07. Mai 2020
Corona-Krise: Keine Zeit für Investitionen

Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus, Steuergerechtigkeit

Diesmal muss der Bail-Out den Normalverdienern gelten, nicht schon wieder dem Kapital

 

Der beinahe global angeordnete Shutdown, der die Triage innerhalb die neoliberal heruntegesparten Gesundheitssysteme vermeiden soll, dürfte den größten ökonomischen Einbruch seit der Weltwirtschaftskrise 1929 zur Folge haben und damit zu sozialen Verwerfungen führen, die unsere Vorstellungskraft übersteigen. Sie trifft etwa in den USA vor allem das Dienstleistungsproletariat, also diejenigen, die sich nach der Deindustrialisierung noch irgendeine, notorisch schlecht bezahlte und dauerhaft prekäre Beschäftigung ergattern konnten. (Die Prekarität echter Dienstleistungen hat systematische Ursachen, die nur durch eine entsprechende Einkommenspolitik umgangen werden könnten.) Dieser Personenkreis ist nicht nur der ökonomisch verwundbarste (man lebt weitgehend von der Hand in den Mund), sondern ist auch, gerade wegen der für ihn wesentlichen räumlichen Nähe zu seiner Kundschaft, am stärksten den restriktiven Kriterien der «sozialen Distanzierung» unterworfen. Die inoffizielle, aber offenbar effektive US-Arbeitslosenrate liegt derzeit bei über 20 Prozent, und sie liegt möglicherweise noch höher, «weil die Internetseiten und Hotlines vieler Ämter zusammenbrachen». Der Höchststand der Arbeitslosenrate in der Weltwirtschaftskrise lag in den USA bei 24,9 Prozent. Mit ihren SUVs stehen die Leute nun Schlange an den Essensausgabestellen.

In Deutschland und anderen europäischen Ländern wird Kurzarbeitergeld bezahlt – 60 bzw. 67 Prozent des Nettolohns in Deutschland, in anderen Ländern mehr, in Österreich vorbildlicher Weise nach Einkommen gestaffelt: Wer weniger verdient bekommt relativ mehr. Allerdings geht auch in Deutschland der selbstständig arbeitende Teil des Dienstleistungsproletariats, überhaupt alle Solo-Selbstständigen, leer aus: Es werden nur Betriebsausgaben, keine Lebenshaltungskosten erstattet. Hinzu kommen die Beschäftigten etwa von kleineren Einzelhandelsunternehmen, die dem Zuwachs des (bis auf die Zustellung) kontaktlosen Onlinegeschäfts möglicherweise endgültig erliegen werden. Amazon hat in den USA 175.000 neue Stellen geschaffen. Das Nominalvermögen der vier führenden «Tech»-Oligarchen ist seit Anfang des Jahres um 47 Mrd. US-Dollar gestiegen.

Schauen wir in die in die Welt der Entwicklungs- und Schwellenländer. In China dürften 205 Millionen Wanderarbeiter in Zwangsurlaub geschickt worden sein, ein Viertel der chinesischen Erwerbsbevölkerung (vgl. Tooze). Ähnlich ist die Lage in Indien. Diese Leute haben überhaupt keine soziale Absicherung. Die Textilkonzerne, die die Näherinnen etwa in Bangladesch bekanntlich zu Hungerlöhnen arbeiten lassen bzw. ließen, haben ihre Zahlungen einfach eingestellt, auch für bereits produzierte Waren (Paasch/Saage-Maaß). Die Gewinnmargen, die den Textilproduzenten gewährt wird, sind derart gering, dass sie den rund einer Million Entlassenen keinerlei Lohnfortzahlungen oder Abfindungen zahlen können. Die ILO schätzt, dass die Hälfte der 3,3 Milliarden Arbeitskräfte weltweit in ihrer Existenz bedroht ist. Besonders gravierend ist die Situation für rund 80 Prozent der zwei Milliarden Menschen, die irregulärer Arbeit nachgehen, sich also ohne Arbeitsverträge über Wasser halten. Deren Einkommen seien im weltweiten Durchschnitt um 60 Prozent eingebrochen. Kein Wunder, dass das Welternährungsprogramm von einer drohenden Hungersnot «biblischen Ausmaßes» warnt.

