18. Mai 2012
Der Coup von Saez und Piketty

Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus, Steuergerechtigkeit, Orientierungen

Die Forderung nach höheren Steuersätzen als Ausdruck eines Paradigmawechsels?

 

Wie kann das sein? Da votieren zwei französische Ökonomen, Emmanuel Saez and Thomas Piketty, in diversen Schriften (mit verschiedenen Mitstreitern) für einen Spitzensteuersatz von 73 percent [alle folgenden Zitate in Englisch, um sich im verlinkten Text leicht auffinden zu können – auch wenn dies nicht immer elegant ist], teilweise gar für eine «socially optimal top tax rate T* = 83%» und können dies problemlos in «Top-Journals» publizieren, etwa im Journal of Economic Perspectives; und einer von beiden, Emmanuel Saez, bekommt dafür gar noch die John Bates Clark Medal, eine Art kleiner und quasi vorbereitender Nobelpreis für Ökonomen unter 40, der jährlich von der American Economic Association vergeben wird, nach Edward Fullbrook «the world’s undisputed supreme ruling body of the economics profession». (Die Heterodoxie hat sich jüngst in der World Economics Association zusammengeschlossen. Diese ist, ähnlich wie unser Memorandum, angetreten, «einen Pluralismus von ökonomischen Ansätzen zu befördern».)

Zusätzlich muss man sich dabei vergegenwärtigen, dass es die 99%-Bewegung (bzw. den entsprechenden Slogan der Occupy-Bewegung) ohne die Arbeiten von Saez und Piketty wohl nicht gäbe, jedenfalls nicht mit der Durchschlagskraft, die sie besitzt. Denn diese Daten (vgl. auch, noch plastischer aufbereitet, hier; für die letzte Dekade Deutschlands liegt bislang, soweit ich sehe, nur diese in etwa entsprechende Übersicht vor) gehen, wenn ich richtig sehe, auf die Arbeiten der beiden Autoren zurück, die hierzu historically bislang nicht verfügbare Daten aufbereiteten. Ein Ergebnis ist diese Grafik der Top 10% Einkommensbezieher in den USA und diese für die Minderbesteuerung der «super rich». Zwischen 1993 und 2010 gingen 52% des US-Wachstums an die Top 1% (vgl. S. 7).

Thomas Piketty hält dies für einen «completely crazy level of inequality» – und wer wollte dies bestreiten, spricht diese Einkommensverteilung doch einer jeden irgendwie noch plausibler Weise als fair bzw. leistungsgerecht zu beurteilenden Einkommensverteilung Hohn. «People say that reducing inequality is radical», so Piketty weiter. «I think that tolerating the level of inequality the United States tolerates is radical.»

Inwiefern nun zeigt die Unterstützung der Arbeiten von Saez et al. durch die etablierte Ökonomik deren «Offenheit» an? Inwiefern zeigt sie an, dass die «Phalanx marktgläubiger Professoren» durchbrochen wurde bzw. ein «Kartell der Marktgläubigkeit» gar nicht oder nicht mehr existiert? (Natürlich ist das Votum für die Besteuerung, hier: der Superreichen, prima facie eine Überwindung des Ökonomismus; denn «Steuern sind keine [Markt-]Preise».) Dieser Frage bin ich bislang unter anderem hier, hier und hier nachgegangen. – In Anknüpfung an eine Formulierung von Fullbrook ließe sich die Frage so formulieren: Hat sich die Ökonomik vom «monopoly of the neoclassical paradigm» aus eigener Kraft befreit?

Im Folgenden möchte ich dieser Frage exemplarisch anhand von Texten zur «optimalen Besteuerung» von Saez und (verschiedenen) Mitautoren nachgehen.

Der Utilitarismus der Rechenkünstler

Der Hauptgrund dafür, dass Saez et al in den Journals der etablierten Ökonomik publizieren können, ist der, dass sie voll im Utilitarismus verwurzelt sind. Der Utilitarismus ist die Ethik der mathematisch fixierten Mainstream Economics (das Pareto-Prinzip ist den Marktlibertären bzw. Austrians zuzuordnen, das Wettbewerbsprinzip den Ordo- bzw. Neoliberalen; allen drei Konzeptionen entspricht mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen eine «Fürsprache» des Marktes bzw. des Marktprinzips). Aus einer ethisch-reflexiven Sicht fällt ja sofort auf: Wie nur kann man daran gehen wollen, eine «optimale Besteuerung» irgendwie ‚objektiv‘ bestimmen und tatsächlich auszurechnen? Dies ist schlicht undemokratisch (bzw. technokratisch) und überschreitet die Grenzen, die der wissenschaftlichen Betrachtung m.E. gesetzt sind («Werterhellung» statt «Wertentscheidung»). Es ist ein von vorn herein mindestens unsinniges Vorhaben. Man muss sich nicht im Geringsten mit Hayeks Libertarismus identifizieren, um hier von einer «Anmaßung von Wissen» zu sprechen. Man kann Gerechtigkeit (etwa die «Optimalität» der Besteuerung) nicht ausrechnen, sondern nur ethisch-reflexiv beurteilen.

