01. November 2011
Das Ende der Staatsverschuldung

Ulrich Thielemann
Kategorie: Kapital, Steuergerechtigkeit

Die seit Monaten anhaltenden Bemühungen, «die Märkte» (gemeint ist das Kapital) zu beruhigen, ihr «Vertrauen» wieder herzustellen, sind – vorerst – geglückt. «In Frankfurt, London und Paris jubeln Investoren über die Euro-Rettung.» Die Botschaft ans Kapital lautet: Wir Nicht-Rentiers werden Euch die Renditen, die ihr auf die von Euch gehaltenen Staatsanleihen erwartet, verschaffen. Wir werden weiter wachsen. Wir werden unsere «Wettbewerbsfähigkeit» erhöhen.

Tatsächlich sieht Bundeskanzlerin Angela Merkel die «Ursachen der aktuellen Probleme», die «entschlossen an der Wurzel» zu packen seien, in einer «übermäßigen Staatsverschuldung und der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit einzelner Staaten». Damit ist selbstredend nicht Deutschland gemeint, denn Deutschland hat seine «Rosskur» bereits durchlaufen, was regierungsseitig als «Fortschritte für Deutschland» gefeiert wird. («Fortschritte» für wen und für wen nicht eigentlich? Dies zeigt beispielsweise Christoph Butterwegge auf. Denn schließlich besteht Deutschland wie jedes Land aus Individuen, die unterschiedliche Interessen und unterschiedliche Marktmachtpositionen haben.)

Das «Geschäftsmodell» Euro

«Gerettet» werden müssen (vorerst) nicht Deutschland, sondern Griechenland und weitere sogenannte PIIGS-Staaten (genauer: deren Gläubiger), weniger aus Solidarität denn aus Eigeninteresse. Denn wenn man es nicht tut, so ergäben sich «Ansteckungseffekte», wobei deren Wirkungsweise einigermaßen rätselhaft bleibt. Damit wäre auch Deutschland (wer auch immer genau dort) und damit das Geschäftsmodell Euro gefährdet. Dieses besteht unter anderem darin, dass sich der «Exportweltmeister» Deutschland vor einer Aufwertung seiner Währung schützt, indem er sich hinter den PIIGS-Staaten versteckt. Diese haben in der Folge massenhaft Waren und Dienstleistungen aus Deutschland und anderen Nordstaaten gekauft, konnten dies aber nur auf Pump finanzieren. Diese faktische «Transferunion» (versprochene Finanztransfers von Süden nach Norden) wird mit den Milliarden messenden Bürgschaften nun sozusagen erfüllt, indem die «explodierenden Unternehmensgewinne» (Werner Vontobel) nun indirekt vom deutschen Steuerzahler beglichen oder jedenfalls verbürgt werden. Dies wird «Euro-Rettung» genannt, und diese «lohnt sich für Deutschland» nur unter der Annahme, dass diese Konstellation erstens hinzunehmen sei (und damit den Ausgangspunkt für Pareto-Verbesserungen [S. 207 ff.] markiert) und sie zweitens Abhängigkeiten geschaffen hat (schließlich wurde nicht nur zum Kapital, sondern auch zu den Beschäftigten Deutschlands «transferiert», allerdings vorerst auf Pump; Arbeitsplätze könnten also ohne Rettung gefährdet sein). Und diese «staatliche Exportfinanzierung» (Werner Vontobel) lohnt sich vor allem für die, die diese Unternehmensgewinne beziehen (und nicht etwa einfach «für Deutschland»; kritisch zu einem solchen National-Utilitarismus grundlegend hier, S. 300 ff.).