In den USA nehmen die Proteste gegen die Ausgangsbeschränkungen zu. Meist sind es Trump-Anhänger, die dabei gerne das Sternenbanger schwingen und damit das «wahre» Interesse der gesamten Nation für ihre Anliegen reklamieren – ebenso wie sie die Solidarität der Nation mit ihrem Los beschwören. Treffend hält Jürgen Schmieder von der Süddeutschen fest: «Diejenigen, die sich moralisch überlegen fühlen und all jene beschimpfen, die sich vor die Haustür wagen, haben eben nicht ihren Jobs verloren. Sie können es sich leisten, ein paar Monate daheim zu bleiben und Geduld und Gemeinschaftssinn zu fordern.»

Statt die Leute entweder in die Armut bzw. in die «finanzielle Triage» zu treiben oder in die für sie virologisch riskante und vor allem für vulnerable Personenkreise epidemiologisch gefährliche Ausübung ihres Jobs zu drängen, ginge es naheliegender Weise darum, diejenigen heranzuziehen, die es sich leisten können, da sie über hohe Finanzpolster verfügen. Diese leihen (bzw. schenken) jenen ihre ökonomische «Resilienz», die sie auf in welchem Maße auch immer leistungsgerechten Wegen erworben haben. Dann wäre der Lockdown für alle tragbar, wobei natürlich vorauszusetzen ist, dass die lebenswichtige, «systemrelevante» Produktion nach wie vor weiterläuft, was sie ja auch tut. (Schließlich reden wir hier von einem Wirtschaftseinbruch von etwa 20 Prozent, aber natürlich nicht von 100 Prozent.)

Genau das passiert ja auch, allerdings erstens in teilweise deutlich ungenügendem Maße (vor allem mit Blick auf und in den Entwicklungs- und Schwellenländern) und zweitens geschieht es (wenn nicht mit dem Anwerfen der Notenpresse) auf Pump, was ja auch ganz unvermeidlich ist, da sich in einigen wenigen Wochen keine Steuerreform auf die Beine stellen lässt.

Dies führt dazu, dass die Staatsverschuldung massiv steigen wird. (Möglicherweise wäre die Staatsverschuldung besser als die «vermiedene Steuerschuld» der Rentiers zu bezeichnen, denen damit sogar ein sicherer Hafen für ihre Nettovermögenspositionen in Zeiten des Anlagenotstandes geboten wird.) Die Frage ist, wie diese zurückzuzahlen sein wird – oder ob der Staat dauerhaft als Hort der überschüssigen und dysfunktionalen Vermögen der Inhaber von Nettovermögenspositionen herhalten soll, bei freilich (etwa in Deutschland) tragbaren oder (vielleicht für Italien, die Schwellen- und Entwicklungsländer) untragbaren Zinslasten.

Was die erste Option anbelangt, so warten die «führenden» neoliberalen (euphemistisch als «angebotsorientiert» bezeichneten) Ökonomen mit den üblichen, reflexhaft vorgetragenen Vorschlägen auf. Gabriel Felbermayr, der ja schon für die Rechtfertigung der marktextremistischen Freihandelsabkommen (TTIP usw.) «Herausragendes» geleistet hat, damals fürs Ifo, nun als Präsident des IfW unterwegs, meint, der Einbruch der Wirtschaftsleistung erfordere über kurz oder lang Steuererhöhungen. Doch dürften davon auf gar keinen Fall die «Gutverdienenden» betroffen sein, die dann ja «noch stärker» belastet würden als jetzt schon. (Felbermayr hat offenbar die diversen Steuersenkungsrunden zugunsten höherer und vor allem zugunsten von Kapitaleinkommen nicht mitbekommen.) Denn wenn man «diese Personengruppen oder Unternehmen» besteuern würde – sprich: die «Sparer», diejenigen, die ihre Einkommen nicht ausgeben, gerade weil sie überproportional hohe Einkommen (oder Abschöpfungserfolge?) erzielen und diese konsumtiv nicht benötigen –, dann würde ja «die Anreize, zu produzieren, Arbeit [gemeint sind offenbar Arbeitsplätze] anzubieten, kleiner». Da haben wir sie also wieder: die (spätestens jetzt: schamlose) Forderung nach der «Hofierung des Kapitals» (Hans-Werner Sinn), pardon: des «Unternehmerkapitals».

