Griechenland im Würgegriff der Eurotechnokraten
Ulrich Thielemann
Kategorie: Kapital, Regulierung, Ökonomismus
Vom uneingestandenen Scheitern des Neoliberalismus im Zeitalter seiner Hegemonie
12. Juni 2015: Griechenland liegt wirtschaftlich am Boden. 61 Prozent der Bevölkerung finden es ungerecht, dass sie einen Kapitaldienst zu leisten haben, der zu leisten untragbar ist und den andere ihnen aufgebürdet haben (dazu sogleich mehr). Tsipras gibt gleichwohl den Forderungen der Eurogruppe nach und nimmt praktisch alle Ansprüche auf Erleichterung zurück, um wenigstens bei den Rückzahlungsfristen eine gewisse Schonung zu erhalten. Doch das reicht der Eurogruppe nicht. Sie will die Kapitulation. Sonst wird der Geldhahn zugedreht (in Form von ELA-Krediten, die seit den Kapitalverkehrskontrollen für die Normalbürger – €60 pro Tag – zurückfahren wurden, was Varoufakis «Terrorismus» nannte): «A rapid decision on a new programme is a condition to allow banks to reopen» (Eurogroup, 12 Juli 2015). [Nachtrag: Das Zudrehen des Geldhahns wird im EZB Rat mit einer 2/3 Mehrheit beschlossen. «Bisher konnte Deutschland die 2/3 nicht auftreiben, dank dem Beitritt von Lettland und Litauen zum Euro nun aber schon.» Dass die neu gewählte Regierung «völlig erpressbar» sei, da «die vier größten Banken am Tropf der EZB hängen», hatte Herdolor Lorenz, Regisseur von «Wer rettet wen?», bereits im Februar messerscharf erkannt (ab Min. 1:20). «Wenn Tsipras zu viel will [an Schuldendiensterleichterung], dann kann man denen einfach mal den Geldhahn absperren.»] Schäuble und seine Ordofreunde setzen den Griechen die Pistole auf die Brust. Hier die Eckpunkte:
- Weiter so und noch viel mehr des Abbaus des Sozialstaates, der vor allem die kleinen Leute trifft: Die Erklärung der Verfassungswidrigkeit der Rentenkürzungen durch das Oberste Verwaltungsgericht muss budgetneutral ausgestaltet werden («fully compensate»). Die Renten bilden das letzte verbleibende Auffangnetz auch für die Jungen.
- Schleifen der Gewerkschaften: »undertake rigorous reviews of collective bargaining, industrial action and collective dismissals in line with the timetable and the approach agreed with the institutions”, was die Löhne weiter nach unten treiben wird.
- Überdies Ausverkauf der verbleibenden Sachwerte in öffentlicher Hand («privatisiation»), am besten, indem sofort «valuable Greek assets» in der Höhe von sagen wir «€ 50 Mrd» abgeführt werden an einen luxemburgischen Fonds, der dann die Privatisierung durchführt, um «die Schulden zu verringern». – Die Idee stammt aus dem Hause Schäuble. Michael Hudson sieht insbesondere im Ausverkauf des öffentlichen Eigentums eine «right-wing extremist policy», weil deren Vertreter ja wissen, dass der Schuldner strukturell überschuldet ist und sie nun zur Zwangsvollstreckung (forclosure) übergehen, wobei die Griechen gezwungen werden, «to privatize to people who are going to charge more to use the roads, charge more for public health, charge for the islands, and drain us.”
- Aufgabe der staatlichen Souveränität, denn alles politische Handeln kostet ja Geld, und es soll so viel wie möglich an die (nun staatlichen) Gläubiger fließen: «The government needs to consult and agree with the institutions on all draft legislation in relevant areas with adequate time before submitting it for public consultation or to Parliament.»
[Nachtrag am Morgen des 13. Juli 2015. So wurde es ja dann auch im Wesentlichen beschlossen. Es kommt hier auch nicht auf die Einigung bzw. das Finanzdiktat im Einzelnen an, sondern auf die Stoßrichtung und die falsche Philosophie dahinter, die Michael Hudson als «finanzielle Kriegführung [financial warfare]» bezeichnet.]
