07. Mai 2012
Das integrativ-ethische Paradigma der Thematisierung des Wirtschaftens

Ulrich Thielemann
Kategorie: Orientierungen

Wirtschaftssoziologie und Ökonomik

 

Kürzlich las ich in irgendeinem Online-Kommentar zu einem der vielen Beiträge zur Krise der Ökonomik: Was unterscheidet die (heute ja beinahe definitionsgemäß) marktgläubige bzw. ökonomistische Ökonomik eigentlich von Wirtschaftssoziologie? Brauchen wir eigentlich eine Ökonomik? Ist Ökonomik nicht eigentlich eine Wirtschaftssoziologie – denn das immer schon arbeitsteilige Wirtschaften spielt sich zwischen den Menschen, in der Gesellschaft ab –, nur eben eine, die sich, derzeit jedenfalls, dem Marktprinzip verschrieben hat?

Eine interessante Frage. Die mir Anlass ist, Integrative Wirtschaftsethik als neues Paradigma der Thematisierung des Wirtschaftens (nennen wir es doch einfach so), wie ich es vertretene, knapp zu skizzieren.

Ich verstehe Wirtschaftsethik nicht, wie gemeinhin üblich, als «Anwendung» vorbestimmter Normen auf den als gegeben hingenommenen Gesellschaftsbereich «Wirtschaft», sondern als ethisch-kritische Durchdringung des Interaktionsfeldes Wirtschaft in seiner gesellschaftskulturellen und institutionellen Situierung und ggf. seiner systemischen Entsituierung, d.h. seiner eigenlogischen Verselbstständigung von gesellschaftlichen Sinnbezügen und Legitimitätsansprüchen. Es geht dabei stets um die Frage, in welcher besonderen, möglicherweise problematischen Weise sich die wirtschaftenden Akteure, die Beteiligten und die Betroffenen des marktwirtschaftlich-wettbewerblichen Interaktionsnexus, ins Verhältnis setzen oder je nachdem ins Verhältnis gesetzt werden.

Dies lässt sich als eine genuin wirtschaftssoziologische Fragestellung begreifen, die sich gegen zwei m.E. nicht haltbare Paradigmen der wissenschaftlichen Thematisierung des Wirtschaftens abgrenzt: zum einen gegen eine positivistische Thematisierung, die sich entweder ihrer eigenen Normativität nicht bewusst ist oder auf Sozialtechnologie hinausläuft («Erklärung zwecks Gestaltung»; vgl. auch Streeck, S. 15); zum anderen gegen eine ökonomistische Thematisierung, die eine ethisch unhaltbare Position vertritt, nämlich die, das wettbewerbliche Marktgeschehen in seiner marktwettbewerblichen Eigenlogik, mithin das Prinzip Markt, zum Moralprinzip zu erheben. Dies entspricht im Kern der Konzeptualisierung des Gegenstandes, wie sie sich beinahe flächendeckend in den «neoklassisch» (letztlich: ökonomistisch) geprägten Wirtschaftswissenschaften etabliert und festgesetzt hat.

Vorausgesetzt ist dabei, dass die Thematisierung des Wirtschaftens unausweichlich normativ ist: «Ökonomie [Ökonomik] ist Ethik», und die Frage besteht lediglich darin, ob diese Normativität ethisch-diszipliniert abgearbeitet wird oder nicht. Dieses Programm einer ethisch-reflexiven Wirtschaftssoziologie basiert auf der Einsicht, dass es in sozialwissenschaftlicher Forschung niemals um gleichsam «nackte Wahrheiten» darüber gehen kann, was der Fall ist (positivistischer Reflexionsstopp der eigenen Normativität), sondern es stets darum gehen muss, was ethisch «der Fall» ist. Die «Beschäftigung» mit dem sozialwissenschaftlichen Gegenstand – des Wirtschaftens bzw. der Wirtschaft in der Gesellschaft – oder seine «Analyse», wie oftmals formuliert wird, erfolgt stets unter normativ bestimmten «erkenntnisleitenden Gesichtspunkten» oder «Wertideen» (Weber), und zwar elementar betrachtet: von Gesichtspunkten der Legitimität und Sinnhaftigkeit. Die Beschäftigung mit dem Gegenstand ist überhaupt nur mit Blick auf dessen normativ bestimmter «Kulturbedeutung» (Max Weber) interessant.

