der «Glaubensgemeinschaft der Ökonomen» besteht. Es ist doch eigentlich ganz einfach: entweder interessieren uns andere letztlich darin, was sie uns mitzuteilen haben oder darin, was sie uns zu bieten haben. Entweder geben gute Gründe, die beide Seiten intersubjektiv teilen könnten, den Ausschlag, oder ihre Macht – etwa ihre Kaufkraft oder Produktivität. Nur die erste Perspektive ist rechtfertigungsfähig – schon allein darum, weil man durch erfolgsorientiertes Handeln nicht herausbekommen kann, wer Recht hat bzw. was Gültigkeit beanspruchen darf.
Natürlich verstehen Beise und Co. das, zumindest intuitiv, da es das Humanum ist, welches hier auf dem Spiel steht. Doch aus Gründen (oder Ursachen), denen nachzugehen sich lohnen dürfte (ich vermute, sie hängen mit Modi der Anerkennung zusammen), möchten sie das Gegenteil der von ihnen vertretenen instrumentellen bzw. (im sozialen Raum) strategischen Rationalität nicht als kommunikativ-humane Rationalität, nicht als praktische Vernunft, sondern schlicht als Irrationalität (etwa als «animal spirits») gefasst wissen.
«Pragmatismus» – Separatismus als Einfallstor des reinen Ökonomismus
Die Frage ist, wie kann es Beise gelingen, diese Perspektive allgemeiner Erfolgsrationalität zu rechtfertigen? Im Unterschied zu seinen Vorgängern – ich denke da an beinhart marktgläubige und ideologisch voll gefestigte Wirtschaftsjournalisten wie etwa Gerhard Schwarz (ehemals Wirtschaftschef der NZZ) – wartet Beise nicht mit großen ökonomistischen Gesellschaftsentwürfen auf (die sich in der Regel als «liberal» bezeichnen). Bezüge zu Hayek, Buchanan, Friedman oder gar Mises fehlen weitgehend. (Wenn dann doch einmal, dann wird ihr «hohes intellektuelles Niveau» bewundert.) Und überhaupt haben diese Entwürfe ja innerhalb der Wirtschaftswissenschaften ihre Strahlkraft eingebüßt – was sich exemplarisch am neueren Methodenstreit zeigte, den die mathematisch geprägten und d.h.: die unphilosophisch-positivistisch verfahrenden, dabei aber kaum minder ökonomistisch ausgerichteten Volkswirte bekanntlich gewonnen haben.
Beise geht anders vor als die Altvorderen, leichtfüßiger, weniger "theorielastig", scheinbar unbedarfter, man könnte sagen: "pragmatischer". Und er bedient sich der gleichen trickreichen Argumentationsfigur, die etwa Karl Homann in Anschlag bringt, um die Anwendungsethiker ins eigene Boot des Ökonomismus zu ziehen. (Ich vermute, Beise hat keinen Satz von Homann gelesen. Muss er auch gar nicht. Der besagte Trick liegt einfach innerhalb des ökonomistischen Bezugsrahmens nahe.)
Der Schlüsselsatz Beises lautet: «Jede Entscheidung ist möglich, aber man muss die jeweiligen Konsequenzen kennen und zu tragen bereit sein.» Wer möchte schon nicht, dass seine Ziele verwirklicht werden? Wer möchte nicht "Lösungen" für seine "Probleme"? So lautet die Suggestion. Auch «(Gut-)Menschen» wollen das. Sie wollen etwa, dass «die Zahl der Armutsgefährdeten» sinkt, «die Umweltzerstörung» nicht weiter voranschreitet, «der Atomwahnsinn» ein Ende hat. Und «Kirchenmenschen» wollen doch, dass «die Anziehungskraft der Kirchen» nicht weiter schwindet. «Alles gut und schön», so Beise weiter, «aber nichts wert ohne die Frage: Ja, wie denn?» Wie denn durchsetzbar, soll das heißen. Der Homo oeconomicus ist schon überall.
Da kommunikative Rationalität als «Appellieren» verunglimpft wird – als gäbe es nur dieses, und nicht das Argumentieren (dessen sich ja auch Beise hier bedient; wessen denn sonst?) –, kommt derjenige, der etwas will, «gar nicht darum herum», die Sache «ökonomisch» anzugehen und sich «der Betriebswirtschaftslehre» (als allgemeiner Lehre der Erfolgsrationalität) «zu ergeben».