Ins gleiche Horn bläst die Leopoldina bzw. die dort fürs Wirtschaftliche zuständigen Ökonomen, Lars Feld und Clemens Fuest, die bekanntlich für die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags plädieren. Darin erblicken sie einen «expansiven fiskalpolitische Impuls» und einen «Stabilisator» des bestehenden Wirtschaftskreislaufs. Offenbar gehen die neoliberalen Ökonomen davon aus, dass der Staat seine Steuereinnahmen verbrennt, jedenfalls dem Wirtschaftskreislauf entzieht.

Diese Argumentation ist aus mehreren Gründen abenteuerlich. Erstens werden derzeit nicht etwa Industrien durch den ewigen Kreislauf der «schöpferischen Zerstörung» zerstört («Strukturwandel»). Klar, deren Beschäftigte brauchen danach eine neue Anstellung, sind also auf Investitionen in entsprechende produktive Infrastrukturen angewiesen. Womit die Zerstörung übrigens erneut beginnt, die dann zur erneuten Schöpfung bzw. zum Wachstum zwingt. Dies ist aber derzeit nicht das Problem. Alle Produktionsanlagen sind nach wie vor intakt. Da wurde nichts zerstört. Zerstört durch den Lockdown wurden vielmehr vielfach schlicht die Möglichkeiten, diese Infrastrukturen zu nutzen und daraus ein Einkommen zu beziehen. Es geht nun nicht etwa ums Investieren, sondern schlicht darum, denjenigen, deren Einkommen durch den Lockdown unter ein auskömmliches Maß gesunken ist, die konsumtive Teilhabe am – insgesamt leicht gesunkenen –  Produktionsausstoß weiterhin zu ermöglichen. Damit wird übrigens der bestehende Kreislauf geschützt und nicht etwa erweitert («Wachstum»), was sich ohnehin nie schmerzlos vollzieht.

Abenteuerlich ist die Argumentation überdies, da die Großverdiener und Überschussbezieher, die «Sparer», ihre überschüssigen Einkommen vielfach nicht etwa produktiv einsetzen, sondern damit lediglich bestehende Vermögensbestände aufkaufen (vgl. zur Finanzialisierungskritik aus keynesianscher Sicht Schulmeister, S. 124 ff.), was ihre Zugriffschancen auf die bestehende Wertschöpfung bzw. ihre Chancen zur «Rentenextraktion» (Michael Hudson) erhöht. Ablesbar etwa an gestiegenen Immobilienpreisen und Mieten.

Aber vielleicht ist die neoliberale Hofierung des Kapitals ja auf die Phase 2 gemünzt, d.h. auf die Phase nach dem Lockdown (der uns allerdings vermutlich noch in mehr oder minder abgeschwächter Form Jahre begleiten wird), in der die massiv angewachsenen Staatsschulden zu bedienen sein werden.

Die Leopoldina-Ökonomen, von der Finanzialisierungskritik gänzlich ungetrübt (von der Zerstörungs- und Ökonomisierungskritik ohnehin), erblicken darin, dass gerade diejenigen (noch) weniger Steuern zahlen sollen (Abschaffung des Solidaritätsbeitrags auch für die obersten 10 Prozent), die ihre hohen Einkommen weitgehend sparen, einen «wesentlichen Impuls für Innovation und Wachstum». Und Wachstum, das muss ja wohl sein, um die staatliche Verschuldungsquote möglichst wieder unter das Maastricht-Kriterium von 60 Prozent zu drücken.