Auf die Frage, «optimal» für wen, antwortet der Utilitarismus bzw. hier: die utilitaristische Theorie der Besteuerung (zu der sich Saez ausdrücklich bekennt): «for society»: «In general, optimal tax analyses maximize social welfare as a function of individual utilities—the sum of utilities in the utilitarian case.» [Ich weiß nicht, welcher andere «case» hier noch in Frage kommen könnte, wenn es um die «Maximierung der sozialen Wohlfahrt» gehen soll.] Darin stimmt er ganz mit Mankiw überein – und mit der gesamten Lehrbuchliteratur: «The standard theory of optimal taxation posits that a tax system should be chosen to maximize a social welfare function subject to a set of constraints.» Dabei wird ein mehr oder minder hypothetisches Handlungs- und Beurteilungssubjekt vorausgesetzt (mit Bezug auf die Frage der Richtigkeit von Marktpreisen ist dies «der Markt» bzw. seine «unsichtbare Hand»; «Marktversagen» bildet die Ausnahme von der Regel). Mankiw nennt es «the social planner» bzw. den «utilitarian», Piketty/Saez/Stantcheva «government» oder «society» (S. 36).

Damit hat die utilitaristische Ökonomik (im Kern nichts als ein angewandter Utilitarismus) ein maximierendes Subjekt zur Hand, das wie ein Homo oeconomicus im Großformat ans Rechnen gehen kann, um «seinen» Nutzen zu maximieren. Und so sind die Texte von Saez et al auch voll von mathematischen Formeln, deren Komplexität absurde Ausmaße annehmen (und die bei den Gutachtern wohl Ausrufe der Entzückung ausgelöst haben dürften; selbst Krugman hat Probleme zu folgen). Keine andere ethische Konzeption als der Utilitarismus würde eine Berechnung von Richtigkeit bzw. Gerechtigkeit (hier «Optimalität» genannt) erlauben! Dies bedeutet auch: All diese ja nun gesellschaftsbezogenen Formelfriedhöfe, die «Top»-Ökonomen für «Top»-Journals heutzutage qualifizieren, würden sich erübrigen, wenn sich die utilitaristische Konzeption als unhaltbar erwiese – und sie ist unhaltbar.

Absurder ist aber die utilitaristische Konzeption selbst. Ihr geht es um die Maximierung eines abstrakten Weltnutzens (die natürlich in der Regel mit Wirtschaftswachstum gleichgesetzt wird, d.h. mit dem größtmöglichen «Gesamtprodukt» (Hayek) oder «Kuchen» (Mankiw); darin liegt der – übrigens im Vergleich zu den Austrians eher milde – marktapologetische Charakter des «ökonomischen» Utilitarismus verborgen). Nur «die Welt» hat hier Rechte (nämlich das absurde Recht, ihren Nutzen zu maximieren), die Individuen selbst repräsentieren bloß Nutzenquanten am hypothetischen Gesamtkörper «Welt». (Die Autoren sprechen statt von Welt von «society»; der Gedanke wird auch durch die Qualifizierung des zu maximierenden «Wohls [welfare]» als «sozial» [statt bloß als individuell] zum Ausdruck gebracht.) Dass die Individuen Anteile am Weltnutzen bloß repräsentieren, wird im Beitrag von Diamond/Saez (in dem es vor allem um die Frage geht, wie die «top earners» zu besteuern sind) durch die Formulierung «social value of marginal consumption of top earners» zum Ausdruck gebracht. Deren Nutzenempfinden, so darf wohl formuliert werden, repräsentiert, ebenso wie das aller anderen Individuen, ein Quantum bzw. ein «welfare weight» am hypothetischen Gesamtnutzenkörper «Welt».