Es sind tatsächlich gewählte europäische Volksvertreter, die dies so formulieren und dabei keine Scham empfinden. Sie werden dabei unterstützt von einer beinahe flächendeckend neoliberale ausgerichteten Medienlandschaft, die mit Blick auf «die Griechen» eher an einen Mob erinnert denn an gesittete und vor allem: zu den gerade Machthabenden distanzierten Berichterstattern. Darauf müssen hierzulande zwei Satiriker, Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf, hinweisen. Ansonsten stellt sich von den Prominenten nur Gesine Schwan auf die Seite der griechischen Bevölkerung.
Repräsentativ dürfte ein Text der SZ sein («Geht’s noch», von Stefan Klein, 11. Juli 2015, S. 3): «Fröhlich konsumiert, kaum produziert, gerne auf Pump gelebt, Geschäfte wie geschmiert, Steuern nicht wirklich ernst genommen, es war eine große Party, doch 2010 war sie zu Ende…» Und nun, nach all den Milliarden messenden «Hilfsprogrammen» durch die europäische Staatengemeinschaft und den IWF «liefern» die Griechen immer noch nicht, sind «reformunwillig», wollen ihre «Hausaufgaben» einfach nicht machen, was bedeutet, dass sie auch noch die «letzte Brücken eingerissen» (Sigmar Gabriel) und das «Vertrauen» (Angela Merkel) verspielt haben. Nur dies habe dazu geführt, dass die Schuldenstände nach den ab 2010 gewährten «Hilfen» weiter nach oben geschnellt sind, und zwar sowohl relativ zum BIP als auch absolut.
Erst durch das «Nachlassen [easing]» der Reformanstrengungen (vor allem durch die neue Regierung), so die Eurogruppe weiter, wurde die Schuldentragfähigkeit Griechenlands fragwürdig («serious concerns regarding the sustainability of Greek debt»). Wobei zu ergänzen wäre: sie ist nicht fragwürdig, sondern nicht gegeben. (Vgl. Michael Hudson mit Blick auf IWF-Einschätzungen aus dem Jahre 2010, vgl. auch jüngst hier und hier: «Athen wird seine Schulden nie abzahlen können oder nur nach "bedeutsam verlängerten" Fälligkeitsdaten oder sogar einem Schuldenschnitt.» Vgl. auch Wolfgang Münchau.) Umso sträflicher ist dieses »Nachlassen» Griechenlands aus der Sicht der Eurogruppe, da die EU Mitgliedsstaaten doch ein «bemerkenswertes Paket an Maßnahmen beschlossen haben, um die Schuldentragfähigkeit Griechenlands zu stützen», wobei diese Maßnahmen «den Schuldendienst Griechenlands gemildert haben».
Die Verfasser des Papiers geben vor, die Zusammenhänge nicht zu verstehen. Vermutlich, um von ihren eigenen Fehlern, die allererst das Desaster erzeugt haben, abzulenken. Wenn diese Fehler in der Öffentlichkeit breit verstanden würden, könnte dies dem einen oder anderen sein Amt kosten.
Odious Debt: Zur Frage der Legitimität der griechischen Staatsschulden
Die Staatsschuldenkrise Griechenlands, deren humanitäre Folgen Europa beschämen müsste – die ärmsten 10 Prozent verloren gegenüber 2008 86% ihres Einkommens, die Wirtschaft brach um 25% ein, die Arbeitslosenquote stieg von 8% auf 25%, jeder zweite Jugendliche ist ohne Job, ein Drittel aller Griechen ist nicht mehr krankenversichert – sind im Kern nicht auf (angeblichen oder tatsächlichen) griechischen Schlendrian, Konsum auf Pump und mangelnde Wettbewerbsfähigkeit zurückzuführen, sondern auf Schulden, die andere der griechischen Bevölkerung aufgebürdet haben. Hier ist die Story und die Fakten. Sie sind von der «Wahrheitskommission» zusammengestellt worden, die das neu gewählte griechische Parlament einberufen hatte und die sich das alles nicht einfach ausgedacht hat, sondern sich auf öffentlich zugängliche Quellen stützt. (Hier der vorläufige Bericht und hier eine deutsche Übersetzung der Zusammenfassung.) Deutschen Medien haben praktisch nicht berichtet und wenn, dann nur so: Klar wollen die reformunwilligen Griechen ihre Schulden nicht zahlen... Wäre darüber seriös und vorurteilsfrei berichtet worden, müsste heute eine andere Stimmung im Lande herrschen.
