Das Ende der Demokratie
Ulrich Thielemann
Kategorie: Kapital, Freiheit
Vor gut 15 Jahren verkündete der damalige Präsident der Deutschen Bundesbank, Hans Tietmeyer, im erlauchten Kreise des Weltwirtschaftsforums Davos das Ende der Volkssouveränität. Er habe »bisweilen den Eindruck, dass sich die meisten Politiker immer noch nicht darüber im Klaren sind, wie sehr sie bereits heute unter der Kontrolle der Finanzmärkte stehen und sogar von diesen beherrscht werden.« Das offenbar mehrheitlich am Ökonomismus erkrankte oder von diesem profitierende Publikum quittierte die Aussage im eher stillen Kreise des Weltwirtschaftsforums mit lang anhaltenden Beifall.
Anderthalb Dekaden der Hinnahme der »Disziplinierung der nationalen Wirtschaftspolitik durch die internationale Kapitalmobilität« (Horst Siebert), der korrespondierenden »Hofierung« (Hans-Werner Sinn) des Kapitals und ein paar Finanzkrisen weiter zeigt sich, dass Tietmeyer immer noch recht hat.
Als Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler, zugleich FDP-Vorsitzender, meinte, mit Blick auf Griechenland dürfe es keine »Denkverbote« geben und auch »die Möglichkeit einer geordneten Staateninsolvenz« sei zu prüfen, wurde er mit einem Sprechverbot zu belegen versucht.
- Finanzminister Wolfgang Schäuble reagierte sofort. Er sei »strikt dagegen, dass über eine Insolvenz öffentlich diskutiert wird«, denn dies könne zu »unkontrollierbaren Reaktionen auf den Finanzmärkten« führen. »Die Märkte« dürften, so Schäuble ein paar Tage zuvor, »keine Zweifel an der Handlungsfähigkeit Europas haben«, vor allem daran nicht, dass die Politik nach dem Gusto »der Märkte« richtig handelt.
- Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte Rösler auf, »seine Worte sehr vorsichtig abzuwägen«. Wer dies nicht tue, also, wie Rösler antwortete, sage, was er »für richtig hält«, sorge für »Unruhe auf den Finanzmärkten«, was offenbar unter allem Umständen zu vermeiden sei.
- Auch CDU/CSU Fraktionschef Volker Kauder warnte davor, »die Märkte noch weiter verunsichern«.
- Die Opposition nutzte die Gelegenheit, um das, was gemeinhin »Wirtschaftskompetenz« genannt wird, zu markieren. Röslers Äußerungen seien, so der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Jürgen Trittin, »amateurhaft« und zeigten, dass da ein »Praktikant im Wirtschaftsministerium« sitze. »Die Börsen reagieren.« – Auch nur schon auf Meinungsbeiträge, die ein Minister und Parteivorsitzender in den politischen Diskurs einspeist.
- Ins gleiche Horn blies der SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier: Als größte Volkswirtschaft Europas trügen die Mitglieder der deutschen Regierung eine »besondere Verantwortung«, nämlich die, keine »Sätze« zu sagen, die »die Finanzmärkte gefährlich ins Rutschen« bringen und deren »Vertrauen« untergraben könnten.
Schöner hätten sich Huldiger des »freien« Marktes, vor allem der »freien« Bewegung des Kapitals, die »Disziplinierung« der Politik durch »die Märkte« (was gemeinhin heißt: durchs Kapital) nicht vorstellen können. Man darf noch nicht einmal mehr frei sprechen, wie gut oder wie schlecht die Argumente, die man dabei vorbringt, auch immer sein mögen. Was gute und was schlechte Argumente sind, das wird nicht mehr autonom nach Vernunftmaßstäben bestimmt, sondern durch »die Märkte«. Es lässt sich kein Verlust an politischer Souveränität, an Volkssouveränität, denken, der weitreichender wäre. Dies gerade, weil er so unmerklich geschieht, weil da keine personal benennbare Macht ist – ein Tyrann etwa –, die einen, durch den Einsatz von Gewalt, sozusagen fesselte. Und schließlich kann man ja, und man muss auch, weiterhin politisch handeln. Nur ist vorgegeben, was das »richtige« Handeln ist, nämlich dasjenige, das das »Vertrauen der Märkte« nicht enttäuscht, sondern die »Erwartungen« (des Kapitals) möglichst erfüllt.
