17. Juli 2012
Der Streit der Ökonomen

Ulrich Thielemann
Kategorie: Kapital, Ökonomismus

Der widerwillige Paradigmenwechsel Hans-Werner Sinns zum Schuldenschnitt – und das Beharren seiner Widersacher auf der Hofierung des Kapitals

 

Bekanntlich haben unter der Federführung von Hans-Werner Sinn vor gut einer Woche 172 Ökonomen (aktueller Stand: 250) in einen «offenen Brief» vor überbordenden Haftungsansprüchen gewarnt, denen «Steuerzahler, Rentner und Sparer der bislang noch soliden Länder Europas» sich ausgesetzt sähen, wenn die Billionen messenden Staats- und Bankschulden der «fünf Krisenländer» abzuschreiben seien, wovon die Gruppe dieser Ökonomen offenbar ausgeht. Dafür wurden sie – vor allem von anderen Ökonomen und Wirtschaftsjournalisten – scharf gescholten. Ihnen wurde ein zumindest «latenter Nationalismus» (Gustav Horn) und Dilettantismus vorgeworfen – etwa in der ersten Gegenreaktion, in der sich sonst als Kontrahenten gegenüberstehende Keynesianer wie Peter Bofinger und Gustav Horn mit Neoklassikern wir Michael Hüther und Bert Rürup zusammenfanden, die im Sinn-Aufruf das «Ansehen unseres Fachs» beschädigt sehen. Peter Bofinger fasste beides zusammen, in dem er Sinn und seinen Mitstreitern «schlimmste Stammtisch-Ökonomie» vorwarf. (Hier die wohl umfassendste Zusammenstellung der Diskussion.)

Zunächst zeigt dieser Streit, wie Ulrike Herrmann von der taz treffend festhielt, dass Ökonomik nicht eine Art Naturwissenschaft ist, die objektive «Wahrheiten» verkündt. Vielmehr mache der Streit «offenbar», dass sich «hinter all den mathematischen Formeln und der naturgesetzlichen Scheinobjektivität» immer schon ein Votum für bestimmte «Interessen» verberge. – Und dabei geht es natürlich um die Frage der Legitimität der Interessen, für die oder gegen die man votiert – praktisch immer: implizit, wobei man nicht nur an materielle Interessen, sondern auch an so etwas wie Lebensforminteressen (vor allem mit Blick auf die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse) zu denken hat. «Ökonomik ist Ethik» (Karl-Heinz Brodbeck). Und damit sind wir auch beim Memorandum. Nicht nur, weil ethische Reflexionen zu einem festen Bestandteil der Wirtschaftswissenschaften gehören sollten (davon sehen wir im Streit allerdings fast nichts), sondern auch, weil die Auseinandersetzung zumindest auf den ersten Blick den Eindruck erweckt, das ökonomistische Einheitsparadigma gehöre der Vergangenheit an und der Pluralismus sei bereits Realität.

Worin bestehen nun die neuen Konflikte einerseits, die neuen Koalitionen andererseits? Inwiefern handelt es sich dabei um eine paradigmatische Auseinandersetzung innerhalb der Ökonomik? Und für welche Interessen treten die jeweiligen Gruppen ein? Im Folgenden möchte ich eine Auslegeordnung skizzieren, die vor allem darüber Klarheit verschaffen soll, welche Position hierbei nicht vertreten bzw. gar nicht erst, jedenfalls nicht systematisch, ins Auge gefasst wird – nämlich die der Entlastung von Wettbewerbs-, Wachstums- und Kapitalverwertungszwängen. (Vgl. hierzu die dritte Position in dieser Projektskizze.) Hier zunächst die Auslegeordnung, die sodann erläutert wird:

  1. Innerhalb der Neoklassik findet eine Spaltung statt zwischen den Marktlibertären (Austrians) und Ordoliberalen einerseits (die Unterzeichner des Sinn-Aufrufs, nennen wir sie Sinnianer), dem Rest andererseits.
  2. Keynesianer (vielleicht ließe sich von old-style Keynesianism oder von «Bastard-Keynesianismus» sprechen) und dieser Rest, die übrigen, sozusagen Mainstream-Neoklassiker finden sich unter dem Dach der Kapitalmarkt- und Wachstumsgläubigkeit zusammen. – Möglicherweise ist dies teilweise auch eine Allianz zwischen Keynesianern und Interessenvertretern des Kapitals.
  3. Da der Sinn-Aufruf auch Momente eines Kapitalabbaus enthält und die Rentiers in die Pflicht nimmt («die Kapitalmärkte» sollen nicht wieder «jubeln»), findet er auch Zustimmung bei ökonomismuskritischen Stimmen wie etwa den Unterzeichnern Arne Heise (Mitglied des wiss. Beirats von Attac und übrigens auch ein Unterzeichner unseres Memorandums) und Max Otte (ebenfalls beim Memorandum dabei; Otte findet etwa, dass «die Politik der Finanzoligarchie hinterherläuft») oder Sahra Wagenknecht. «Linke und eher Liberal-Konservative finden eine gemeinsame Formel im Kampf gegen Bankenmacht», so formuliert der Blogger Wirtschaftswurm.

[Im Folgenden geht es nicht um den eher technischen Streit darüber, worin die Gipfelbeschlüsse für eine «Bankenunion» tatsächlich bestehen (vgl. auch Rudolf Hickel), sondern allein darum, worin solche Beschlüsse bestehen sollten.]