Es muss zunächst auffallen, dass die Staatsschuldenquote Griechenlands nach dem Euroeintritt und den Zinssenkungen («Zinskonvergenz») praktisch nicht gestiegen sind, was auch den Plutonomie-Ökonomen Hans-Werner Sinn für einen kurzen Moment aus dem Konzept bringt: «Hinter dem Überschießen des Konsums stand wohl [sic] im Wesentlichen die Zinssenkung, die der Euro-Beitritt Griechenland brachte.» Nein, wenn denn da ausländische Kredite verkonsumiert wurden, dann waren nicht Bezieher sozialstaatlicher Leistungen die Begünstigten. Und so muss Sinn ein paar Seiten weiter auch eingestehen: «Hinter dieser Entwicklung [Verdoppelung der Nettoauslandsschulden zwischen 2001 und 2007] stand wohl weniger der Staat, denn der hat seine Schuldenquote bezüglich des BIP in der gleichen Zeitspanne nur von 105% auf 107% vergrößert.»
Wie überall auf der Welt wurden durch den großen Bail-Out des Kapitals im Zuge der 2008er Finanzkrise private in öffentliche Schulden umgewandelt («Sozialisierung von Verlusten»). Global stieg die Staatsschuldenquote zwischen 2008 und 2014 von 65% auf 79,8% des BIP, in der Eurozone von 68,6% auf 94% und in Griechenland von 108,8% auf 177,2% (IMF, S. 6). Die griechischen Banken hatten sich zuvor, dank des als sicher geltenden Euro und natürlich auf Geheiß ihrer Kunden und Aktionäre, besonders dreist verschuldet, was sich daran zeigt, dass die Privatschuldenquote Griechenlands von 74.1% (2001) auf 129.1% (2009) des BIP emporschnellte (Wahrheitskommission S. 14, 17). Das konservative Kabinett K. Karamanlis hat die Banken dann mit € 28 Mrd. herausgehauen. Das sozialdemokratische Nachfolgekabinett G. Papandreou hat sodann die Staatsschuldenstände neu bewerten lassen (S. 18). Im Ergebnis schnellte die Staatsschuldenquote in die Höhe, von 107% (2007) auf 148% (2010) – offenbar ohne dass die griechischen Normalbürger in ihrer Leistungskraft nachgelassen hätten.
Die Löcher, die dieser Bail-Out der Rentiers in den griechischen Staatshaushalt gerissen hat, wurden durch Kredite ausländischer Banken gestopft mit der Folge, dass die Staatsschulden zu 36% von französischen und zu 21% von deutschen Banken gehalten wurden (S. 19). Damit beginnt das eigentliche Drama. Denn obwohl der IMF, den Kanzlerin Merkel ins Boot holte, um die Auseinandersetzung zu entpolitisieren (sprich: zu ökonomisieren), die Schuldentragfähigkeit Griechenlands für nicht gegeben erachtete, brach oder jedenfalls dehnte man die eigenen Regeln und beteiligte sich beim «Hilfs»- und «Rettungsprogramm», welches nicht etwa den Griechen half, sondern den Banken bzw. dem Kapital. Dies kann man bei Michael Hudson oder bei Harald Schumann nachlesen.
Das Bisherige zusammengefasst: die Finanzelite und die Oligarchen des Landes verzockten sich. Sie sollten von den Normalbürgern herausgehauen werden. Diese konnten es aber nicht, so dass man Kredite bei ausländischen Banken aufnehmen musste und nun kommt’s: Diese Banken wurden von den Normalbürgern Deutschlands, Frankreichs usw. herausgehauen. Nun aber mit einem entscheidenden Unterschied: Es gibt keinen Schuldenschnitt mehr. Was Private nicht durchsetzen könnten (denn hier gilt für den Gläubiger: caveat emptor; mach Dich kundig, ob der Schuldner den Schuldendienst wird leisten können) und was normalerweise regulatorisch verboten ist (so gibt es Pfändungsfreigrenzen, Chancen für einen Neuanfang durch Schuldenstreichung im Verbraucherinsolvenzverfahren), wird nun mit staatlicher Gewalt durchgesetzt (vgl. Hudson). Aus «No taxation without representation» wird nun: «With representation, full liability» (Streeck, S. 14):
«Greek citizens are made liable regardless of whether they have voted for the governments that have indebted them, or whether they have voted at all, or whether they have ever benefited from the debt. Given the size of the debt, the ministers and central bankers who incurred it cannot possibly repay it personally, comfortable as their salaries, savings, and inherited wealth may be. To the extent that they still hold public office, they have the privilege to declare repayment the moral duty of the pensioners, patients, cvil servants, and workers of Greece, who are called upon to help out their country by helping out its creditors.»