Doch schon allein darum, weil die Größenordnungen (S. 12 f.) dieser Exporte Deutschlands an die «Problemländer» eher bescheiden ausfallen, UND weil die «Wettbewerbsfähigkeit», die nun auch Griechenland et al gewinnen soll, ein relationales Konzept ist (des einen Wettbewerbsstärke ist des anderen Wettbewerbsschwäche [Nachtrag 1.12.11: Dies sieht Heiner Flassbeck ganz genau so.]), besteht das Geschäftsmodell Euro, das zu «retten» sei, letztlich in etwas anderem. Nämlich darin, dass sich nicht nur Deutschland, sondern überhaupt alle EU-Staaten im Weltwirtschaftskrieg um globale Marktanteile und um die Gunst des global vagabundierenden Kapitals besser positionieren sollen. «Mehr Europa» – und damit ist gemeint: mehr marktkonformes Europa – sei notwendig, weil alles andere ein «Rückfall» wäre, der «die Europäer im weltweiten Wettbewerb mit Amerika, mehr noch aber mit China und bald wohl auch Indien, schwächen würde.» Dies bedeutet: Mehr Austeritätspolitik, «Übertragung von nationalen Souveränitätsrechten an die Europäische Union, damit diese beispielsweise staatliche Ausgabenkürzungen durchsetzen kann» (Allianz Chef-Volkswirt Michael Heise, vgl. auch hier). «Für die Menschen in Europa heißt das: Die Zeiten werden härter.» (Stephan Kaufmann in der Berliner Zeitung vom 28.10.11) Es bedeutet «Agenda 2010 für die ganze EU»: «Mehr Arbeit, weniger Lohn, weniger Urlaub, weniger Rente.» Und wer soll das, was dann zusätzlich produziert wird, zahlen? Wenn etwa Griechenland sparen soll, so bedeutet dies, es soll weniger im Inland konsumiert werden. Gleiches gilt für alle anderen EU-Staaten. Folglich geht «die Rechnung für die Gläubiger», die Euro-Rettung genannt wird, «erst dann auf, wenn die frei gewordenen griechischen Kapazitäten in der Exportindustrie eingesetzt würden.» Exporte wohin? Nach China, die USA, nach Deutschland? Schwierig bei stagnierenden Löhnen (in Deutschland) oder grassierender Arbeitslosigkeit (in den USA). Oder vielleicht an «die Gläubiger», wo immer sie sitzen, die ja nun ihre Kapitaleinkommen nicht vollständig reinvestieren, um sie noch weiter zu steigern, sondern vielleicht Teile davon auch verkonsumieren möchten. Schließung von Wertschöpfungsketten durch Wertvernichtung im Luxuskonsum wäre dann das Modell. Das ist das Modell Dubai (S. 49), das man vielleicht auch Modell Las Vegas oder Modell Plutonomy-Baskets nennen könnte.

The Bigger Picture

Nicht nur diese keynesianisch geprägten Einwände geben Anlass zu der Frage: Kann und wird die «Rettung» des Euro-Geschäftsmodells gelingen? Natürlich ist übergreifend zu fragen: Soll sie gelingen? Ist es der richtige Weg der Politik? Doch fragen wir zunächst nach den empirischen Zusammenhängen, um besser zu klären, was da ethisch auf dem Spiel steht und was ethisch zu klären ist.

Zwar hat sich bekanntermaßen nun auch das Kapital an der «Rettung» beteiligen müssen. Einerseits durch «freiwillige» Akzeptanz eines Schuldenschnitts von 50% auf die griechischen Staatsanleihen (was etwa 100 Mrd. Euro entspricht, wobei sich fragen lässt, wie substantiell diese Gläubigerbeteiligung ist, insbesondere angesichts des Umstandes, dass die Titel ja am Markt mit weit höheren Abschlägen gehandelt werden, woraus sich erklären mag, dass Josef Ackermann hier von einem «befriedigenden Kompromiss» spricht; auch tricksen die Banker wieder; ebenfalls ist hervorzuheben, dass davon nur ein geringer Teil zur Entlastung Griechenlands führen dürfte). Andererseits durch eine Zwangsrekapitalisierung, d.h. die sukzessive Erhöhung des Eigenkapitals der Banken auf 9%, was unter anderem durch die Einbehaltung von Dividenden und die Streichung von Boni zu erreichen ist.