Profit & Loss

Die allermeisten der Sinnianer sind beinharte Verfechter des Marktprinzips (über dessen innerlich konsequente Auslegung allein ein innerökonomischer Streit zugelassen ist, so bekanntlich meine These). Darunter viele Anhänger der ökonomistisch unüberbietbaren transzendentalen bzw. «konstitutionellen» Ökonomik James M. Buchanans (etwa Stefan Voigt), viele Sozialstaatsverächter (Norbert Berthold) und Befürworter des Kapitaldeckungsverfahrens (Dieter Cassel, Stefan Homburg, Bernd Raffelhüschen), Mitglieder der Mont Pelerin Society (Charles B. Blankart, der etwa der Ansicht ist, dass Kritiker eines zwischenstaatlichen Bankgeheimnis für «fiskalischen Imperialismus» votieren). Viele publizieren regelmäßig im Jahrbuch «ORDO», dem Zentralorgan des «Ordoliberalismus», das um die Heiligsprechung des Markt- bzw. Wettbewerbsprinzips kreist. Ich fand einige «Botschafter der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft» (Juergen B. Donges, Bernd Raffelhüschen). Dabei ist auch Friedrich Breyer, der «die Ökonomen» bekanntlich (und m.E. zutreffend) als die «konsequentesten Fürsprecher des Marktes» (bzw. des Marktprinzips) sieht. Man findet Ökonomen, die man wohl als Marktextremisten bezeichnen könnten, wie etwa Peter Oberender, der den Verkauf innerer Organe Hartz-IV Empfängern anempfiehlt, um ihr Los zu verbessern, oder Wettbewerbsextremisten wie Dieter Schmidtchen, der etwa findet, dass es unter Wettbewerbsbedingungen keine «Ausbeutung» geben könne (vgl. zur Position Schmidtchens hier, S. 135 ff., 308, 371, 388 f., 398).

Sie alle eint der antietatistische Gedanke des No-Bailout bzw. letztlich das marktapologetische Kernargument, das der Übervater aller Marktlibertären, Ludwig von Mises, auf die Formel «profit and loss» gebracht hat (deutsch hier): Der stets wettbewerbliche Markt ist eben durch Gewinne, aber auch durch Verluste geprägt. Wer die «Prüfung» des wettbewerlichen Marktes nicht besteht, «erleidet Verluste», wird «ausgeschaltet» bzw. unterliegt der «Auslese des Marktes». Dies darf nicht verhindert werden, weil dies einem Rückfall in die «Privilegienwirtschaft des vorliberalen Zeitalters» entspräche. (Hier wird also digital gedacht: Als gäbe es nur den «freien» Markt oder gar keinen Markt – vielleicht «Sozialismus»?)

Wer also im Marktwettbewerb verliert, dem darf nicht geholfen werden. Dies kennen wir etwa aus den jüngeren Diskussionen um Staatshilfen für Opel oder Schlecker (für wen genau, ist dabei natürlich stets zu fragen). Dies gilt aber nicht nur für Arbeitslose, sondern auch für Banken bzw. allgemein: fürs Kapital. Dieser Grundsatz gilt aus dieser Sicht unbedingt und rigoros.

Auch «Banken müssen scheitern dürfen», schreiben die Sinnianer. Schließlich seien es ja die «eigenen Investitionsentscheidung» gewesen, die den Gläubigern und Eigentümern der nun faktisch insolventen Banken (etwa Spaniens) einerseits Chancen auf Gewinne verschafft hätten, was aber andererseits das «Risiko des Bankkonkurses» einschließen muss. Für «Fehler» sollten diese «selbst einstehen», und für die «Verluste der Bank» haben «die Eigentümer» zu «haften», nicht andere, nicht Unbeteiligte.

Dieses Argument taugt zwar nicht prinzipiell (es liefe auf Marktrigorismus hinaus, etwa auf die Abschaffung aller Sozialpolitik); allerdings hat es im vorliegenden Fall eine denkbar hohe ethische Plausibilität. Dies zum einen, weil es sich hierbei um «arbeitslose» (Max Weber) Renteneinkommen handelt, deren Erträge nicht etwa «wie der Strom aus der Steckdose» fließen (Christoph Deutschmann), sondern von anderen, von Beschäftigten nämlich, erarbeitet werden müssen. (Damit sei Kapitaleinkommen nicht etwa generell die Legitimität abgesprochen, sondern – allerdings – deren Nachrangigkeit behauptet. Natürlich mögen sich hinter den Bank-Passiva, um die es hier geht, auch die einen oder anderen, hart erarbeiteten «Spargroschen» befinden; dies vor allem durch die Verbreitung des Kapitaldeckungsverfahrens. Im besonderen Maße nachrangig sind allerdings reine Kapitalgewinne, die sich, ohne jedes eigenen Zutun, also noch nicht einmal durch Kauf oder Verkauf, sondern einfach durch Warten, durch «spekulative» Wertpapierkäufe und -verkäufe anderer Marktteilnehmer nämlich, ergeben haben und die man eingecasht haben mag, um sich vielleicht bei einer spanischen Bank einzukaufen.) Die Plausibilität der «Haftung» der Rentiers ergibt sich zum anderen und vor allem daraus, dass der größte Batzen der nun fraglich gewordenen Kapitalbestände den «super rich» zuzuordnen sein dürfte, wofür im Sinn-Aufruf exemplarisch der Hinweis auf die Bestände «der Wall Street, der City of London – auch einiger Investoren in Deutschland – und einer Reihe maroder in- und ausländischer Banken» steht. Dass die britischen und amerikanischen Investoren ihre Engagements aus den Südländern bereits abgezogen haben, wie dieser Quelle zu entnehmen ist, ändert nichts an dem Zusammenhang, der darin besteht, dass die Haftungszusagen, die geschaffen wurden und weiter ausgebaut werden sollen (was auch der Sachverständigenrat (S. 8) eingesteht), «zu Lasten der Bürger anderer Länder» geht, «die mit all dem wenig zu tun haben». – Man sieht, der Sinn-Aufruf ist nicht zwingend dem Marktlibertarismus zuzuordnen, sondern geht auch mit elementaren Gerechtigkeitsüberlegungen konform.

Hans-Werner Sinns widerwilliger Paradigmenwechsel: Von der «Hofierung» zur Bändigung des Kapitals