Und leider müssen sie sich oder etwas von sich opfern. Dieses Opfern ist ja der Knackpunkt des Utilitarismus. Die grundlegende utilitaristische Logik (ganz unabhängig von Besteuerungsfragen) lässt sich etwa an einer Äußerung der von der Australischen Regierung eingesetzten «Productivity Commission» veranschaulichen: «It is inevitable that reforms designed to remove sources of inefficiency in the economy will create some losers as well as winners… But the costs experienced by some individuals or communities are not sufficient reason to forego reforms that are of substantial net benefit to the community as a whole.» Im Utilitarismus wird der vergleichsweise tiefere Wohlstands- verlust des einen durch den vergleichsweise höheren Wohlstandsgewinn des anderen überkompen- siert und damit gerechtfertigt. (Die Beurteilung der Nutzenanteile obliegt dem «utilitarian».)

Gossen revived

Die erste und hauptsächliche Differenz zum Mainstream besteht darin, dass Diamond/Saez «the social marginal value of consumption for topbracket tax filers» als gering veranschlagen. Dies hat gravie- rende Konsequenzen (innerhalb des utilitaristischen Bezugsrahmens), denn nun gilt nicht mehr so ohne weiteres, dass die Besteuerung – jede Besteuerung – an sich einem «Nettowohlfahrtsverlust» entspricht. Nach ökonomischer Standardauffassung «büßt ... die Gesellschaft» (als das utilitaristische Makrosubjekt, dessen «Gesamtrente» zu maximieren sei) durch die Besteuerung nämlich «einiges von der Markteffizienz [d.h. von dem durch Märkte der Welt (sic) verschafften Nettonutzenzuwachs] ein» (Mankiw, Grundzüge, 4. Aufl., S. 199; man kann auch jedes andere etablierte Vwl-Einführungswerk heranziehen). (Der Hinweis aufs «Netto» bedeutet übrigens immer: da gibt es Verlierer.)

Zwar muss (immer: in dieser Logik) auch die Güterfülle, die «Effizienz» der «Allokation», beachtet werden (möglichst viele Güter soll es geben, egal wer sie hat; dazu gleich mehr), doch ist, so im Kern das Argument von Saez et al., in der utilitaristische Gesamtnutzenrechnung auch die «Distribution» einzubeziehen (wer hat die Güter bzw. das für deren Erwerb nötige Einkommen?), was Mankiw, soweit ich sehe, vollkommen vernachlässigt, jedenfalls im Lehrbuch.

Plausibler Weise nehmen die «welfare weights», also die «Wohlfahrtsanteile» bzw. Nutzenanteile, die ein Individuum am Weltnutzen hat, mit der Höhe seines Einkommens ab (allerdings nur, «whenever society [als der «utilitarian», der diese «Nutzengewichtungen» vornimmt] «values more equality of income» bzw. wenn «the government values redistribution», was einer «moralischen Präferenz» des utilitaristischen Leviathan entspricht). – Dies ist alles derart absurd, dass es schmerzt; aber offenbar muss man sich darauf einlassen, um «anerkannte» Ökonomik zu betreiben; obwohl die Sinnlosigkeit des Utilitarismus doch schon lange geklärt ist. Vgl. auch Mantzavinos (S. 212): «Die meisten Ökonomen pflegen den Zusammenbruch dieser Art des Denkens», nämlich, «dass jede wirtschaftspolitische Maßnahme letzten Endes durch die Bedürfnisbefriedigung der sozialen Gesamtheit gerechtfertigt werden soll», «nicht in vollem Umfang zugeben …, obwohl die Fiktion einer sozialen Wohlfahrtsfunktion massiv und überzeugend kritisiert worden ist».

Weiter im Argumentationsgang: Da der Grenznutzen mit der Höhe des Einkommens und damit der Konsumtion all dessen, was man sich damit kaufen kann, plausibler Weise abnimmt (wie wir seit Gossen wissen), gilt: «the social marginal value of consumption for topbracket tax filers is small relative to that of the average person in the economy». Diamond/Saez machen dies an einer erstaunlichen Rechnung deutlich: Das oberste Prozent der Einkommensbezieher in den USA erhielt 2007 durchschnittlich ein Einkommen von $1,364,000; das Medianfamilieneinkommen lag bei $52,700, was 3,9 Prozent des Topeinkommens entspricht. Offenbar unter der Annahme gleichen Nutzenemp- findens würde der Weltnutzenzuwachs eines weiteren Dollars, der den Top 1% zuflösse, nur 3,9 Prozent desjenigen Weltnutzenzuwachses entsprechen, den die Durchschnittsfamilie aus dem weiteren Dollar zöge. Anders herum: wenn die Familie einen zusätzlichen Dollar bekäme (den man den Reichen durch Besteuerung nähme), wäre die Weltnutzensteigerung um 96,1% höher, als wenn der Reiche diesen Dollar konsumiert. Dies ist der Kern der Begründung von Saez et al für die Besteuerung der Superreichen in Umfängen, wie sie zu Zeiten eines breiten Massenwohlstandes gang und gäbe waren.