Diese Sicht scheint sich derzeit auch in der disziplinären (Wirtschafts-)Soziologie breit zu machen (vgl. etwa hier, S. 87 ff., 205 ff.). Dies nicht nur aus methodologischen Gründen, sondern auch, weil der Bedarf an kritischer Theorie in Zeiten der allumfassender Ökonomisierung der Lebensverhältnisse und der ökonomistischen Formierung oder, je nachdem, der Deformierung des Individuums offenkundig geworden ist, Kritik aber auf Kriterien bzw. Orientierungsmaßstäbe angewiesen ist (die dezidiert nicht als Messkriterien zu fassen sind). Dabei geht es darum, «den Kapitalismus an seiner ethischen Wurzel packen» (Rosa, Op. cit., S. 125), bzw. diese «ethischen Wurzeln» in ihrer möglichen Problematik überhaupt zu Tage zu fördern.

Dazu muss eine explizit ethisch-kritisch ausgerichtete Wirtschaftssoziologie nicht etwa, wie voluntaristische Opponenten wie Proponenten einer vermeintlichen Wertfreiheit der Sozialwissenschaften voraussetzen, willkürlich konstruierte normative Maßstäbe von außen an den Gegenstand herantragen. Vielmehr ist an den vorfindlichen, ausdrücklichen oder stillschweigenden Legitimitätsansprüchen ökonomischer Theoriebildung anzuknüpfen, einschließlich der Alltagstheorien und der das Handeln (und Unterlassen) der Akteure leitenden Praxistheorien, um diese kritisch auf ihre Einlösbarkeit hin zu untersuchen, worin die Verkürzung der Problemwahrnehmung einzuschließen ist. Hierzu bedarf es der ethisch-kritischen Anstrengung des Begriffs bzw. der Begriffe, in denen der Gegenstand, die Wirtschaft, bekanntlich erst als dieses und nicht als jenes normativ bedeutsam gefasst wird – etwa als Ausdruck von individueller und politischer «Freiheit», allgemeiner (statt bloß individueller) «Effizienz» bzw. allgemeinen Wohls, der Leistungsgerechtigkeit, der «Diskriminierungsfreiheit» (hier S. 405 ff.), der Konformität des an Gewinnmaximierung orientierten Verhaltens von Unternehmen mit Legitimität an und für sich (sog. «Business Case»). Diese Begriffsarbeit, das kritische Erschließen des Gegenstandes in seinen ethisch neuralgischen Dimensionen, hat dabei letztlich den aufklärerischen den Sinn, die Urteilskraft der Akteure (oder politisch gewendet: der Bürger) durch Werterhellung zu stärken – und nicht etwa durch Wertentscheidungen zu erübrigen.

Eine solche begriffskritische Erschließung des Wirtschaftens als eines durchaus auch systemisch (statt lebensweltlich) eigendynamischen Prozesses (der «schöpferischen Zerstörung») lässt eine normative Leitidee sich herausschälen, der eine übergreifende Orientierungskraft zukommt: die der «Einbettung» der Ökonomie in gesellschaftliche Wertbezüge der Sinnhaftigkeit, des guten Lebens und des gerechten Zusammenlebens. Diese Einbettung ist einerseits als (welt-)ordnungspolitische Aufgabe zu begreifen, muss aber vor allem auch organisationssoziologisch ausgeleuchtet werden, und sie kann hierbei an die gegenwärtigen Entwicklungen hin zu einer «Moralisierung der Märkte» (Nico Stehr), des Sozialunternehmertums und der neuen ethischen Eigendynamik im Zusammenspiel zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren und Unternehmen anknüpfen.

Der übergreifende Sinn einer solcher Art verstandenen, ethisch-kritischen Wirtschafts- und Organisationssoziologie ist der, das Interaktionsfeld Wirtschaft im Ganzen und in seinen je verschiedenen, ethisch neuralgischen Dimensionen besser beurteilbar zu machen. Sie exponiert sich dabei innerwissenschaftlich und durchaus auch politisch-öffentlich, dem Grundsatz Werterhellung vor Wertentscheidung treu bleibend, indem sie zu begründen beansprucht, dass und warum im Einzelnen genau eine der Einbettung entgegenstehende Totalisierung des Marktes (S. 65 ff.) ethisch zurückzuweisen ist.