Unter der Überschrift «Vom Saulus zum Paulus» in irgendeinem Blog stieß ich auf einen Vortrag Hans-Werner Sinns, den dieser ein paar Tage vor der Veröffentlichung des Aufrufs hielt. Er zeigt gut die Dramatik, die Sinn empfunden haben muss, als ihm die Größenordnungen bewusst wurden, die hier auf dem Spiel stehen. Ab Minute 17:52 legt er eine Grafik auf, die zeigt, dass die «GIIPS-Länder» zusammengenommen Schuldenbestände von € 12 Billionen aufgetürmt haben. [Oder sich haben aufschwatzen lassen? – Jedenfalls entspricht dies in etwa dem 5-fachen des BIP Deutschlands.] «Das ist das Problem», fährt Sinn fort. «Wie soll ich jemals durch eine Schuldensozialisierung [gemeint ist: die Steuerzahler «Kerneuropas» zahlen oder bürgen jedenfalls] diese Summen in den Griff kriegen.» 10-15% Abschreibungen auf diese Bestände seien vorstellbar. Doch seien dies «Größenordnungen, die es unmöglich machen, das Problem durch Übertragung der Abschreibungsverluste auf die toxischen Papiere im Süden auf die Steuerzahler Kerneuropas zu lösen.» Und dann kommt das obige Gerechtigkeitsargument: «Gerade weil die Volumina riesig sind, können Abschreibungsverluste [die daraus entstehen, dass die Schuldner in den «Südländern» zu geringe Einkommen erzielen, um die Schulden zu bedienen] auf die Bankschulden nur von den Inhabern der Forderungstitel selber getragen werden.» Denn dies ist «nur erträglich für eine einzige Gruppe: die Eigentümer dieser Forderungstitel selber. Und erstmal müssen natürlich die Eigentümer der Banken ihr Eigenkapital verlieren.» Später nochmals: «Es gibt nur eine Gruppe, die diese Lasten tragen kann: die, die investiert haben. Wer investiert hat, muss auch für das Risiko des Verlustes einstehen.»

Tatsächlich scheint Sinn für einen Abbau von Vermögensbeständen zu votieren. «Es gibt nur einen Weg, wir müssen debt-equity swaps machen.» Hier erläutert Sinn, was er darunter versteht: den «Umtausch von Fremdkapital in Eigenkapital». Die Eigenkapitalseite ist klar: «Die Eigentümer der Banken Südeuropas müssen akzeptieren, dass sie ihr Eigentum an den Bankaktien verlieren.» Sie haben es ja praktisch verloren. Nur soll dies von der Politik nachvollzogen und nicht durch Bail-Outs verhindert werden. Die Politik soll «hart bleiben und jene in die Haftung nehmen, die ihr Geld bei den Banken angelegt haben — auch wenn dazu deutsche Institute gehören.» Sodann sollen die Eigentümer «ihre Anteile im Umfang der Verluste an ihre Gläubiger [also die Fremdkapitalgeber, wer immer dies sei, offenbar andere Banken] übertragen, um diese für den Verzicht auf einen Teil ihrer Ansprüche zu kompensieren». Letztere (gemeinsam mit den Eigentümern) haben auf Ansprüche zu verzichten, weil die Schuldner (die Kreditnehmer, letztlich die Beschäftigten – also etwa Griechen, Spanier usw.) darin überfordert sind, die gigantisch angewachsen Kapitalbestände zu bedienen, die der «gewaltigen Kreditblase» entspricht. Darum sind die «Abschreibungsverluste» (auf die vielen Billionen, die da in den Büchern stehen) «absehbar», was Sinn allerdings soweit ersichtlich nicht näher ausführt. – Ein debt-for-equity swap entspricht einem Schuldenschnitt, den etwa amerikanische Gerichte anwenden, um ein Unternehmen (oder eine Bank) trotz Überschuldung noch irgendwie zu retten. Hierbei werden Schuldenbestände «erlassen im Austausch für Eigenkapital oder Garantien». (Dies wäre eine Alternative gewesen zu den überall installierten, Milliarden messenden Bail-Outs. «The major players in the financial sector do not like it. It is much more appealing for the financial industry to be bailed out at taxpayers’ expense than to bear their share of pain.») Eine solche «Fremdkapitalumwandlung» läuft auf eine Bilanzverkürzung hinaus, also auf die Verringerung von Kapitalbeständen, nicht, wie eine «Rekapitalisierung», für die sonst überall votiert wird, auf die Erhaltung der Kapitalbestände bzw. der Bilanzsumme, indem nämlich der haftende Steuerzahler oder die «Bazooka» der Gelddruckmaschine EZB, die den Banken (dem Kapital) gigantische windfall profits beschert, in die Bresche springt. – Es trifft also nicht zu, dass, wie seine Kontrahenten monieren, Sinn keinen «konstruktiven Lösungsvorschlag» unterbreitete (dito Storbeck). Nur haben sie ihn offenbar nicht wahrgenommen.

Sinn hat Recht. Dies liefe, wie er im besagten Vortrag festhält, auf eine «Paradigmenwechsel» hinaus, «auch in den Köpfen und in den Werten» (nicht nur in den Taten, meint er offenbar). Und auch in seinem Kopf offenbar. Denn zuvor hatte Sinn ja für die «Hofierung des Unternehmerkapitals» votiert. (Warum «Unternehmerkapital»? Vgl. hier.) Dies war nicht etwa nur seine singuläre Position. Vielmehr hatte er damit lediglich die – häufig als «neoliberal» klassierte – Politik beschrieben, die, nicht nur in Deutschland, in den letzte Jahrzenten von praktisch allen politischen Kräften, die das Sagen haben oder hatten, betrieben wurde. Und «die Ökonomen» als die «konsequentesten Fürsprecher des Marktes» bzw. der Marktmächte haben sie darin beraten – andere Experten fürs Wirtschaften standen ja nicht zur Verfügung. Allerdings war Sinn in Sachen Hofierung des Kapitals noch ein wenig radikaler als der politische Mainstream. Sinn wollte die Reformagende 2010 noch überbieten, indem er für eine «weitere Stärkung der Lohnzuschüsse», also für Lohnaufstockungen (bzw. Kapitalsubventionen) plädierte, die sozialpolitisch notwendig würden, wenn das eintritt, was eintrat, aber nach Sinn noch viel mehr hätte eintreten sollte, nämlich ein vollkommen "freier" (Arbeits-)Markt, der zu einer «Spreizung der Einkommensverteilung» führt und führen soll.