Rechnen statt Reflektieren

Natürlich müsste man dies ganz anders begründen, nämlich mit Überlegungen zur Fairness der Einkommensverteilung, die sich ganz sicher nicht ausrechnen lässt (und die politisch, nicht technokratisch-utilitaristisch zu bestimmen wäre), einschließlich übrigens von Überlegungen über die Rolle des Kapitals vor allem in reifen, gesättigten Volkswirtschaften. Von all dem ist in den Beiträgen von Saez et al nicht die Rede. Ansonsten hätten die Beiträge auch kaum Chancen, in einen «Top-Journal» publiziert zu werden.

Obwohl die Autoren versprechen, «normative Fragen zu untersuchen [study normative issues]», sucht man normative Erörterungen vergebens (vielleicht darf man auf Piketty and Saez (2012) hoffen) – auch und insbesondere über die utilitaristischen Grundlagen des ökonomischen Mainstreams, dessen Gültigkeit einfach vorausgesetzt wird. (Sonst keine Chance auf Publikation und damit auf «Relevanz» für die Diskussion; die gesamte «Top»-Literatur basiert ja darauf; man müsste sie in allen Einzelheiten widerlegen; eine Herkulesaufgabe, die schlechterdings nicht zu bewältigen ist; und dabei ist die Widerlegung doch bereits erfolgt, nur eben «irrelevant», da ja aus benannten Gründen nicht in Journals publiziert; wir drehen uns im Kreis; oder man sähe sich gezwungen, sich selbst der «genialen Leistung» zu bezichtigen…) Erstaunlich ist das Votum für eine Rückkehr zu Besteuerungsverhältnis- sen, wie sie in den Wirtschaftswunderjahren üblich waren, allemal (wiewohl genuin volkswirtschaftliche, kreislauftheoretische, sprich keynesianische Überlegungen, soweit ich sehe, bei dem Votum gar keine Rolle spielen). Dies auch, da die Beobachtung von Lee Sheppard mindestens weitgehend zutrifft, dass Ökonomen sich «readily identify with the 1 percent» und dass, wann immer zwei Finanzökonomen sich zusammenfinden, sie für Steuersenkungen votieren. Sollte dies nun der Vergangenheit angehören?

Momente der Verwurzelung im und der Abkehr vom ökonomistischen Kernparadigma

Abgesehen davon, dass das Votum für eine höhere Besteuerung der super rich selbstverständlich noch kein Paradigmawechsel ist, stimmen Saez und Mitstreiter mit den Grundlagen der (utilitaristi- schen) Mainstream-Economics voll und ganz überein. Es handelt sich hierbei ja um die Explikation des Kalküls sozusagen eines Welt-Homo oeconomicus. Und dieser will stets mehr Güter. Darum darf die Besteuerung unter gar keinen Umständen dazu führen, dass die dem utilitarian (oder den Ökonomen?) Unterworfenen in ihrem «work effort» nachlassen. Dass sie es tun könnten, gehört zu den «constraints», die zu untersuchen den allermeisten Raum innerhalb der Untersuchungen einnimmt. Hierbei geht es um die Einschätzung von «behavioral responses to taxation» vor allem durch Bestimmung korrespondierender «Elastizitäten». (Die Anmaßung des Wissens eines solchen Vorgehens besteht darin, dass die beiden wettbewerbsethischen Grundfragen als bereits beantwortet unterstellt werden; und zwar werden beide mit Ja beantwortet.)

Die Abweichung vom Mainstream seitens Saez et al besteht hier schlicht darin, dass sie der Ansicht sind, dass die Top 1% der Einkommensbezieher ja ohnehin am Anschlag arbeiten, also gar nicht über den «leeway» verfügen, noch mehr zu arbeiten, wenn die Steuern gesenkt würden – und man darf wohl hinzufügen: in ihrem «work effort» auch nicht nachlassen würden, wenn sie höher besteuert würden. (Die Marktgläubigkeit solcher Überlegungen liegt darin, dass alle Wettbewerbswirkungen, alle «Zerstörungen» durch (markterfolgreiche) Mehrarbeit und vor allem durch den vermehrten Einsatz von Kapital einfach negiert werden. Das ist heutige «top economics».)