Und diese Gläubiger sind nun die Steuerzahler anderer Staaten.
Hier soll keine Diskussion darüber geführt werden, ob es sich bei den Staatsschulden, die auf Griechenland lasten, um sog. «odious debts» im völkerrechtlichen, also legalrechtlichen Sinne handelt (vgl. auch hier). Solche «verabscheuenswürdigen Schulden» liegen etwa dann vor, wenn die Machtelite eines Landes ihre Privatschulden zu Schulden des Steuerzahlers erklärt, die, so dieser nicht zahlen kann, sodann sozialstaatliche Transferempfänger, also Rentner, Arbeitslose, Kranke, Auszubildende, Schüler usw. zu schultern haben. Festzuhalten ist, dass die privaten Gläubiger, also vor allem die französischen und deutschen Banken bzw. deren Kundschaft und Aktionäre, herausgehauen wurden, womit ein Beispiel dafür gegeben ist, dass die an sich ja demokratisch verfassten Rechtsstaaten der Eurogruppe sich zu «Inkassoagenturen im Auftrag einer globalen Oligarchie von Investoren» (Wolfgang Streeck) degradieren ließen. Griechenland wurde zu einem «Vehikel, um die Inhaber der griechischen Staatsanleihen auszuzahlen, die damit einen großen Reibach machten [made a killing]». Diese hatten die Anleihen nämlich zuvor, als die griechische Schuldentragfähigkeit bereits fraglich wurde, billig eingekauft, zu vielleicht 30% des Nominalwertes, und bekamen sie dann von der Eurogruppe, die damit ihre Steuerzahler in Haftung nahm, zu 100% ausgezahlt (vgl. Hudson).
Gerade diese Abschläge dokumentieren ja die fehlende Schuldentragfähigkeit Griechenlands, weshalb Yanis Varoufakis die zynisch als Programme der «Rettung» Griechenlands bezeichnete politisch lancierte Aufrechterhaltung des Kapitaldienstes (Zinsen und Tilgung) der griechischen Bevölkerung, den sowohl IWF-Ökonomen als auch «die Märkte» als nicht leistbar einstuften, als «crime against humanity» bezeichnete (ab Minute 9). (Sollte die Begründung darin zu erblicken sein, dass die Weltwirtschaft sonst in einen Abwärtsstrudel geraten wäre, da das Kapital ja die Bürger in Geiselhaft nimmt, bzw., wie Trichet damals meinte, ein Schuldenschnitt eine globale Bankenkrise erzeugen würde, weshalb er dann lieber Griechenland zum Schuldendienst zwang (vgl. Spiegel 29/2015, S. 66 f.), so ist dies natürlich ein gänzlich untragbare Option. Wenn schon nicht Scheingeiselhaft vorliegt, so hätte man sich die Finanzmittel qua Besteuerung des globalen Finanzkapitals zurückholen müssen, statt die Griechen finanziell auszupressen.)
Da Griechenland den Schuldendienst, der nur sehr bedingt als selbstverschuldet anzusehen ist, absehbar und dann ja auch tatsächlich nicht leisten konnte, sieht Wolfgang Münchau in den «Griechenlandprogrammen» eine «Insolvenzverschleppung», die «unter das Strafrecht fallen würde, hätte man eine solche Nummer im Privatsektor abgezogen… Dass in Deutschland angesichts dieser Katastrophe niemand Merkels Rücktritt verlangt, ist Zeichen einer kranken politischen Kultur.» – Die Härte des an sich unannehmbaren Diktats (welche als «Einigung» verkauft wird) könnte auch damit zusammenhängen, dass die herrschende politische Elite auf jeden Fall verhindern will, dass der Fehler von 2010 – Bail-Out statt Schuldenschnitt – auf diese selbst zurückfällt, da nun ja der kommune deutsche, französische usw. Steuerzahler in Regress genommen würde. (Kommun, da im Zuge der fiskalischen Privilegierung von Kapitaleinkommen die Rentiers ohnehin kaum die Leidtragenden sind.)