Abgesehen von dieser marktlibertären Prinzipienreitere, der Sinn unterlag (und nun nicht mehr unterliegt?), ärgerte ihn, dass große Teile des innerhalb Deutschlands hübsch angesparten Kapitals (ab einem Millioneneinkommen fällt «sparen» ja so leicht) nicht im Lande, sondern irgendwo sonst in der Welt investiert wurde – auch und zu guten Teilen in denjenigen Staaten, die heute unter dem Titel GIIPS zusammengefasst werden. Von den rund € 1,6 Billionen, die zwischen 2002 und 2010 in Deutschland angespart wurden (also für Konsumzwecke nicht mehr benötigt wurden), verblieb nur eine halbe Billion im eigenen Lande. «Der Rest, 1 072 Mrd. Euro oder 66%, floss als Kapitalexport ins Ausland.» Sinn glaubte offenbar, dass noch tiefere Löhne, als diejenigen, die sich ohnehin einstellten (vgl. die Grafik 14849 von Jahnke), «dem Kapital und den Talenten neue Gewinnmöglichkeiten in den arbeitsintensiven Binnensektoren» geboten und hierzulande einen Wachstumsboom ausgelöst hätten. Und von wem hätten all die erzeugten Güter konsumiert werden sollen? Jedenfalls nach Sinn nicht von ausländischen Konsumenten. Denn den Exportboom schätzt Sinn ja als «pathologisch» ein. Offenbar musste Sinn annehmen, dass diejenigen, die in der Industrie zunächst für Hungerlöhne arbeiten sollen, sehr rasch riesige Lohnerhöhungen erzielen werden können, oder aber, dass diejenigen, die die noch höheren «Gewinnmöglichkeiten» einstreichen, all das Zeugs selbst konsumieren, was bedeutet, dass Wertschöpfungsketten durch Luxuskonsum geschlossen werden. Das ist das Modell «Plutonomy», für das Sinn bereits an anderer Stelle votierte. («Die Reichen können mehr kaufen, die Armen weniger.»)

Was Sinn nicht versteht (oder verstand?), ist, dass bereits die €1,6 Billionen zu guten Teilen einer Blase entsprechen. Vielleicht ist es auch viel mehr. Werner Vontobel jedenfalls berichtet, dass die Vermögen der deutschen Privatpersonen seit 2001 um € 6.1 Billionen angestiegen sind, 25% davon reklamieren das deutsche One Percent für sich. Sinn kommt (oder kam?) nicht in den Sinn, dass es sich um eine Blase handeln könnte, weil er, wie der gesamte Mainstream (Keynesianer eingeschlossen), den Wettbewerb als Prozess «schöpferischer Zerstörung» nicht versteht (S. 11) bzw. dessen Problematik normativ nicht angemessen fasst, und damit auch nicht die Rolle des Kapitals, die dieses im Wettbewerb spielt.

Das Kapital fand in Deutschland offenbar keine lukrative Anlage mehr. Dies dürfte vor allem daran liegen, dass wir, jedenfalls hierzulande, an den ökonomischen Grenzen des Wachstums angelangt sind. Dadurch aber werden zugleich wachsende Teile der Einkommen, die zumindest einige nicht mehr benötigen (Was braucht man denn noch?), nicht mehr konsumiert und damit dem laufenden Wirtschaftskreislauf entzogen. Wohin aber sonst mit dem Zaster? Natürlich investiert man ihn – und erzeugt damit, trotz Wachstumsende, weiteren Wachstumsdruck. Wachstum ist aber hierzulande kaum mehr erreichbar. Darum wurde diese Blase ins Ausland verschoben, unter anderem in die «Südländer». Dies vor allem nach der Euro-Einführung, da mit dieser das Kapital von einem gesunkenen «Abwertungsrisiko» ausging, was, wie sich spätestens heute herausstellt, bloß einem Herdenverhalten entsprach. 

Dieser Mittel wurden sodann dort ausgegeben – und d.h. im Kern stets: zunächst konsumiert –, was zu einem kräftigen Boom in den Südländern führte. Diese Mittel sind aber nicht Konsummittel, sondern stellen Investitionen dar. D.h., die Anleger wollen einen Return on Investment sehen. Diesen konnten die Beschäftigten der Südländer (wie zuvor die deutschen Beschäftigten) aber nicht liefern, zumal sie von vergleichsweise billigen Waren aus Deutschland bombardiert wurden, die sie letztlich zu guten Teilen auf Pump kauften. Seit 2002 haben sich so mehr als 1.200 Milliarden Euro angehäuft, die das Ausland Deutschland – bzw. seinen Rentiers – schuldet, aber offenbar nicht zu erwirtschaften vermag.

Und nun sollen diese Schulden nicht etwa abgebaut werden; ein «(teilweiser) Schuldenerlass», den auch Vontobel fordert, steht nirgends auf der politischen Agenda, jedenfalls bislang nicht. Vielmehr sollen diejenigen dafür in Haftung genommen werden, die sich zuvor in «Lohnzurückhaltung» haben üben müssen, nämlich die «Normalbürger», die die Zeche in Form höherer Steuerlasten (die das Kapital immer weniger treffen, vgl. hier S. 18), korrespondierenden Wachstumspflichten (aus denen die zusätzlichen Steuermittel fließen sollen), geringeren öffentlichen Leistungen und gekappten Sozialleistungen («Sparen») zu zahlen haben. Die vormals vollzogene Umverteilung zugunsten der «Geldelite» würde so weiter vertieft. «Dass jetzt die Verluste aus den faulen Auslandsguthaben auf die Steuerzahler abgewälzt werden sollen, ist die Krönung dieser Umverteilung», stellt Vontobel treffend fest.

Kein Nationalismus, sondern Gewinnerethik

Votiert gegen diese Umverteilung auch Sinn? Ihm wird Nationalismus vorgeworfen. Denn er bringt die «soliden Länder» – gemeint ist vor allem Deutschland – gegen die folglich «unsoliden» Länder des Südens, die «Schuldenländer» in Stellung. Diese sind offenbar «schuld». Und sie bedienen sich «sämtlicher Töpfe». «Wir» (sic) werden «bewogen, das Portemonnaie zu zücken, und wenn das Portemonnaie erst einmal auf dem Tisch liegt, werden wir bedrängt, auf die politischen Schranken zu verzichten.» Die «politischen Schranken», das sind die Grenzen für Bail-Outs sowie die «Strukturreformen», das sind die neoliberalen «Rosskuren», denen sich, so Sinn an anderer Stelle, auch die «Südländer» (ebenso wie die deutschen Beschäftigten mit der Agenda 2010) zu unterwerfen hätten. Denn «die Südländer», so springen Urs Birchler und Monika Bütler Sinn zur Seite, «werden die "Versprechen" nicht einhalten, nämlich das Versprechen, durch Strukturreformen zu wachsen und daraus das Kapital zu bedienen.» (Auch die Volkswirte auf Economics Job Market Rumors – vgl. zum dort vorherrschen Geist hier –, die mehrheitlich für die Sinnianer Partei ergreifen und die Gegenpositionen für «schändlich» halten, schlagen in die gleiche Kerbe, etwa durch den Hinweis: »The Meds have their party.») Da ist nicht ein Hauch des Verständnisses für die Nöte der Normalbürger in den Südländern, genauso wenig übrigens für die diejenigen Bewohner der Nordländern, deren Durchschnittseinkommen nach unten gedrückt wurde.