Das sind gute Nachrichten, aus Gründen der Haftungsgerechtigkeit (die Gläubiger sind in der Pflicht, sich ihre Schuldner genauer anzuschauen und sollen «Risiken» nicht vergemeinschaften können, worin man von mir aus auch eine «ökonomische Sicht» erblicken mag) und aus Gründen einer Verringerung der Renditelasten zugunsten des Kapitals (dazu sogleich mehr). Doch werden dadurch die Bürgschaften und Garantien, zu denen sich Deutschland (und andere Nicht-«Problemländer») verpflichtet haben, nur leicht abgemildert. Deren Größenordnungen sind nach wie vor schwer vorstellbar und bilden eines der Grundmotive der Occupy-Bewegung: Da werden Milliarden zur «Rettung» «der Banken» verpulvert, aber bei elementaren Sozialleistungen für Normalbürger, die ständig «den Gürtel enger schnallen» sollen, wird um jeden Euro gefeilscht. Die 211 Mrd. Euro für den EFSF entsprechen zwei Dritteln (66%) eines Bundeshaushalts oder 8,5% des BIP. Hinzu kommen weitere Zahlungsverpflichtungen im Zuge der «Rettung» des Euro-Geschäftsmodells, die sich diesen Berechnungen zufolge für Deutschland auf mehr als 500 Mrd. Euro belaufen. Dies entspricht 1,56 Bundeshaushalten oder 20% des BIP Deutschlands. Dass diese 211 Mrd. Euro fällig werden, wird mit der «Hebelung» qua staatlich gewährten Versicherung nur der ersten 20%-Tranche der neu auszugebenenden Staatsanleihen schlicht wahrscheinlicher. Denn dadurch sollen die PIIGS Staaten wieder «an den Markt kommen» (Angela Merkel). Denn dadurch steigt ja das Potential für Staatsverschuldungen und damit das Risiko, dass die Staaten ihre Schulden nicht mehr werden bedienen können.  

Die Hoffnung, die all die derzeitigen politischen Bemühungen begleiten, lässt sich so zusammenfassen: Wir bürgen was das Zeug hält. Sei es über die Verpfändung von Staatshaushalten bzw. von Steuereinnahmen oder, wie Keynesianer in sozusagen unüberbietbarer Weise vorschlagen, dadurch, dass die EZB unbegrenzt bürgt, also im Zweifel die Notenpresse anwirft, was als «nukleare Option» bezeichnet wird. Doch was, wenn dies alles nichts hilft, weil sowohl die PIIGS Staaten als auch die EU-Bürgschaftsstaaten darin überfordert sind, dem Kapital die Renditen zu verschaffen, die es erwartet und auf die es «vertrauen» soll. Man darf ja nicht vergessen, dass diese Renditen nicht irgendwo im Nirwana oder in den Modellen von Ökonomen entstehen, sondern erarbeitet werden müssen («Geld arbeitet nicht»). Erste Anzeichen dafür gibt es. So stiegen kürzlich die Versicherungsprämien für den Ausfall deutscher Staatspapiere. Offenbar zweifeln «die Märkte» daran, dass Deutschland die Lasten, die es von den PIIGS Staaten sozusagen (qua Risiko-Transfer) übernommen hat, wird tragen können, womit «der Schaden für die deutsche Kreditwürdigkeit ... bereits jetzt unverkennbar» werde. Als ginge es nur darum. Könnten es sein, dass die Ratingagenturen diesmal richtig beurteilen, wenn sie die Kreditwürdigkeit der Schuldner bzw. nun: der Staaten herabstufen, weil «Regierungen Staaten retten, Banken sichern und das verloren gegangene Vertrauen in ihre Finanzkraft zurückkaufen» wollen «mit Geld, das sie nicht haben» bzw. das zu erwirtschaften sie überfordert? Und besteht die «Ansteckung» vielleicht darin, dass die Akteure des Kapitalmarktes diese Überforderung erkennen?

Der schlafende Riese wurde geweckt

Mit dem Platzen der Subprime-Blase (vorher bereits mit der Dotcom-Blase), die sofort mit Bürgschaften zu schließen versucht wurde, ist ein schlafender Riese geweckt worden. Es ist der Riese, der aus einer jahrzehntelangen Politik der «Hofierung» des Kapitals entstand. Er zeigt sich nicht nur in den überproportionalen Einkommenszuwächsen der «super rich», die ihre Privatvermögen zwischen 2000 und Mitte dieses Jahres um 117 auf 231 Billionen Dollar (167 Billionen Euro) steigern konnten, nicht etwa «ungeachtet der Finanz- und Wirtschaftskrise», sondern gerade auch wegen dieser, wegen all der Bürgschaften (die vorher im Euro-Geschäftsmodell verborgen lagen) und all der kreditfinanzierten «Konjunkturprogramme». Es zeigt sich vor allem in der überproportional angewachsenen Weltkapitalquote. Wuchs das Weltsozialprodukt seit 1980 um den Faktor 6,3, so stieg der Gesamtbestand der nominellen Kapitalvermögen (Derivate ausgenommen) um den Faktor 17,7. Wer soll dies alles erwirtschaften? Wer soll all diese Kredite zurückzahlen bzw. all diese Wertpapiere bedienen?