Austerität funktioniert nicht
Aber es kommt ja noch schlimmer. Die als «Hilfe» für Griechenland verkaufte Hilfe fürs Kapital wurde an Bedingungen geknüpft («Konditionalität»), die das Herz jedes Neoliberalen höher schlagen lassen müssen. Endlich lässt sich Schluss machen mit dem Sozialstaat und aller nicht wettbewerbskonformen Regulierung. Dazu zählen Rentenkürzungen – bislang in Höhe von 40 Prozent –, Streichung der Arbeitslosenunterstützung nach einem Jahr, Schwächung der Gewerkschaftsrechte, Entlassung von Staatsangestellten (so dass Ärzte an staatlichen Krankenhäusern nun 80 Stunden Schichten schultern müssen) und Einführung von forced rankings in allen öffentlichen Verwaltungen. («The government aims for the evaluation process to lead to 15% of civil servants being either retrained, moved to more suitable positions or dismissed.») Abgesehen von der Unmenschlichkeit dieser Maßnahmen, die der Europäischen Union als einer «Wertegemeinschaft» Hohn sprechen, so besteht deren Folge vor allem darin, den innergriechischen Wirtschaftskreislauf zu zerstören. Das ist, was die neoliberal-neoklassischen Ökonomen, die das Sagen haben, nicht verstehen: Wenn etwa die Renten gekürzt werden oder wenn die Löhne gesenkt werden, dann geben diese Leute auch weniger aus und diese Anbieter, etwa der lokale Supermarkt, und deren Beschäftigte geraten ihrerseits in Schwierigkeiten und können wenige ausgeben, usw. usf. Diese Abwärtsspirale aus Austerität ist es, die den Wirtschaftseinbruch hervorgerufen hat und die Schuldenstandsquote auf untragbare 180% des BIP hat anschwellen lassen.
Paul Krugman (ab Minute 7) formuliert den Zusammenhang so: «What people, Germans particularly, find very hard to understand is that the economy is a circle. Money flows around. You buy from me, I buy from you. My spending is your income, your spending is my income. If you say, people must spend less, if everybody spends less at the same time, then incomes fall. When it is said, the private sector is overindebted and has to cut back, and the public sector also has to cut back. Who are we selling to? This cannot work.”
Hans-Werner Sinn möchte in seiner Schrift «Die griechische Tragödie» Yanis Varoufakis widerlegen, der behauptet hatte, 90% der «Hilfsgelder» seien als Bail-Out an die privaten Gläubiger geflossen und nur 10% an den griechischen Staatshaushalt. Nun gut, es sind 11%. Und der angebliche «Haircut» der privaten Gläubiger im Jahre 2012 («Private Sector Involvement») in Höhe auf den ersten Blick erstaunlicher 50% des Nominalwertes, mit dem das «Exposure» privater Investoren weiter reduziert wurde, bestand zu guten Teilen darin, dass die griechischen Pensionskassen (und damit griechische Rentner) zwei Drittel ihrer Kapitalreserven abschreiben mussten (Wahrheitskommission, S. 20, Tsipras, Varoufakis, S. 5). Zudem verloren viele Familien ihre Lebensversicherung, die sie in griechischen Staatsanleihen gehalten hatten. Die griechische Volkswirtschaft und hier mal wieder die Normalbürger zahlten also gute Teile des eigenen Schuldenschnitts selbst. Aus Sicht der Großinvestoren, die den Nominalwert ihrer Investments ohnehin abgeschrieben hatten, war dies ein «happy end», da sie entweder ausbezahlt wurden (vom europäischen Steuerzahler); oder ihr Engagement wurde mit dem weiteren Anziehen der «Reform»-Daumenschrauben versüßt (ebd.).
Hans-Werner Sinn meint demgegenüber, rund ein Drittel der öffentlichen Mittel der Euroländer hätten «dem Erhalt und dem Ausbau des griechischen Lebensstandards» gedient. Dass die Staatsverschuldung nicht abgebaut wurde und Griechenland «kränker denn je erscheint», sei zwar angesichts «der riesigen Kreditmittel», die das Land «von der Staatengemeinschaft erhielt» [präziser: die die Eurogruppe den privaten Investoren abkaufte und später aufstocken musste], «auf den ersten Blick verblüffend». Dies aber müsse mit der unbändigen Konsumneigung der Griechen zusammenhängen bzw. damit, dass das Land «die Reformauflagen … bislang nicht oder nur äußerst unzureichend erfüllt» habe. Der «Anpassungsdruck» müsse immer noch zu gering gewesen sein. «Erst wenn das öffentliche Geld nicht mehr [sic] zur Verfügung steht, kommt es unter dem Druck der Verhältnisse zu den schmerzlichen Anpassungseffekten bei Löhnen und Preisen, die die Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen.» Mit anderen Worten: Erst eine Abschaffung des Sozialstaates und also die Errichtung einer reinen Privatrechtsordnung würde für Wachstum sorgen und so auch die Staatsverschuldung verringern. Und da glaubt einer, Finanzminister Schäuble sei der Härteste im Lande.