Dies alles ist allerdings weniger Ausdruck von Nationalismus denn eine Parteiergreifung für die Gewinner, mit denen man sich offenbar identifiziert. (Über den eigenartigen Umstand, dass viele Leute, etwa die Tea-Partysten, nicht «Mitleid mit den Armen», sondern «Mitleid mit den Reichen» empfinden, wundert sich auch J. Bradford DeLong – und gibt eine Antwort mit Adam Smith, der diese Verkehrung verkehrt findet.) Haben die Sinnianer denn nicht verstanden, für wen die «soliden … Steuerzahler, Rentner und Sparer» unter dem bislang anvisierten Austeritäts- und Haftungsregime «in Haftung genommen werden» sollen? Die deutschen Steuerzahler sollen ja nicht etwa für die "faulen Griechen" (die, pars pro toto, zwischen den Zeilen der Sinnianer lauern) haften bzw. irgendwann zahlen, sondern letztlich, wiewohl der Schuldendienst der Griechen usw. natürlich geringer ausfiele (selbst Josef Ackermann will weitere Schuldenschnitte), zahlen sie an die «Geldelite», an die Gewinner. (Auch Max Otte hebt hervor, dass die «sogenannten Hilfspakete für Griechenland ja nicht den Griechen helfen»; vielmehr fließe «das Geld direkt an die Gläubiger».) Die deutschen Durchschnittsverdiener haften also für diejenigen, die die Überschüsse, die sie, übrigens unter dem Applaus der Sinnianer, ihnen zuvor nahmen und die sie sodann in den Süden transferierten, wo sie allerdings nicht den erwarteten Return on Investment abwarfen. Welch ein absurdes Spiel.

Wir haben es hier nicht, jedenfalls nicht in der Hauptsache, mit einem Konflikt zwischen mehr oder minder «soliden» Ländern zu tun, sondern mit einem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit (abhängig oder selbstständig Beschäftigte), zwischen Finanzsystem und Realwirtschaft, einerlei, welcher Nationalität diese oder jene Akteure angehören. Dieser Konflikt ist schon lange grenzüberschreitend. Es ist «das Ungleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital, das die Krise überhaupt erst ausgelöst hat», hält Vontobel treffend (und muss man noch sagen: mutig?) fest. Und darum ist «Deutschland nicht "Geisel des Südens", sondern Geisel der Reichen und ihrer Banken.» Dies sieht ja Sinn andererseits auch so, indem er für einen Schuldenschnitt votiert, der letztlich eben diesen (zu guten Teilen deutschen) «Geldadel» trifft, den er bislang «hofieren» wollte. Doch hat er diesen «Paradigmenwechsel» offenbar noch nicht genügend verarbeitet. (Übrigens, auch Bofinger überwindet den Nationalismus nicht, wenn er Sinn vorwirft, dieser übersehe, dass seine Vorschläge «deutsche Sparer» treffen würden. Sie würden, richtig durchgeführt, den «Geldadel» treffen, säße dieser nun in Deutschland, Spanien, Griechenland oder Japan. Warum differenziert Bofinger nicht zwischen «den Deutschen»? Dazu sogleich mehr.)

Und so hat Sinn diesen Paradigmenwechsel weg vom neoliberalen Austeritätsparadigma hin zum Entschuldungsparadigma, weg von der «Hofierung», hin zur Bändigung des Kapitals, «im Denken» ja auch darum kaum vollzogen, weil er ja nach wie vor am Neoliberalismus normativ festhält. So beklagt er gemeinsam mit dem Mitinitianten Walter Krämer etwa den Verzicht auf die «Konditionalität bei den Hilfskrediten»; und auch der suggestiv als "gierig", aber leistungsfrei dargestellte Griff in "unsere" Portemonnaies spricht ja diese Sprache. Es ist eben schlicht das Faktum der offenkundigen Nichterfüllbarkeit des Schuldendienstes (der Beschäftigten der Südländer), der ihn zum Befürworter eines Schuldenschnitts werden lässt (in Verbindung mit dem marktlibertären «Profit and loss»-Argument). Ein Recht der Schuldner (der Beschäftigten) auf Mäßigung des Wettbewerbsdrucks kommt in seiner Gedankewelt nicht vor. Dazu ist er gedanklich zu sehr in der ökonomistischen Ökonomik sozialisiert worden.

(Mit diesem Recht, das selbstverständlich im Einzelnen zu klären ist, ist die zweite wettbewerbsethische Grundfrage angesprochen: «Inwieweit dürfen die im besonderen Maße Wettbewerbsfähigen und -willigen, im Verein mit dem Kapital, die weniger Wettbewerbsfähigen und -willigen zum Lebensunternehmertum nötigen?» Allerdings manifestiert sich der Kapitaldruck in der hier zur Debatte stehenden «Eurokrise» nicht, jedenfalls nicht nur, in der elemantar-ökonomischen Weise, also etwa so, dass das deutsche Sparkapital die besonders wettbewerbswilligen deutschen Beschäftigten bzw. Unternehmen fit gemacht hätte, um die GIIPS-Beschäftigten zu verdrängen. Denn es passierte ja praktisch das Gegenteil: das deutsche Kapital floss aus Deutschland ab und wanderte in den Süden. Die deutschen Unternehmen konnten also auch ohne weitere Kapitalspritzen die Beschäftigten in den Südländern unter Druck setzen, dem diese offenbar nicht standhielten. Man kann dies auch so forumlieren: Es investierte nicht nur das Kapital, sondern es «investierten» auch die deutschen Beschäftigten, dadurch nämlich, dass sie Niedriglöhne akzeptierten; allerdings floß der Return on Investment mehr als vollständig ans Kapital; die Lohnquote sank in den letzten 20 Jahren von 67 auf 62 Prozent. Der Kapitaldruck auf die Südländern ergab sich also nicht nur über die «unsichtbaren» Kanäle des Wettbewerbs, sondern auch unmittelbar verschuldungsrechtlich. Die Volkswirtschaften der Südländer wurden vor und während dieses Prozesses sozusagen mit (überflüssigem) Kapital förmlich zugeschüttet und mussten später feststellen, dass sie, da entsprechend gigantische Wachstumsraten nicht drinnen lagen, in eine Art Schuldknechtschaft gelandet waren, die sich am Ende, nach Ausbruch der Krise, unter anderem darin manifestiert, dass benötigte Zahlungen nur noch gegen untragbar hohe Zinsen zu ergattern sind und sodann eine Abwärtspirale einsetzt, weil die Konsumausgabenausfälle der einen zu Einkommensausfällen der anderen führt. Die Austeritätsprogramme verschärfen diese «Todesspirale».)