Natürlich ist die sog. «Euro-Krise» in diesem Zusammenhang zu sehen. Zwar ist Heiner Flassbeck, der dies anders sieht, darin Recht zu geben, dass die Käufer der Staatsanleihen sich jahrelang mit eher tiefen Zinsen zufrieden gegeben haben und insofern nicht zu den ‚Zockern‘ gehören. (Man muss allerdings auch fragen: Warum haben sie dies getan? Vermutlich, weil die AAA-Staatsanleihen das ultimative Collateral bilden bzw. bildeten, um all die Spekulationsgeschäfte abzusichern). Hinzuzufügen wäre, dass die Staatsanleihen unmittelbar nicht dem Blasenkapitalismus (S. 199 ff.) zuzurechnen sind. Es ist allerdings absurd anzunehmen, dass «die Käufer von Staatsanleihen nichts mit der Finanzkrise zu tun» hätten, wie Flassbeck meint. Und mindestens schief ist auch die Auffassung «diese Krise» hätten «die Banken» bzw. das Kapital «nicht verursacht».

Warum wuchs eigentlich die Staatsverschuldung?

Warum haben sich die Staaten eigentlich in wachsendem Ausmaß verschuldet? Warum haben sie den öffentlichen Ausgabenbedarf (über dessen Höhe und Verwendung sich streiten lässt) nicht, wie es sich gehört, über Steuern und allenfalls Abgaben, sondern über Kredite finanziert? Dies ist doch die eigentliche Frage. Im Falle Griechenlands (und weiterer PIIGS Staaten) lautet die Antwort: Weil sich nicht nur Deutschland hinter Griechenland (mit Blick auf die Währung), sondern auch Griechenland hinter Deutschland versteckt hat. Mit der Einführung des Euro musste das Land nicht mehr 16%, sondern nur noch 4% an Zinsen für zehnjährige Staatsanleihen berappen. Diesem Anreiz ist das Land ja dann auch erlegen und hat sich zu kostengünstigen Bedingungen massiv verschuldet. [Nachtrag 5.12.2011: Die Schuldenquote hat sich allerdings im Euro-Raum seit Einführung des Euro 1998, trotz höchst attraktiver Zinsen, nur unwesentlich erhöht, dies gilt auch für Griechenland; in Italien und Spanien ist sie gesunken.] (Die Unfähigkeit des Landes, insbesondere «den besser verdienenden Schichten einen angemessenen Beitrag zur Finanzierung der Staatsausgaben abzuknöpfen», ist atemberaubend und zumindest von außen nicht nachvollziehbar.) Offenbar gingen die Investoren unter anderem davon aus, dass starke Volkswirtschaften wie Deutschland im zu erwartenden Notfall für Griechenland aufkommen würden. Insofern ging das Kalkül erst mit der «Euro-Rettung» auf (wobei dieses Kalkül für den Winzling Griechenland allerdings eher nicht aufging).

Der Zusammenhang zwischen Staatsverschuldung und Weltfinanzkrise bzw. der massiv gewachsenen Macht des Kapitals besteht zweites darin, dass das Spekulationskapital in Folge der Finanzmarktkrise die Staaten erfolgreich in Geiselhaft nehmen und bei ihnen die «Schrottpapiere» gegen Cash deponieren konnte, was einer Vergemeinschaftung von Verlusten entspricht. Zudem sahen sich die Staaten zu zahlreichen schuldenfinanzierten Konjunkturprogrammen gezwungen. Diese Zusammenhänge kann man etwa bei keynesianisch geprägten Ökonomen wie Peter Bofinger, Gustav Horn oder Ulrich Fritsche, im ATTAC Manifest zur Krise des Euro oder in einem sehr guten Beitrag  von Norbert Häring (Handelsblatt) nachlesen. Das Ergebnis graphisch hier. Lag die Gesamtverschuldung aller Staaten dieser Welt im Jahre 2008 bei 55% des Weltsozialproduktes, so stieg sie in Folge der Finanzkrise auf heute 69%. Dies bedeutet: immer größere Anteile der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung müssen – über Steuerzahlungen der noch greifbaren Steuerzahler, d.h. vor allem: der Beschäftigten, soweit sie als Nicht-Niedriglohnempfänger noch herangezogen werden können – qua Schuldendienst dem Kapital zugeführt werden. Juchu, wir arbeiten, wir überarbeiten uns für’s Kapital!