Ökonomismus als Partikularismus
Der (vermeintliche) Charme dieser Variante des Ökonomismus besteht darin, dass man den Adressaten dieser Theorie (denjenigen also, die man davon überzeugen will, «die Sprache der Ökonomen» zu sprechen bzw. in ihr zu denken) ihre Aspirationen lässt. Dies können auch "moralischer" Natur sein. Die Adressaten müssen nicht zu Gewinnmaximierern werden, sie können auch "altruistische" statt "egoistische" Ziele verfolgen (wie immer sich das eine vom anderen auch trennen lässt; vgl. zum Zynismus des Konzepts "moralischer Präferenzen" hier, S. 132 ff.) Worin besteht aber dann die «Sprache der Ökonomen» bzw. das spezifisch «Ökonomische» (bzw. Ökonomistische) dieser Konzeption?
Eben darin, im Verhältnis zu unseren Interaktionspartnern nicht nach den Gründen, nicht nach der Begründbarkeit unseres wir ihres Handelns kritisch zu fragen, sondern nach den «Konsequenzen» unseres Handelns. Diese «Konsequenzen» (bzw. Wirkungen), die für uns unangenehm sein mögen (bzw. dem widersprechen, was uns etwas «wert» ist), erzeugen diese nämlich – indem sie etwa den Kirchen fernbleiben, wenn diese gar kein oder das "falsche" Kirchenmarketing betreiben. In dieser Argumentationsunzugänglichkeit, darin besteht letztlich der Ökonomismus. Darum ist er ein Partikularismus: Andere, zumeist unbenannte Akteure, werden aus dem Kreis der Adressaten ausgeschlossen. Und diese dürfen dann ungestüm das tun, was Homo oeconomicus nach standardökonomischer Lesart tun soll, nämlich Wirkungen zu erzeugen, je nachdem, was ihm «wert» ist; d.h. je nach seinen privatim bestimmten "Präferenzen" – und je nach seiner Macht natürlich, die sich "unternehmerisch" steigern lässt: Was man nicht kann, das kann man lernen.
«Welche Entscheidung welche Konsequenzen nach sich zieht – das muss schon erörtert werden.» Aber es soll nicht gegenüber denjenigen, die die «Konsequenzen» erzeugen, erörtert werden. Sonst erübrigte es sich ja auch, jedenfalls konzeptionell, nach «Konsequenzen» zu fragen – statt nach Begründungen, die auch andere müssten teilen können, wenn sie gute sind.
Hier einige makroökonomische Beispiele für dieses konsequentialistische – genauer: partikularistische – Denken, welches uns Beise nahelegen will:
- «Wenn der Staat die Sozialausgaben steigert, was bedeutet das für die Investitionsausgaben?» Suggeriert werden soll offenbar: «Investiert» werden muss ja, um die Arbeitslosigkeit zu reduzieren, denn das Kapital "dient" ja "der Realwirtschaft". Aber wenn weniger Kapital zur Verfügung steht, Teile davon wegbesteuert werden, um die «Sozialausgaben» zu steigern oder auch nur schon zu halten (oder um Leistungsgerechtigkeit herzustellen?), dann ist ja weniger davon da. Die «Konsequenzen» davon – eventuell auch: diejenigen der Steuerflucht – hätten dann die «Gutmenschen» und natürlich die weiterhin Arbeitslosen zu tragen. (Dass Beise tatsächlich so tumb kapitalmarktgläubig denkt, zeigt er hier.) Folglich wäre dies "kontraproduktiv". (Dies ist das Lieblingswort des im Separationsparadigma argumentierenden Ökonomen, auch wenn Beise es hier vermeidet.)