Die Sinn-Kontrahenten: Hoffen auf das Herdenverhalten – in die Gegenrichtung

Als Zwischenstand lässt sich festhalten, dass Sinn das Austeritätsparadigma zwar nicht normativ, aber faktisch aufgibt, und zwar, zumindest der Stoßrichtung nach, zugunsten eines Schuldenschnitts und des Abbaus von Kapitalbeständen. Die Gegenseite – eine Koalition von Keynesianern und dem «Rest» des neoklassischen Mainstreams – leugnet, dass wir es mit einer gigantischen Blase zu tun haben, dass also Vermögensbestände abzuschreiben sind. Das Problem seien «unterkapitalisierte Banken» – und nicht etwa eine überkapitalisierte bzw. eine überschuldete Wirtschaft.

Die Reaktionen fielen so heftig aus, weil alles getan werden muss, um das «Vertrauen der Märkte» (spricht: des Kapitals) wieder herzustellen – und zwar das «Vertrauen» darin, dass die Realwirtschaften dem Kapital seine erwarteten Renditen schon verschaffen werden. Der Sinn-Aufruf halte «die Politik» davon ab, «in schwierigen Entscheidungssituationen Kurs zu halten», und er gebe «der Öffentlichkeit» nicht die gewünschte «Orientierung» – die nötig ist, um die Politik auf diesem Kurs zu halten, meinte die Koalition aus den Ökonomen Bofinger, Horn, Hüther, Marin, Rürup, Schneider und Straubhaar.

Vor allem wohl sehen die Kontrahenten im Sinn-Aufruf ein fatales Signal an «die Märkte». Denn nachdem man sich vom Kapital abhängig gemacht hat, darf man ja noch nicht einmal mehr offen diskutieren, was auf ein schleichendes Ende der Demokratie hinausläuft. Selbst Sven Giegold meint gegenüber den laufenden Verfassungsbeschwerden, bei denen es ja im Kern um die gleiche Sache geht (nämlich eine Abkehr davon, das Kapital seinen Wünschen gemäß zu bedienen; denn mit den «Rettungsschirmen» (die das Kapital «retten» sollen), übernimmt Deutschland Haftungen in einem Umfang, durch den «das Haushaltsrecht des Bundestages faktisch entleert» würde): «Wenn sich das [eine solche Verfassungsbeschwerde] jedes Land herausnehmen würde, wäre Europa handlungsunfähig.» – Die Richtung der «Handlungsfähigkeit» ist dabei vorbestimmt: Schafft dem Kapital das «Vertrauen», das es verlangt. Bürgt, was das Zeug hält.

So votiert Horn für eine «demokratisch kontrollierte Gesamthaftung». «Demokratisch» ist daran wohl nur, dass alle Euro-Staaten gemeinsam diese Haftung aussprechen sollen. Und in der «Kontrolle» dürfte sich das Zugeständnis des Keynesianers an die Austeritätspolitik aussprechen – die aber nach Ansicht von Horn wohl gar nicht vollzogen werden muss, wenn denn «gesamthaft» für alle Vermögensbestände der Eurozone gebürgt würde. Diese «Gesamthaftung» würde nämlich «den Euroraum stabilisieren». «Stabilisierung» heißt dann etwa, dass «private Anleger aus aller Herren Länder völlig freiwillig bereit sein [werden], eher in Anleihen spanischer und italienischer Banken und denen der jeweiligen Staaten zu investieren». Sie wären dazu bereit, wenn «der deutsche Steuerzahler lediglich Bürgschaften übernimmt» [die nach Horn offenbar niemals durch tatsächliche Zahlungen erfüllt werden müssen]. Damit würde die «Überwindung der Krise» eingeleitet.

Als Vorbild dienen die USA. So wundert sich der Sachverständigenrat (der die Gegenseite zum Sinn-Aufruf markiert) in seinem aktuellen Sondergutachten darüber, dass es «trotz kaum ausgeprägter Konsolidierungsbemühungen den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich und Japan derzeit möglich ist, sich zu historisch niedrigen Zinsen auf den Kapitalmärkten zu refinanzieren». Warum aber, fragt der Sachverständigenrat, haben «die Märkte [sprich: das Kapital] die bisherigen Sparprogramme der Problemländer», die sich wegen der «mutigen Schritte zur Konsolidierung der öffentlichen Finanzen» doch «auf dem richtigen Weg» befänden, «in keiner Weise honoriert»? Die Antwort finden die Ökonomen in der Besonderheit der Eurozone, die sich wohl als Nicht-Kongruenz von Fiskal- und Geld- und Währungspolitik fassen lässt: Die «Verschuldung» der «Problemländer» lautet «gesamthaft auf einer Währung, die sie nicht selbst schaffen können». Das Kalkül der Käufer von Staatsanleihen geht offenbar dahin, in einer Krise lieber den Nominalwert ihrer Forderungen reduziert zu sehen – durch eine Geldmengenausweitung nämlich –, als dem Risiko ausgesetzt zu sein, ganz leer auszugehen, jedenfalls viel größere Verluste hinnehmen zu müssen. Die Unfähigkeit, das Geld, in dessen Währung man sich verschuldet hat, selbst zu drucken, führe dann zu einem «Teufelskreis», indem die Investoren das besagte «Vertrauen» verlieren, folglich «höhere Renditeforderungen» stellen, was die Fähigkeit eines Landes zur Bedienung der Forderungen weiter unterminiere, was weitere «negative Vertrauenseffekte» zur Folge habe. In der Folge gerieten auch die Banken in die Krise (vgl. Schaubild 1).