Doch auch bereits zuvor ist die Staatsverschuldung gestiegen. In Deutschland etwa stieg die Schuldenstandsquote von 30% im Jahre 1980 auf 66% im Jahre 2008 (und dann erneut auf 82% heute). Warum ist dies so? Zum einen dürfte der öffentliche Ausgabenbedarf entwickelter Volkswirtschaften steigen, jedenfalls mit guten Gründen vergleichsweise hoch liegen – bei etwa 40-50%. Dies hat etwa demographische Gründe (alternde Gesellschaften) – und vor allem Gründe der Gewährleistung der Fairness der Wohlstandsverteilung, die der «freie» Markt schon lange nicht mehr leistungsgerecht herstellt (und vermutlich noch nie hergestellt hat). Doch statt die Staatsausgaben, die vor der Krise übrigens durch zahlreiche Austeritätsprogramme («Agenda 2010») gesunken sind, durch Steuern (und Abgaben) zu finanzieren, haben sich die Staaten weiter vom Kapital abhängig gemacht (durch Ausgabe von Staatsanleihen), was sich daran zeigt, dass die Abgabenquote (Steuern und Abgaben der Bürger an den Staat) um etwa 10% unter der Staats(ausgaben)quote liegt. Statt das Kapital, dem wachsende Anteile der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung zufließen, angemessen zu besteuern (vgl. etwa hier und hier), hat man sich bei ihm verschuldet. Die Folge ist, dass man zum Wachstum verdammt ist, um den Schuldendienst zu leisten.

Kapitalmarktgläubigkeit überall

Die tieferen Ursachen der wachsenden Staatsverschuldung (man feiert ja bereits als Erfolg, wenn der Zuwachs des Verschuldungsgrades, die sog. Nettokreditaufnahme, sinkt) liegen also in der unermesslich gewachsenen Macht des Kapitals als dem de facto «Prinzipal» dieser Welt einerseits (jeder Regulierungs- und Besteuerungsversuch wird mit der Abwanderungsdrohung pariert). Und sie liegt in der weithin grassierenden Kapitalmarktgläubigkeit, durch die diese Macht nicht etwa begrenzt, sondern weiter verstärkt wird. Beides mündet in der «Hofierung» des Kapitals.

In einem bemerkenswerten Beitrag hat Michael Sauga die Krise – die Weltfinanzkrise – auf zwei doktrinäre Wurzeln zurückgeführt: Auf den «Turbokapitalismus, nach dessen einziger Regel jede Regulierung der Finanzmärkte das Wachstum hemmt, und auf dessen gefälligerem, aber nicht weniger gefährlichen Bruder: den Turbo-Keynesianismus.»

Es ist in der Tat erstaunlich. Die Keynesianer führen diese Krise in zutreffender Weise auf die massiv angewachsenen Ungleichgewichte in der Verteilung der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung zurück, die sich weit überproportional zugunsten des Kapitals und zulasten von Arbeit und Konsum vollzog, indem sie immer wieder hartnäckig die Frage stellen: Wer soll das alles bezahlen? Wer soll all die Produkte und Dienstleistungen kaufen können, wenn das hofierte Kapital zwar Arbeitsplätze schafft, aber nur, wenn es den Lohn drücken darf? Werner Vontobel: «Solange der Unternehmenssektor so tiefe Löhne bezahlt, dass die Kundschaft die produzierte Ware nicht oder nur auf Pump kaufen kann, bleibt der Kapitalismus in der Schuldenfalle gefangen.» George Magnus (man höre und staune: ehemaliger Chefökonom der UBS): «Diese Krise ist anders als alle Krisen seit 1945. Wir haben eine wachsende Ungleichheit bei den Einkommen. Solange die Löhne stagnieren oder gar abnehmen, nützt es nichts, wenn unsere Wirtschaft riesige Kapazitäten hat, um Güter und Dienstleistungen bereitzustellen. Viel zu wenig Menschen können sie heute noch kaufen. So gesehen befindet sich der Kapitalismus tatsächlich in einer Krise.» (Vgl. auch Heiner Flassbeck oder Peter Bofinger.)