Als entscheidender Beleg dient Sinn die Gegenüberstellung von staatlichem und privatem Konsum mit dem Volkseinkommen (S. 12). Griechenland verkonsumiert heute 113% seines Volkseinkommens. Die Differenz zu 100% muss auf Finanzmittel, die aus dem Ausland stammen, zurückzuführen sein. Es handelt sich dabei um sog. ELA-Kredite, die die griechische Notenbank bei der EZB beantragte und die sie – bis vor kurzem – erhielt. Diese schlagen sich als sog. «Target-Kredite» nieder. So weit, so technisch richtig, wobei Varoufakis von diesen gar nicht sprach.
Doch warum stieg der Konsumanteil überproportional zur Wirtschaftsleistung, was Sinn ja «verblüfft». Ja doch offenbar darum, weil diese Wirtschaftsleistung um 25% einbrach. Und zwar just wegen der «Rosskuren», die Sinn ja herbeisehnte und an deren Zustandekommen er als einer der gewichtigsten Ökonomen Deutschlands intellektuell beteiligt war. Ihretwegen sank das Volkseinkommen und setzte die oben beschriebene Abwärtspirale in Gang, was sich technisch als negative Ausgabenmultiplikatoren fassen lässt. Sinn bestaunt die Folgen der von ihm und der gesamten nicht-keynesianischen Ökonomenzunft befeuerten Austeritätsorgie: Da die Binnenwirtschaft zusammenbrach und mutwillig zerstört wurde, musste das Geld von außen kommen.
Ja, die Griechen leben noch und konsumieren also noch. Sie produzieren nicht nur, was sich Sinn offenbar wünscht. Aber aufs Ganze gesehen konsumieren sie eben nicht 25%, sondern «nur» 15% weniger, da der Rest durch «frisch geschaffenes Geld» finanziert wurde. Wobei man hier natürlich differenzieren muss: Wem kamen die ELA-Gelder zugute? Offenbar, wenn denn, den reichsten Griechen (vgl. hier und hier). Und überdies könnten die ELA-Gelder auch der Kapitalflucht gedient haben, was Sinn selbst als eine weitere statistisch zwingende Möglichkeit festhält. Dies aber muss erst Recht zu Ungunsten der falschen «Rettung» der Investoren und der als «Hilfe» etikettierten Austeritätspolitik ausfallen.
Hans-Werner Sinn mag ein begnadeter Buchhalter sein. Er ist aber schon darum ein schlechter Ökonom, weil er den Kreislaufcharakter einer Marktwirtschaft verkennt. Darum fällt ihm sein Austeritätseifer auf die eigenen Füße, ohne dass er es bemerkt. «Austerity is economically illiterate.»
Wie weiter?
Keine Währungsunion ohne politische Union, so lautet das politische Mantra überall. Nicht nur hapert es bei der Umsetzung, vielmehr ist damit sehr Unterschiedliches, ja geradezu Konträres gemeint.
1. Die hegemonialen Neoliberalen verbinden damit eine Austeritätsregime und die endgültige Etablierung des Wettbewerbsstaates bzw. die «Auflösung von Politik in Marktkonformität» (Jürgen Habermas). In der Vision Angela Merkels eines «Pakts für Wettbewerbsfähigkeit» könnte dies etwa in «verbindlichen» vertraglichen Verpflichtungen der Eurostaaten gegenüber der EU-Kommission bestehen (innerhalb derer die Ökonomen das Sagen haben), ihre «Wettbewerbsfähigkeit» stetig zu «verbessern», «sodass wir [wer ist wir?] feststellen können, inwieweit sich im Euroraum die Wettbewerbsfähigkeit verbessert». Dieser Weg ist zumindest mit Blick auf Griechenland allerdings zumindest vorerst gescheitert. Und es ist nicht ersichtlich, wer die Käufer sein sollten, wenn alle ihre «Wettbewerbsfähigkeit» durch Zwangssparen gesteigert haben sollten. Und zwar erst recht nach dieser Einigung, in der Paul Krugman nur noch «Rachsucht» (des deutschen Establishments gegen Syriza) zu erblicken vermag, wobei der Coup Schäubles offenbar den Sinn habe, Griechenland ein Angebot zu unterbreiten, das das Land nicht akzeptieren könne. – An sich ist das neoliberale Weiter-So keine Option, nicht nur moralisch, sondern selbst mit Blick die Rückzahlung der Kredite nicht: Die Schuldentragfähigkeit Griechenlands wird weiter sinken. – Nachtrag: et voilà.