Solch ein Herdenverhalten wie in die Staatsanleihen der USA (oder auch in den als sicher eingestuften Hafen Deutschland – hier verzichten die global tätigen Anleger ja auf jede Rendite, was ihren Anlagenotstand deutlich machen sollte) hätten die Ökonomen auch gerne für Europa bzw. vor allem für die unter Zinslasten leidenden Südländer. Es wäre sozusagen die Umkehr des derzeitigen Herdenverhaltens mit Blick auf Südeuropa: weg von der Bärenrichtung, hin zur Bullenrichtung.

Voraussetzung hierfür, so die Sachverständigen weiter, sind verschiedene Formen der «gemeinschaftlichen Haftung» (ESM, EFSF, Schuldentilgungsfonds), deren «Risiken» für «Deutschland» (für wen in Deutschland?) ausdrücklich betont werden. Dann würde die Investoren wieder «Vertrauen» fassen, zu günstigen Konditionen ihr Kapital zur Verfügung stellen, das investiert würde, woraus sich natürlich automatisch das (angeblich) gewünschte «Wachstum» ergäbe. Und alles wird gut. Keinesfalls darf es einen «Schuldenschnitt» geben, weil dies «weitreichende Folgen für die Finanzinstitute des Euro-Raums hätte». (Vielleicht soll es diese «weitreichenden Folgen» ja geben?) Denn das Kapital ist eine kostbare Frucht, die nicht zerstört werden darf; es schafft ja Wachstum, wenn es nur «vertrauen» darf. – Zwei Einschübe, bevor ich zur Pointe (sollte diese noch nicht klar sein) komme:

1. Hieraus mag sich erklären, dass dieser Koalition aus Keynesianern und neoklassischen Mainstream-Ökonomen (und ihren Verteidigern) Komplizenschaft mit dem (Groß-)Kapital nachgesagt wird: «Ich hoffe, Ihre Lobbyarbeit rentiert sich», schreibt ein Kommentator an Olaf Storbeck, der den Sinnianern «Tsipras-Niveau» vorwirft (was immer dies bedeutet). Auch Rüdiger Bachmann hat den «Eindruck, dass sich unsere Politiker [die ja von den Sinnianer kritisiert werden] von den Inhabern der Geldvermögen und von den Bank-Schuldnern haben "kaufen" lassen». Der Blogger Wirtschaftswurm stellt fest, dass sich «der einstmals linke Keynesianismus zum Gehilfen von Bankinteressen degradiert» habe.

2. Für Verwirrung hat die zweite Gegenreaktion geführt (die sich offenbar als eine Ergänzung und Klarstellung zur ersten Gegenreaktion versteht). Diese hebt ebenfalls (wie im Sinn-Aufruf) hervor, dass es eine «Vergemeinschaftung der Haftung für Bankschulden» nicht geben dürfe und die «Gläubiger maroder Banken für ihre riskanten Einsätze haften» sollten. Im gleichen Atemzug ist jedoch von der Notwendigkeit einer «finanziellen Absicherung» der Banken und einer «verstärkten Einlagesicherung» die Rede, die etwa vom ESM übernommen werden könne. Dass letzteres gerade einer Haftung Unbeteiligter (nämlich der Steuerzahler) und damit einer «Vergemeinschaftung der Haftung» entspricht, auf diesen Widerspruch weist etwa der Kommentator Canabbaia oder auch der Blogger Wirtschaftsphilosoph hin. Des Rätsels Lösung dürfte darin bestehen, dass nach Ansicht der Initiatoren (u.a. Michael C. Burda, Frank Heinemann, Martin Hellwig, Dennis Snower, Beatrice Weder di Mauro) und der mehr als 150 Unterzeichner (davon viele Doppelungen zum Sinn-Aufruf) diese Haftungen bloß auf dem Papier stehen blieben, wenn das Herdenverhalten in die gewünschte Richtung einsetzt. Vielleicht sollten dadurch auch viele Sinnianer ins Boot des Mainstreams geholt werden, indem deren marktlibertärer Drang nach der Einhaltung des No-bail-Out Grundsatzes mit dem Ansinnen, Kapitalbestände nur ja nicht abzubauen, kompatibel gemacht werden sollten – auf dass der Frieden innerhalb der sich selbst monistisch verstehenden Zunft der Ökonomen wieder hergestellt sei und sich weiterhin etwa von «der ökonomischen Sicht» sprechen lässt. Und so sahen viele Kommentatoren auch weitgehende Übereinstimmungen zwischen den Aufrufen. «Journalists and the politicians have blown the alleged disagreement between economists completely out of proportion», findet etwa Rüdiger Bachmann. «Welcher Streit? Die deutschen Ökonomen eint mehr als sie trennt», hält Markus Hessler von der INSM fest. Auch der Kommentator Peter Noack findet, dass «Befürworter oder Kritiker des Ökonomenaufrufes» weitgehend «ohne Unterschied» seien – allerdings aus einem ganz anderen Grund, nämlich weil sie nicht sähen, dass «letztendlich die Realwirtschaft die Renditeversprechen oder Erwartungen der Finanzmärkte bezahlen muss», wozu sie allerdings überfordert sei, weshalb ein «Schuldenschnitt» ins Auge zu fassen wäre, aber von keiner der Gruppen ins Auge gefasst werde. (Allerdings hat Noack offenbar die Hintergrundpapiere von Hans-Werner Sinn nicht studiert.)