Die Kräfte, die hier die politische Souveränität untergraben, sind auch nichts, wogegen sich beim Bundesverfassungsgericht klagen ließe. Denn solange das Parlament noch entscheidet und sich nicht selbst an eine personell oder auch institutionell benennbare Instanz entmachtet hat, geht »alle Staatsgewalt vom Volke aus«. Wenn auch nur mehr formal. Denn auch, wenn »die Märkte« dem Souverän »die rote Karte« zeigen, sollte er einmal »falsch« entscheiden oder nur schon »falsch« reden, so schränkten ja die Exit- und Entry-Bewegungen des Kapitals, wie Gerhard Schwarz von der NZZ (heute Avenir Suisse) einmal triumphierend festhielt, »die Handlungsmöglichkeiten« der Staaten »nicht generell ein«. Es werde »lediglich eine schlechte Wirtschaftspolitik erschwert.« Und was eine solche ist, das ist durch »die Märkte« bereits vorentschieden, wenn sich dies im Einzelnen auch stets erneut im Wettbewerb als einem »Entdeckungsverfahren« (Friedrich August von Hayek) erweisen muss, wofür es der »Wirtschaftskompetenz« bedarf.
Und sollte man beim Verfassungsgericht gegen den Souveränitätsverlust klagen, so herrscht »große Angst« davor, dass ein nach juristisch autonomen Maßstäben gefasstes Urteil zu »dramatischen Verwerfungen an den Kapitalmärkten« führen könnte, was »Gott sei Dank« nicht der Fall war, wie Anton F. Börner, Präsident des Bundesverbands Groß- und Außenhandel bekannte, als ihn Maybrit Illner um eine Einschätzung des ihr »interessant« erscheinenden »Phänomens« bat, dass sich, jedenfalls ihrem »Gefühl« nach, nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes »prompt die Aktienmärkte beruhigen« und also »ein Gerichtsentscheid dafür sorgt, dass eine vermeintlich positive Wirtschaftsreaktion die Märkte bestrahlt.«
Das schlimmste an dieser Entwicklung ist, dass der Verlust an politischer und staatlicher Souveränität weitgehend unbemerkt bleibt, jedenfalls auf Seiten derjenigen, die im Lande das Sagen haben (und wohl ihre »Wirtschaftskompetenz« zu beweisen meinen müssen, was in der allgemein gebräuchlichen Bedeutung heißt, dass sie sich zu »Agenten« des Kapitals als dem de facto »Prinzipal« dieser Welt degradieren). In Reaktion auf die Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts, dem Parlament nicht die Haushaltshoheit zu beschneiden, scheint Bundeskanzlerin Angela Merkel mit einigem Bedauern festzuhalten, dass »wir ja in einer Demokratie leben«, und zwar in einer »parlamentarischen Demokratie«, womit »das Budgetrecht« als einem »Kernrecht des Parlaments« nun einmal verbunden sei. Aus dieser Konstellation folgt für sie das Versprechen – wohl: an »die Märkte« – dass »wir insofern Wege finden werden, wie die parlamentarische Mitbestimmung so gestaltet wird, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.«
Eine »marktkonforme« oder durch welche außervernünftigen Vorgaben auch immer eingeschränkte Demokratie ist keine Demokratie. Wie immer man zu den Fragen im Zusammenhang von »Griechenland-Hilfe« und »Euro-Rettung« stehen mag – darüber muss eben offen diskutiert werden können. Und darum muss dieses unwürdige Spiel ein Ende haben. Unwürdig ist dieses Spiel, weil moralische ebenso wie politische Autonomie bedeutet (frei nach Kant), »keinem Gesetz«, keinen Vorschriften, Normen usw. »zu gehorchen« als denjenigen, die wir uns »als vernünftige Wesen« aus freier Einsicht »selbst geben«. Genau darin erblickt Kant die »Idee der Würde eines vernünftigen Wesens«. Politisch bedeutet dies, dass nur Gültigkeit beanspruchen kann, was wir über uns bzw. «was das gesamt Volk über sich selbst beschließen kann«. John Rawls hat diesen urdemokratischen Gedanken der Selbstgesetzgebung bzw. der Volkssouveränität im Begriff einer »wohlgeordnet Gesellschaft« gefasst. Von einer solchen lässt sich erst sprechen, wenn sie »von einer gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellung wirksam gesteuert wird.«