2. Die Anreicherung und Wiederbelebung von Momenten einer Transferunion. Das ist für Konservative Teufelszeug, war aber Gang und Gäbe. So erhielt etwa Griechenland in der Anfangszeit seiner EU-Mitgliedschaft Zuschüsse aus EU-Mitteln in Höhe von vier Prozent seiner Wirtschaftsleistung (vgl. Streeck, S. 16). Darin lässt sich die keynesianische Idee eines «Überschussrecycling» erblicken, die Varoufakis (ausführlich hier, siehe im Register unter GMÜR) der versammelten neoliberalen Finanzministerriege vergeblich zu vermitteln versuchte: Ohne Finanzausgleich (den auch die USA kennen, vgl. den Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann, S. 7) finden die besonders wettbewerbsfähigen Regionen sonst bald keine Käufer mehr. Und das Kapital gerät in den Anlagenotstand. (Es sei denn, es verkonsumiert den Zaster selbst, was dem Modell Plutonomy entspricht.) Dies ist an sich die sozialdemokratische (statt marktlibertäre) Vision Europas als einer politischen Union, die übrigens nicht allein auf Solidarität beruht, sondern auf einem fairen und klugen Ausgleich der Interessen. Damit würde der griechische Binnenwirtschaftskreislauf wieder angeworfen, aus dem, im Prinzip wenigstens, die Schulden bedient werden können. (Varoufakis: «Fünf Jahre schrecklicher Politik hatten die Einkommen vernichtet, von denen „sein“ [Schäubles] Geld hätte bezahlt werden können.») – Dass Varoufakis übrigens die Besteuerung der Reichen bzw. des Kapitals nicht energisch genug angegangen ist, wiewohl der keineswegs untätig war (etwa mit Blick auf die geschätzten € 80 Mrd. Schwarzgeld, die in der Schweiz lagern), hat neben dem hier genannte Grund, dass die Troika es nicht wollte, vor allem damit zu tun, dass der Wirtschaftskreislauf hier und jetzt wieder angeworfen werden musste, die Steuereintreibung aber viele Jahre benötigen würde (vgl. bestätigend hier). Und abgesehen davon sich ja die Frage der Legitimität der Schuldenlast im Ganzen stellt. Auch mit Blick auf die Steigerungen, die auf das Austeritätsregime zurückzuführen sind.
Zum fairen Umgang miteinander zählt auch der Schuldenschnitt, der nicht nur moralisch, sondern ohnehin unausweichlich ist, da Griechenland ja gerade umso weniger in der Lage ist, den Kapitaldienst zu leisten, als es ihn aus laufenden Mitteln leisten muss. (Dies war den Westalliierten beim Londoner Schuldenabkommen von 1953 noch bewusst.) Da nun aber, und das könnte sich als Kardinalfehler der Kanzlerschaft Merkels erweisen, die Schuldenlast dem kommunen Steuerzahler (der übrigen Eurostaaten) aufgehalst wurde (da Griechenland nicht wird zahlen können), sollten die Mittel dem Kapital durch eine allgemeine Besteuerung entzogen werden, etwa durch eine globale Vermögenssteuer (vgl. für Deutschland die Überlegungen von Stefan Bach). Das wäre zwar nie ganz zielgenau und nicht ganz verursachergerecht (denn wer genau sich da auf Kosten anderer verzockt hat, wird sich wohl nie eruieren lassen), es wäre aber gerechter als alle anderen Optionen. Natürlich wäre dafür eine internationale Steuerkoordination nötig, also das Ende des Bankgeheimnisses UND der Trusts, Stiftungen usw., hinter den sich die Ultrareichen verstecken.