Das Kapital im Endspiel

Ob die Hoffnung auf die Herstellung von Verhältnissen, wie sie in den USA herrschen, allerdings berechtigt sind (im rein faktischen Sinne), dies stellt etwa der Hedge-Fund-Manager Felix Zulauf in Frage: «In den letzten Jahrzehnten haben wir alle, im staatlichen und im privaten Bereich, in einem Ausmaß Schulden aufgebaut, dass das System nicht mehr funktionieren kann.» Wuchs das Weltsozialprodukt seit 1980 um den Faktor 6,3, so stieg der Gesamtbestand der nominellen Kapitalbestände (Derivate ausgenommen) um den Faktor 17,7. Die globale Finanzschuld, also der Schuldendienst der realwirtschaftlichen Akteure gegenüber dem Kapital, stieg von 109% des Welt-BIP im Jahre 1980 über 261% im Jahre 1990 auf 356% im Jahre 2010 (Quellen hier). Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Dresdner Bank, Herbert Walter, stellt beunruhigt fest: «In Deutschland sind Schulden und Geldvermögen in den vergangenen gut 60 Jahren sechsmal schneller gewachsen als das Bruttoinlandsprodukt, die Summe aller Güter und Dienstleistungen.» Dieser Zuwachs an nominellen Vermögensbeständen ist ja dann auch die Ursache für die vielen Banken-, Währungs- und Staatsschuldenkrisen, die Walter aufzählt. Sie wurden bislang stets «durch den Einsatz von immer mehr Geld» vorerst beendet, also genau so, wie es die Sinn-Kritiker weiterhin wollen. «Irgendwann führt dieser Effekt zu einem Kollaps eines jeden Finanzsystems. Das mag viele Jahrzehnte dauern, aber das Problem wird immer mächtiger, solange Schulden wachsen und nicht getilgt und Geldvermögen nicht abgebaut werden.» – Allerdings liegt das «Tilgen» offenbar nicht drin. Sonst hätten wir, falls wir uns einmal auf Deutschland beschränken, auch hierzulande ein 6 Mal höheres Wachstum. Wie sollte man sich dies vorstellen? Ist dies irgendwie wünschbar oder leistbar? (Natürlich ist die zynische Alternative die der Abschöpfung, die der Plutonomy, die der One Percent gegen die 99 Percent, jedenfalls der 10 Prozent gegen die 90 Prozent.)

Darum befindet sich das Kapital, dessen Bestände ja durch eine Politik, die die Sinn-Gegner unter gar keinen Umständen aufgeben wollen, immer weiter ausgebaut wurden, in einem Anlagenotstand. Felix Zulauf: «Heute geht es nicht mehr um Rendite. Es geht darum, das Kapital zu erhalten und über die Runden zu bringen.» Darum fließe es derzeit «von der Peripherie ins Zentrum» – von den Südländern etwa nach Deutschland, weil Deutschland noch als sicherer Hafen gilt. «In dieser ganzen Phase der europäischen Unsicherheit werden wahrscheinlich die USA der bevorzugte Zufluchtsort sein» – über das Maß hinaus, in dem sie dies bereits heute sind. Doch werde man, wenn auch «mit etwas Verzögerung», bald «feststellen, dass auch die USA auf Dauer kein geeigneter Zufluchtsort sind.» Und übrigens auch die Schwellenländer nicht (da diesen die internationale Kundschaft abhandenkommen dürfte). «Auf uns [die Anleger] kommt eine völlig neue Welt zu. Es wird eine sehr dirigistische Welt sein. Die Regierungen werden totalitärer werden. [Für die Nicht-Rentiers wird es wohl eine Befreiung sein.] Der freie Kapitalverkehr wird wahrscheinlich zu Ende gehen oder zumindest massiv eingeschränkt werden. Anleger sollten sich daher einige elementare Fragen stellen.» Vielleicht die, ob sie ihr Vermögen "freiwillig" dem Konsum zur Verfügung stellen, als Spende nämlich, wie etwa die Unterzeichner des Giving Pledge.

Natürlich bildet diese marktlibertäre, jedenfalls privatistische Option (von der Zulauf ohnehin nicht spricht) keinen ernstzunehmenden Ausweg. Anders verhält es sich mit dem Vorschlag des DIW für eine Zwangsanleihe für Vermögende, die nur dann zurückgezahlt würde, wenn sich das Wachstum bzw. der «Konsolidierungsfortschritt» irgendwann einstellt. Was immer genau anzuvisieren ist (dies bedürfte natürlich der sorgfältigen Klärung), es muss darum gehen, Kapitalbestände abzubauen und Kapital in Konsum umzuwandeln, also als Kapital zu vernichten. Der ökonomische Mainstream möchte hingegen das Kapital als Kapital weiter hofieren, d.h. die Bestände absichern oder gar noch weiter ausbauen. Soweit ihn nicht marktlibertäre Motive dazu führen (die freilich im Ergebnis auch zu gegenteiligen Positionsbezügen führen mögen, wie die Kehrtwende Sins zeigt), übersieht er, dass die Investitionen, die er anregen möchte, auf dass «der Realwirtschaft gedient» sei, nicht zu einem irgendwie kostenlosen Wachstum führen, sondern den Wettbewerbsdruck erhöhen, dem die realwirtschaftlichen Akteure nicht standhalten. Die Investitionen erscheinen bloß eine Zeitlang als Konsum, als eine Wohltat.

Es ist gut, dass der Keynesianismus wieder erstarkt ist. Nicht nur wegen seiner kreislauftheoretischen Einsichten, sondern auch, weil sein «Mitleid» eher auf Seiten der Verlierer, weniger auf Seiten der Gewinner liegt. In seinem Manifest gegen die Austeritäts-Politik hält Paul Krugman fest, dass die Krise darauf zurückzuführen sei, dass «der Privatsektor seine Ausgaben zurückgeführt hat», und zwar, «um vergangene Schulden zu begleichen». Also müsse der Staat in die Bresche springen, um sicherzustellen, dass wieder «ausgeben» wird. Natürlich ist dies ein Votum für deficit spending. Im weiteren Sinne lassen sich auch die hiesigen Bemühungen hier einordnen, die darauf hinauslaufen, dass das Kapital wieder «Vertrauen» findet – und «ausgibt». Krugman unterscheidet mit keiner Silbe Konsumausgaben von Investitionsausgaben. Als seien dies «Ausgaben» identisch.

Ja, es muss wieder «ausgegeben» werden. Die Leute müssen wieder Geld in der Tasche haben. Und möglicherweise ergäbe sich daraus sogar ein Wachstum. Aber es wäre nur die Ausschöpfung des gegebenen Produktionspotentials, vor allem der bereitliegenden, aber brachliegenden menschlichen Potentiale (man denke an die hohe Jugendarbeitslosigkeit vor allem in Spanien und Griechenland). Der Weg, jedenfalls ein Weg, ist die Besteuerung insbesondere der hohen Vermögen.

Übrigens, wer der Theorie nicht glaubt, dem hilft vielleicht die Empirie. Je größer die Kreditintensität (Kredite bzw. Schulden in Relation zum BIP), umso wahrscheinlicher sind Krisen. – Wer hätte das gedacht. Aber während jahrzehntelanger Kapitalhofierung und Kapitalmarktgläubigkeit ist dies einfach übersehen worden. Adieu Kapitalhofierung. «Stop coddling the super rich