»Wirksam« werden wir offenbar von etwas anderem gesteuert, als von »Gesetzen«, die wir uns selbst gegeben haben, weil für sie für richtig befinden, nämlich von »Marktgesetzen«, denen gegenüber wir »Marktgehorsam« (Karl-Heinz Brodbeck) zu üben haben sollen. Daher leben wir im Zeitalter einer spezifisch »marktkonformen« Heteronomie, was von den höchsten Repräsentanten des Staates, eher unfreiwillig, bestätigt wird. Dass damit das Ende eigentlicher Politik eingeleitet ist, was unserer Tage erneut schlagend deutlich wird, darauf weist etwa Erhard Eppler unermüdlich hin: »Regierungen tun nicht mehr, was sie im Interesse ihrer Bürger für richtig und nötig halten, sondern was Finanzmärkte und Ratingagenturen ihnen diktieren. Politik hat nicht mehr mit der Frage zu tun, wie wir leben wollen, sondern mit der Frage, wie wir zu leben haben. Ist das dann noch Politik? … Alle Gewalt soll von den Regierten ausgehen. Sie sollen ihre Macht delegieren in freien Wahlen. Wo die entscheidende Gewalt von den Finanzmärkten ausgeht, kann es zwar freie Wahlen geben, aber sie werden zur Farce. Und Demokratie wird zum Formelkram.«
Hier soll nicht bezweifelt werden, dass »falschen« Beschlüsse oder sogar schon »falsche« politische Diskussionsbeiträge – ohne solche Beiträge kann eine »deliberative Demokratie« (Jürgen Habermas) nicht leben – unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht für das Wohlergehen vieler dramatische Folgen haben könnten. Mit dem Horrorszenario einer Weltwirtschaftskrise, in deren »Abgrund« Peer Steinbrück als damaliger Finanzminister geblickt zu haben meinte, macht das Kapital, insbesondere die »Hochfinanz«, nach wie vor wunderbare Geschäfte und die »Prinzipale« reich. Doch damit dieser vollständig unhaltbare Zustand des Unterlaufens politischer Freiheit ein Ende hat, muss doch wenigstens eine Perspektive politisch erkennbar werden, der die Geiselhaft des Kapitals beendet, wozu es der Entwicklung von »Pfaden der Entwertung« (des »aufgeblasenen« Finanzkapitals) bedarf, »die einigermaßen sozial verträglich sind« und »die ›NormalbürgerInnen‹ so wenig wie möglich ins Unglück bringen« (Stephan Schulmeister). Die Stimmen der derzeit politisch dominanten Kräfte lassen diese Perspektive noch nicht einmal im Ansatz erkennen. Das muss sich ändern.
P.S. Nun doch auch zu Rösler: Abgesehen von der möglichen Verantwortungslosigkeit seiner Äußerungen – dass dies so sein könnte, darin besteht die demokratische Unwürdigkeit und Unhaltbarkeit der Situation –, so entbehrt es nicht einem gehörigen Maß an Ironie, dass er die »Pleite« Griechenlands nicht etwa darum als möglicherweise wünschbar in den Raum stellt, um uns, Griechenland eingeschlossen, von der Macht des Kapitals ein Stück weiter zu befreien und (durch die »Rettungsschirme« nämlich) keine Präzendenz zu schaffen, die diese Macht weiter zementiert. Im genauen Gegenteil geht es ihm vielmehr darum, dem »Druck der Märkte« auf die Politik (Griechenlands) endlich wieder Nachachtung zu verschaffen, also ein Regime der »Marktdisziplin« zu etablieren bzw. zu vertiefen. Insofern handelt es sich um einen Streit zwischen Huldigern der Marktmächte. Pikant ist überdies, dass Rösler sich selbst bei dem, was er tut und sagt, nicht »von Märkten treiben lassen« möchte, also für sich das Primat der Politik gegenüber dem »Druck der Märkte« reklamiert. Innere Konsistenz sieht anders aus.