«Turbo-Keynesianismus»

Aber was schlagen die Keynesianer vor, um dieser Unterkonsumptionskrise zu entkommen. Sicher, sie fordern sinnvolle Dinge wie die Rückkehr zu einer angemessenen, mindestens gleichmäßigen (statt privilegierenden) Besteuerung des Kapitals und die Einführung von Mindestlöhnen. Aber dies ist nicht unbedingt der Kern ihrer Antwort. Sie fordern nämlich vor allem: Mehr desselben! Die Überschuldung muss durch noch weiter gehende Verschuldungsorgien aufgefangen werden. Und dabei gilt die Losung: Bürgen, Bürgen, Bürgen. So fordert Paul Krugman allen Ernstes eine Erhöhung der Staatsverschuldung: «Wir brauchen jetzt mehr Regierungsausgaben.» Und dabei ist es einigermaßen egal, wofür diese zu verwenden sind. Hauptsache viel und billig, d.h. zu möglichst günstigen Zinssätzen, weshalb die Niedrigzinspolitik [die uns doch ins Desaster geführt hat] fortzuführen sei. 50 Billionen Dollar globaler Staatsverschuldung (das ist fast ein Welt-BIP), 87,7% in der Eurozone oder 6400 Euro pro Kopf (für Deutschland) reichen noch nicht. Es bedürfe nun eines «wirklich großangelegten Fonds in einem Umfang von mindestens einer Billion Euro.» Dieser erfordere die «unbedingte Unterstützung durch die Regierungen zumindest der großen europäischen Staaten» und damit die «glaubwürdige» Abgabe des «Versprechens an die Investoren» – die Käufer der Staatsanleihen – nämlich darüber, dass sie ihr Kapital verzinst und vereinbarungsgemäß zurück bekommen. Und die gegenwärtigen Schulden sind auch keineswegs abzubauen. Vielmehr seien, so Gustav Horn, «alle aktuell ausstehenden Staatsschulden zu garantieren». Die Keynesianer, obwohl sie innerhalb der Zunft der Ökonomen heute eine Minderheit von schätzungsweise 2 Prozent bilden dürften, geben eine implizite Rechtfertigung der Politik der Staatsverschuldung, wie sie sich tatsächlich vollzogen hat.

Heiner Flassbeck hält nichts von einem Haircut. Eine Gläubigerbeteiligung ist seiner Auffassung nach nichts als eine irrationale, gewissermaßen "moralisierende" Reaktion derjenigen, die «endlich die Schuldigen an der Finanzkrise zur Rechnung» bitten möchten. Vielmehr sei der Kauf von und der Handel mit Staatsanleihen die «einzige Art von vernünftigem Geschäft, das die Banken vor der Krise tätigten». Staatsschulden sind nach dieser keynesianisch geprägten Auffassung immer gut; jedenfalls solange noch irgendwo Unterbeschäftigung (Arbeitslosigkeit) herrscht (wofür der wettbewerbliche Markt ständig von selbst sorgt). Warum dieses Votum für die Staatsverschuldung seitens der Keynesianer? Es gibt darauf zwei Antworten, und beide münden, direkt oder indirekt, in Kapitalmarktgläubigkeit.

Die Keynesianer wollen einerseits Erleichterung vom Wettbewerbsdruck, der wesentlich vom Kapital auf die (selbständig und unselbständig) Beschäftigten, die real Wirtschaftenden, ausgeht. Denn der Mangel an Massenkaufkraft ist ja nur die Rückseite der wettbewerblichen «Zerstörung» von Beschäftigungen. In der Tat wirken die Konjunkturprogramme, überhaupt die vom Kapital gewährten Staatskredite, zunächst wie Konsum: Die Leute haben wieder (oder überhaupt erst) Geld in der Tasche. Es handelt sich aber um Investitionen. Denn die Investoren wollen ihr Geld irgendwann zurück haben. Und zwar verzinst. Also muss die Wirtschaft wachsen. Überdies wird das Geld ja in der Regel dauerhaft benötigt. Auch darum muss ein Extra an Wirtschaftsleistung dabei herausspringen. Und von diesem fordert das Kapital seinen Anteil. Man legt sich mit der Staatsverschuldung also Wachstumspflichten auf. Auf diesen Zusammenhang zwischen Staatsverschuldung und Wachstumszwang haben Konservative wie Kurt Biedenkopf oder Meinhard Miegel zu Recht hingewiesen.

Der Wettbewerbsdruck wird also durch die Staatsverschuldung nicht etwa gemindert, sondern nur in die Zukunft verlagert. Die Staatsverschuldung bietet nur eine trügerische, kurzfristige Erleichterung.