- «Wenn er [der Staat] Steuern erhöht, was heißt das fürs Wachstum?» Natürlich haben wir alle eine Präferenz für «Wachstum» (das ja, wenn nur an den richtigen Stellschrauben gedreht wird – und die paradigmatische Stellschraube heißt: Hofierung des Kapitals – wie Manna vom Himmel fällt). Wenn wir aber das Kapital besteuern, dann ist die «Konsequenz» ein geringes Wachstum. Denn Null-Kapitalsteuern "kurbeln" ja das Wachstum an…
- «Wenn er [der Staat] Ausnahmen von der Ökosteuer kippt, wie sieht es dann um die energieintensiven Unternehmen in Deutschland aus?» Natürlich brauchen wir noch weitergehende Ausnahmen von der EEG-Umlage; der jüngste Anstieg ist noch nicht steil genug (was bedeutet, dass die Nicht-Rentiers, also die Normalbürger, diejenigen, die keine Aktien derjenigen Unternehmen, denen die EEG-Umlage erlassen wird, halten, die steigenden Energiekosten zu tragen haben). Wäre es anders, würde diese Unternehmen ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Das wäre dann die «Konsequenz» davon, dass andere im globalen Wettbewerb (oder im Weltwirtschaftskrieg um die Gunst des Kapitals?) zu einander stehende Weltmächte (etwa China, die USA), weniger umweltbewusst agieren als Deutschland. Deren wirtschaftspolitisches Handeln, deren Politik als "Standortpolitik", soll hier als eine Tatsache hingenommen, nicht kritisch adressiert werden. Denn dieses könne ja nur ein folgenloses «Appellieren» sein – oder wie Homann zynisch formuliert: «Appellitis».
- «Wenn den Euro-Krisenstaaten die Schulden erlassen werden, was bedeutet das für die Entwicklung der Euro-Zone insgesamt?» Dies «bedeutet» dann höchstwahrscheinlich, dass das global zirkulierende Kapital Europa schon zeigen wird, wer hier das Sagen hat.
Beise meint, diese seine aufs «Gestalten» (sprich: aufs Durchsetzen vorbestimmter Interessen) abstellende Sicht bedeute, «die Dinge zu Ende zu denken». Das genaue Gegenteil trifft zu. Dies wird sofort klar, wenn man bedenkt, dass das Denken – selbstverständlich: das nach Gültigkeit strebende Denken – nicht partikularistisch, sondern eben universalistisch zu denken ist. (Dies ist eine wichtige Einsicht der Transzendentalpragmatik Karl-Otto Apels, Quelle hier S. 255, vgl. auch hier S. 6.) Dies haben «die Männer und Frauen der Kirche» und alle, die sich der Ökonomisierung des Denkens entgegenstellen oder diesem noch nicht verfallen sind, mindestens intuitiv erfasst. Es verhält sich daher genau umgekehrt, wie Beise uns nahelegen will: Nicht ihnen, die «sich bestenfalls widerwillig der Betriebswirtschaftslehre» bzw. dieser Ökonomisierung «ergeben», sondern ihm bleibt «diese Welt» fremd. Zumindest solange, als die Welt, in der wir leben, nicht bereits im Ganzen durchökonomisiert und folglich noch zumindest im Ansatz argumentationszugänglich ist. Sonst machte ja auch das Schreiben des Textes von Beise keinen Sinn mehr. Dass uns, die wir noch nicht als Homines oeconomici durch die Welt laufen, «diese Welt», d.h. die soziale Welt im Ganzen, stattdessen mit ihren «Konsequenzen» die «die rote Karte zeigt» (Gerhard Schwarz), wenn immer wir uns ihr nicht «ergeben», ist vorerst nur ein wirrer Wunschtraum der Beises dieser Welt. Da allerdings der große Wettbewerbsprozess als Prozess der «Auslese» (Max Weber) eine Art «Erziehungsanstalt» ist, kommt es darauf an, den Geltungsanspruch des Ökonomismus zurückzuweisen und seine Nicht-Einlösbarkeit zu erweisen. – Was mit diesem Text (und den verlinkten Texte) erfolgt ist.
An die Chefredakteure und die Bildungspolitiker
Wie nur ist es möglich, dass sich der Brachial-Ökonomismus etwa eines Marc Beise zum angeblich seriösen Wirtschaftsjournalismus hat aufschwingen können? Die Antwort findet sich nicht bei Beise, sondern im Bildungs- bzw. Verbildungssystem der vorherrschenden Ökonomik, von dem Beise nur ein eher unbedarftes und reichlich unwissendes Kind ist.