Und die Ökonomen des von NRW-Ministerpräsident Armin Laschet eingesetzten «Expertenrats Corona», Michael Hüther vom arbeitgeber- bzw. kapitalfinanzierten IW und Christoph M. Schmidt, ex-Chef des Sachverständigenrates, erblicken «in der Sicherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen» (sprich: in der etwa fiskalpolitischen oder regulatorischen Hofierung des Unternehmerkapitals) den «Schlüssel für eine langfristige wirtschaftliche Erholung nach der Krise». Als Drohung an den demokratischen Souverän darf da wohl die Forderung verstanden werden, «Strukturreformen mit Blick auf die Regulierung, aber auch die im internationalen Vergleich höhere Unternehmensbesteuerung» dürften «kein Tabu sein». Also noch mehr Wohltaten für die deutsche Exportwirtschafts-Oligarchie, Schwächung der Arbeitnehmervertretungen und Festhalten an oder gar Ausbau der Niedriglohnstrategie (vor allem durch Senkung des sozialpolitisch definierten Reservationslohns), womöglich Zurücknahme bzw. Verwässerung der ohnehin viel zu schwachen Maßnahmen zur Abwendung der globalen Klimakatastrophe, wie dies bereits viele Industrielobbyisten fordern, noch mehr Leistungsbilanzüberschüsse zu Lasten des Auslandes («Export von Arbeitslosigkeit»)?

Die absehbar massiv steigende Staatsverschuldung lässt sich auf mehreren Wegen zurückführen (wenn sie nicht zur Dauereinrichtung werden soll). Erstens durch Wachstumspflichten und damit durch weitere Zwänge zur Ökonomisierung unsere Lebensführung (s.o.). Zweitens durch Austerität (siehe ebenfalls oben). Für die geplante «Grundrente» erhalten wir von dieser Argumentationslinie einen Vorgeschmack. Oder drittens durch Rückführung des Verschuldungsgrades durch die Besteuerung hoher Einkommen und großer Vermögen, so dass wir davon abkommen, dass «die sehr Reichen ihre Steuern» bloß «teilweise zahlen», um den gesparten Teil stattdessen «zu verleihen» (José Gabriel Palma, S. 1164), was einer doppelten Dividende entspricht: erst Steuern sparen, dann die gesparten Steuern lukrativ anlegen oder wenigstens für den Erhalt der eigenen Nettovermögensposition sichern.

Das steuerpolitische Leistungsfähigkeitsprinzip besagt, dass für die finanzielle Erfüllung gemeinsamer Aufgaben (wozu die Bewältigung der Corona-Krise zweifelsfrei zählt) diejenigen, die ökonomisch erfolgreicher sind, also hohe Einkommen erzielen (oder über große Vermögen verfügen), stärker, durchaus deutlich stärker (Steuerprogression) herangezogen werden sollen als die Bezieher tieferer Einkommen. (Dabei wird, teilweise womöglich faktenwidrig, angenommen, dass die faktisch in Sachen Einkommen Erfolgreicheren auch mehr «geleistet» haben.) Dieses Prinzip ist Ausdruck der grundlegenden Gleichheit aller Bürger, denn dadurch werden, so die Idee, alle gleich stark belastet. 

Dieses Prinzip sollte den Leitstern bilden für den Umgang mit den ökonomischen, verteilungspolitisch relevanten Folgen des Corona-bedingten Lockdowns. Erste Überlegungen für einen entsprechenden «Lastenausgleich» in Form eines Corona-Solis und einer Vermögensabgabe hat Stefan Bach vom DIW vorgelegt. Dies ist die einzige nicht-neoliberale Alternative – wenn wir vom Versprechen eines free-lunch durch die Vertreter der «Modern Monetary Theory» absehen. Diesmal muss es einen Bail-Out für die Normalverdiener geben, nicht schon wieder einen Bail-Out fürs die Inhaber von Nettovermögenspositionen. Ob dies mit dem gleichen gesamthaften Wohlstandsniveau (in BIP-Werten bemessen) vereinbar sein wird wie dem vor der Coronakrise, steht freilich auf einem anderen Blatt.