Dies alles ist für Keynesianer überhaupt kein Problem. Denn mit der Staatsverschuldung wird ja die Wirtschaft «angekurbelt» bzw. «die Konjunktur angeregt». Und dann fließt das Wachstum aus dem Staatsdefizit «wie der Strom aus der Steckdose». Wenn man es richtig anstellt, so George Soros unter (gerechtfertigter?) Berufung auf Keynes, so finanziert sich das Staatsdefizit «von allein.» Wobei gilt: Viel Pril hilft viel. Das 800 Milliarden Dollar messende «Stimulierungsprogramm» Präsident Obamas war, so Soros, einfach «nicht groß genug».

Der Irrsinn der Kapitalmarktgläubigkeit

Beide Seiten, die «Turbo-Keynesianer» ebenso wie die neoliberalen Befürworter des «Turbo-Kapitalismus» sind kapitalmarktgläubig. Kapitalmarktgläubigkeit heißt, nicht danach zu fragen, woher das Kapital seine Renditen bekommt bzw. wie das Kapital (die Verschuldung) die Wirtschaft für’s Wachstum «ankurbelt». Beiden gilt das Kapital als eine Art wertvolle Saat, die, nur an der richtigen Stelle ausgesät, ihr «segensreiches» Werk tut. Der beinahe einzige, jedenfalls der wesentliche Unterschied zwischen den keynesianischen Nachfrage- und neoklassischen Angebotspolitikern besteht darin, dass die Keynesianer annehmen, das Kapital würde seine Mittel «sparen» bzw. horten (sog. «Liquiditätsfalle»), also dem Wirtschaftskreislauf entziehen. Daher müsse der Staat in diese Investitionslücke einspringen, womit der Wachstumsdruck ins politische System verlagert wird (so muss etwa Bildung als Humankapitalbildung betrieben werden) und damit indirekt wirkt. Dies stört die Neoliberalen, weil so die «Marktdisziplin», der auch die Politik zu unterwerfen sei, außer Kraft gesetzt werde, weshalb verfassungsmäßige «Schuldenbremsen» einzuführen bzw. bestehende Schuldenbremsen zu verschärfen seien. Und wenn die Wirtschaft sich dann zur Plutonomy entwickelt, die Gesellschaft sich in Arme und Reiche spaltet – so sei’s drum. Wer unten ist, kann sich ja anstrengen... Die Neoliberalen plädieren für eine Verschärfung des Wettbewerbsdrucks durch’s Kapital unmittelbar, bzw. sie plädieren dafür, dem Druck des Wettbewerbs, der aus der «Schaffung von Arbeitsplätzen» qua «Hofierung» des Kapitals entsteht, freien Lauf zu lassen. Die Keynesianer mögen zwar normativ für eine Lockerung des Wettbewerbsdrucks plädieren. So, wie sie diese ins Werk setzen, nämlich über eine «wachstumsorientierte Politik» des billigen Kapitals, ist es aber nur eine vermeintliche Lockerung.

Wie das Kapital wirklich wirkt

Die «wohltuende Wirkung des Marktes», des Wettbewerbs und des Kapitals, das diesen wesentlich vorantreibt, ist «unter Ökonomen» – auch unter Keynesianern, mit den oben gegeben Einschränkungen – so gut wie «unbestritten», meint der Konstanzer Volkswirt Friedrich Breyer. Diese «wohltuenden Wirkungen» werde aber «im Rest der Bevölkerung eher skeptisch gesehen.» Warum ist dies so? Nun, die «Kosten» des Wachstums, die letztlich in der Münze der Ökonomisierung der Lebensverhältnisse anfallen, werden von den Menschen real erlebt und erlitten. Diese angeblich «wohltuenden Wirkungen» – gemeint ist das Wirtschaftswachstum – spielen sich nicht etwa in den Modellen der Ökonomen ab, sondern im realen Wirtschaftsleben, welches immer härter wird. (Der hervorragende Beitrag hierzu von Stefan Schmitz und Doris Schneyink aus dem Stern vom 22. Juni 2011 mit dem Titel «Deutschlands unheimliche Erfolgskurve» ist leider online nicht verfügbar.) Sie sind auch keine Sache technischer «Multiplikatoren», an denen sich ja nun ablesen lasse, dass «niedrige Zinsen» (und damit billige Investitionen) «ein starkes Wirtschaftswachstum begünstigen». Das Wachstum entsteht vielmehr aus dem Druck, den die Wettbewerbsfähigen und -willigen, alimentiert vom Kapital, auf den Rest der Bevölkerung ausüben. Und viele sind der «Rosskuren» (Hans-Werner Sinn) offenbar überdrüssig. Die Realwirtschaften – die Beschäftigten – sind einfach überfordert und halten dem Renditedruck nicht mehr stand. Es ist zu viel Kapital im Spiel. Darum muss es, soweit es als Blasenkapital zu klassieren ist, abgebaut bzw. entwertet werden – und der Rest ist wieder angemessen zu besteuern, womit das Kapital dem Konsum zugeführt und als Kapital, als «Peitsche» der Realwirtschaft, (partiell) vernichtet würde. Die Alternative ist, dass es zu immer weiteren Wertschöpfungssteigerungen zwingt – neoliberal direkt oder keynesianisch indirekt –, oder, da «Anlagenotstand» besteht, der nichts anderes als die Überforderung der realwirtschaftlichen Akteure markiert, dem Kapital seine Renditen zu verschaffen, es bildet Blasen, mit denen es, sobald diese zu platzen drohen, die Steuerzahler in Geiselhaft nimmt.