3. Der Grexit wird von marktlibertären Hardlinern wie Hans-Werner Sinn ebenso favorisiert wie von denjenigen, die dem Trend zur wachsenden Marktkonformität aller Lebensverhältnisse Einhalt gebieten möchten (vgl. hier die Argumente Streecks für ein «Lob der Abwertung»). Man muss ja sehen: Soweit es die Bewohner Griechenlands wünschen, mehr zu importieren als zu exportieren, müssen sie sich entweder verschulden, was nur begrenzt durch Transfers ausgeglichen werden kann (natürlich: moralisch gesehen). Oder sie müssen mehr exportieren, also wettbewerbsfähiger werden. Dies allein hat Sinn im Auge. Oder sie dürfen eben weniger importieren. Dies würde eine eigene Währung automatisch besorgen.
Da nämlich eine neue Drachme um vermutlich 30% abwerten würde, würden Importe teurer, so dass sich die Griechen wechselseitig weniger unter Druck setzen würden und es der deutschen Exportwirtschaft schwerer fiele, die griechische Wirtschaft an die Wand zu fahren. Deutsche Waren würden zu teuer. Der Wettbewerbsdruck im Land würde sinken, da die Griechen als Käufer nicht mehr andere Griechen als Verkäufer aus dem Rennen werfen würden. (Und natürlich sind alle Griechen letztlich Käufer und Verkäufer zugleich, was Neoliberale ignorieren.) Natürlich würden damit auch die Exporte billiger, was andere Regionen übrigens unter einen gewissen Druck setzen würde, im Land aber auch die Devisen heranschaffte, um zu Importieren. (Umgekehrt heißt das: Die 30- oder vielleicht gar 50-prozentige Abwertung zeigt, wie schwierig es für die griechische Wirtschaft ist, sich ohne externe Verschuldung – wie dringend? – benötigte Importgüter zu verschaffen. Vgl. auch Müller, Showdown, S. 32.)
Die Griechen wollen allerdings mit einer überwältigenden Mehrheit von 70% in der Währungsunion verbleiben. Dies könnte mit der bereits immensen Verflechtung der griechischen Wirtschaft mit der Eurozone zusammenhängen, also mit einer nicht nur konsumtiven, sondern auch investiven Importabhängigkeit (vgl. hier). Verschiedene keynesianische Ökonomen, wie Paul Krugman und Joseph Stiglitz (vgl. auch hier und hier) sehen im Grexit allerdings keine Katastrophe, wenn auch die Übergangszeit hart wäre und unterstützt werden müsste. Die Währungsabwertung, die Druck aus dem innereuropäischen und auch dem globalen Wettbewerb nimmt (und die nicht das Ende der europäischen Wertegemeinschaft bedeuten müsste), könnte sogar zum Vorbild für andere, weniger kompetitive Staaten wie Portugal, Spanien, vielleicht gar Italien werden. Und dann würde das Geschäftsmodell Euro, welches dem deutschen Exportkapital so herrliche Gewinne beschert hat, bald verschwinden. (Das Geschäftsmodell besteht darin, dass das deutsche Wirtschaftsgebiet um schätzungsweise 20 Prozent zu billig exportiert, da die weniger kompetitiven Staaten es ihm erlauben, sich hinsichtlich seines Kurses hinter ihnen zu verstecken.)
Von Dankbarkeit dafür, dass Griechenland et al. dem deutschen Exportkapital gigantische Gewinne mitverschafft hat (neben den sich in Lohnzurückhaltung geübt habenden deutschen Beschäftigten), die dann unter anderem in Griechenland investiert wurden, um den Export auch dorthin zu finanzieren, was eine Art In-sich-Geschäft war, und diese Überschüsse nun unter anderem dem deutschen Steuerzahler (als Bürgen) aufgehalst wurden, davon ist in den Verhandlungen der Eurogruppe unter der Führung von Merkel und Schäuble nichts zu spüren. Das genaue Gegenteil trifft zu. Wer am Boden liegt, dessen Fesseln zurren diejenigen, die den Geldhahn auf- oder zudrehen können (das ist letztlich Draghi), noch einmal etwas enger.
Faktisch mag der Neoliberalismus gescheitert sein, und die Schuldenlast wird irgendwann auf den deutschen Steuerzahler fallen. Doch intellektuell ist seine Hegemonie beinahe total. Varoufakis meint, er hätte den versammelten Finanzministern beim Versuch, die Zusammenhänge polit-ökonomisch zu erklären, genauso gut die schwedische Nationalhymne vorsingen können. Das rauschte einfach so durch.
Derzeit gilt offenbar: «Die Märkte» und deren willfährige Vollstrecker fast überall auf den politischen Kommandozentralen haben gesiegt. Der intellektuelle Kampf dagegen scheint zuweilen aussichtslos.