Eine kleine, ansatzweise paradigmatische Abweichung vom Mainstream gibt es allerdings durchaus: Nicht alle Weltereignisse werden als «constraint» naturalisiert, und damit wird der «methodologische Individualismus», dessen Argumentationsunzugänglichkeit für jedes HO-Kalkül (auch das des Welt-HO) konstitutiv ist, ein Stück weit durchbrochen. So werden Anleihen beim Institutionalismus (nicht mit «Institutionenökonomik» zu verwechseln) gemacht und etwa hervorgehoben, dass «social norms regarding pay disparity and in particular tolerance for executive pay, have played a key role in the evolution of inequality» und dass «some countries such as Japan still have societal or institutional brakes on large top compensation in spite of relatively low top tax rates.» Wenn also eine andere Stimmung im Lande herrscht, dann mögen sich höhere Steuersätze ein Stück weit erübrigen, da die Einkommensdisparitäten ja von vorn herein geringer ausfallen. Umgekehrt gilt: Wenn Ökonomen den Mythos verbreiten, dass Markterfolge mit Leistungsbeiträgen gleichzusetzen, also als eo ipso fair zu beurteilen sind, da die «Leistungsträger» ihre (Milliarden-)Einkommen ja ganz aus eigener Kraft nach dem Muster des Fruchterwerbs im menschenleeren bzw. naturalisierten Marktraum erzielt haben (so setzt Mankiw «high-ability taxpayers» mit der «high end ability», zur Wertschöpfung beizutragen, gleich), dann dürften die Einkommensdisparitäten zunehmen. Und wenn dann auch noch die «top income groups» daran gehen, «to influence social perceptions (e.g. by funding think tanks or medias that are more pro-rich)» – man denke etwa an die milliarden-schweren Koch-Brüder, die die Tea-Party Bewegung finanzieren – dann hat man es eben mit einer andere «Sachlage», mit andern «constraints» und «Elastizitäten» zu tun. Doch so konzeptualisiert, sind dies eben nicht mehr einfach «constraints», sondern Handlungsweisen, die prinzipiell als falsch oder richtig, als verantwortungsvoll oder verantwortungslos adressiert werden können. Und darin läge der Paradigmenwechsel.

Ein weiteres Beispiel ist die Art und Weise, wie Saez et al den Steuerwettbewerb konzeptualisieren. Im Prinzip stimmen sie zwar mit dem Mainstream überein: «If we … assume full capital mobility and tax competition between small open economies (zero international cooperation), then in equilibrium there would be no capital tax at all.» [Interessant übrigens, dass die «recommendations» und die «explanations» übereinstimmen, dass zwischen «to explain real-world, positive capital taxes» und der «normative analysis» gar kein Unterschied zu bestehen scheint – weil man im eigenen Selbstverständnis nur das wahre Machtgleichgewicht («equilibrium») festhält, was übrigens der unüberbietbar marktradikalen Pareto-Economics, nicht dem Utilitarismus, zuzuordnen ist.] Die alternative Handlungsoption, die Saez et al ins Spiel bringen, ist denkbar schlicht: Wenn «an uncoordinated tax competition equilibrium would be suboptimal in terms of social welfare» (oder wenn der Steuerwettbewerb, vor allem der leistungsfreie qua zwischenstaatlichem Bankgeheimnis, nicht rechtfertigungsfähig ist), so lasst uns doch zur «tax coordination» übergehen. Im Unterschied dazu hält Mankiw an der naturalistisch-partikularistischen Sicht fest: «the increasing globalization of capital markets» wird hier als constraint gefasst, aus dem folge, dass jede (!) Kapitalbesteuerung als «suboptimal» (bzw. als «kontraproduktiv») zu beurteilen wäre, da mit ihr «highly elastic responses of capital flows» verbunden wären. Hier wird die Marktmacht und die ruchlose Zusammenarbeit zwischen Steuerhinterziehern und Steueroasen einfach als Faktum hingenommen und damit unter der Hand legitimiert.

Saez, Piketty und Mitstreitern sind einige Coups gelungen. Ob sie die utilitaristisch-ökonomistischen und teilweise gar paretianisch-ökonomistischen Argumentationsmuster, auf deren Basis sie schreiben (und rechnen!), aus innerer Überzeugung teilen oder nur benutzen, um mit ihren verteilungskritischen Botschaften in die Journals zu kommen (dann: bei erheblichem Aufwand der, wie man im ökonomi- schen Jargon sagt, «Humankapitalinvestition»), vermag ich nicht zu beurteilen. Paradigmatische Offenheit würde darin bestehen, diese Grundmuster zu thematisieren, also die eigentlichen (übrigens durch und durch normativen) Grundlagen der Disziplin selbst. Davon ist bislang kaum etwas zu spüren. Die allermeisten der Reaktionen auf das Memorandum von Seiten etablierter Ökonomen bestätigen dies.