Den staatlichen Ausgabenbedarf über Steuern decken!

Die Staaten sind nicht in einer «Schuldenkrise». Wer den Begriff verwendet, legt damit sofort eine Austeritätspolitik nahe. Abbau der Schulden heißt dann: Geringere Staatsausgaben, weniger Entlastung des Wettbewerbsdrucks für die Bürger (dies betrifft vor allem die, die weder Rentiers noch «Agenten» des Kapitals sind oder sein wollen), eine noch steilere Einkommensverteilung. Die Staaten sind vielmehr in einer Einnahmenkrise. Diese Grafik stellt dies anschaulich am Beispiel der USA dar. Da gibt es 3,8 Billionen Dollar Staatsausgaben (was übrigens einer Staatsquote von 41,2% entspricht). 20% davon werden für Renten, 23% für Gesundheit, 24% für Verteidigung und Ausgaben für Veteranen und 33% für Sonstiges (Straßen, Schulen usw. – alles in erbärmlichen Zustand) verwendet. Die Einnahmen werden zu 53% aus Steuern, zu 37% aus Sozialabgaben und zu 10% aus sonstigen Einnahmen bestritten. Sie betragen 2,2 Billionen Dollar. Es klafft eine Lücke von 1,6 Billionen Dollar. Den Differenzbetrag muss sich der Staat vom Kapital borgen. Gegen Zins natürlich, verbunden mit Wachstumspflichten. Mehr davon wollen die Keynesianer.

Den staatlichen Ausgabenbedarf durch Schulden zu decken, dies ist der falsche Weg. Nicht nur, weil dieser Weg zum Wachstum zwingt, ohne dass geklärt würde, ob wir mehr Güter und Dienstleistungen wirklich brauchen und ob sich der Wettbewerbsstress überhaupt noch lohnt (von den ökologischen Folgen ganz zu schweigen). Auch und vor allem ist es ein unwürdiger Weg. Die Demokratien geraten dadurch nur noch mehr in die Abhängigkeit vom Kapital. Am Ende darf man noch nicht einmal mehr frei debattieren, weil dies «die Märkte» (= das Kapital) verschrecken könnte. Darum muss der Grundsatz gelten: Der staatliche, demokratisch in freier Deliberation zu bestimmende staatliche Ausgabenbedarf ist über Steuern (und über Abgaben) zu finanzieren. Und zwar vor allem über eine mindestens gleichmäßige Besteuerung des Kapitals, das seit der «neoliberalen» Wende vor dreißig Jahren steuerlich privilegiert wurde, und zwar auch noch, obwohl ihm immer größere Wertschöpfungsanteile zufließen. In der Nachkriegszeit – der Zeit breiten Massenwohlstandes – lag der Grenzsteuersatz in den USA noch bei 70% des (Kapital-)Einkommens. Heute liegt er bei 28%.

Kann dies funktionieren? Die schlichte Antwort ist: ja. Denn auch heute wird der über Staatsdefizite finanzierte Ausgabenbedarf ja vom Kapital getragen. Das Geld ist also da. Und auch Vermögende wie Warren Buffett in den USA oder die Initianten einer Vermögensabgabe in Deutschland plädieren dafür: Besteuert uns endlich angemessen. Beendet die «Hofierung» des Kapitals. Es würde eine Welle der Erleichterung durch die Gesellschaften strömen.